Das moralische Gesetz in mir
In der Bundeskunsthalle Bonn wagt man eine Ausstellung mit neuem Konzept und dies ausgerechnet über Immanuel Kant, den Giganten jeden philosophischen Denkens über die Vernunft. zeitzeichen-Chefredakteur i. R. Helmut Kremers hat sie gesehen.
Eine Ausstellung über einen Philosophen? Gar den Philosophen? Den Mann, der dicke, wirklich alles andere als leicht verständliche Bücher über das Wesen und den Gebrauch der Vernunft geschrieben hat? Dessen Aufforderung „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ – für die Nachwelt zum Erkennensmotto für die Aufklärung wurde? Eine Ausstellung, die sich doch an das Sehen richtet? Und die darüber hinaus auch noch einen neuen Weg gehen will, auf den sich sogar die Jugend locken lassen soll?
Man hat sich also viel vorgenommen für die Ausstellung in der Bonner Bundeskunsthalle. Es geht um keinen Geringeren als Immanuel Kant, geboren am 22. April 1724, den absoluten Großmeister aller Vernunftphilosophie. Bevor er dies aber wurde, dauerte es ein wenig, denn er zählte keineswegs zu den „Frühvollendeten“, denen die Nachwelt schon deswegen Kränze flicht. Als junger Mann war er ein eleganter Magister, was schon seinem Äußeren abzulesen war: Er trug für gewöhnlich nicht das Schwarz des Gelehrten, sondern schritt farbenfroh wie die Weltleute daher. Im Übrigen war er auch bei seinen Einladungen ein charmanter Plauderer, der auch die Damen zu amüsieren wusste.
Allerdings: die Damen. Das weibliche Geschlecht. Welchem Mann, und sei er noch so sehr Geistesmensch, könnte man in dieser Hinsicht nicht die eine oder andere Anekdote nachsagen? Nicht so Kant. Er blieb sein Lebtag Hagestolz, wie man damals einen Junggesellen nannte, und dies wohl aus Überzeugung, auch wenn detektivische Geisteswissenschaftler herausgefunden haben wollen, dass er dann und wann mit der Aufgabe dieses Status gespielt habe.
Welch ein Unterschied aber zu dem alten Kant! Von ihm ist überliefert, dass die Bürger ihre Uhr danach stellen konnten, wann er sein Haus verließ, um zu einem Freund zu gehen. Der schlummerte angeblich schon in einem von zwei Lehnsesseln, in dem anderen ließ sich Kant nieder. Erst nach dem Ende des freundschaftlichen Mittagsschlafes diskutierten die beiden über Gott, die Welt, die Vernunft.
Allerdings ist nicht ganz auszuschließen, dass es der Freund war, der auf diese phänomenale Pünktlichkeit pochte, der Engländer Joseph Green, der geradezu fanatisch den eigenen Maximen folgte – überliefert ist die Anekdote, dass Kant sich zu einer Verabredung zu einer Ausfahrt mit ihm um zwei Minuten verspätet habe, worauf Green mit seiner Kutsche an ihm vorbeifuhr, ohne anzuhalten.
Kant hatte mit 56 Jahren seine Kritik der reinen Vernunft vorgelegt, ein Werk von so niederschlagender Kompliziertheit und Geistesschärfe, dass selbst der damals auch sehr berühmte Philosoph Moses Mendelssohn, dem Kant das Werk zugeschickt hatte, bekannte, er käme damit nicht zu Rande.
Wie eine Bombe
Dieses Opus Magnum schlug denn auch verlegerisch keineswegs ein wie die sprichwörtliche Bombe; Kant sah sich genötigt, ihm eine etwas leichter verständliche Schrift hinterher zu schicken, mit dem schönen Titel „Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können“. Plötzlich war dann der Ruhm da – und er dauert an, bis heute setzen sich Philosophen und Philosophinnen mit seinem Werk auseinander.
Aber zurück zur Ausstellung. Wie kann es gelingen, so jemanden dem Publikum, gar der Jugend, näherzubringen? Zunächst einmal dadurch, dass man sich in erster Linie seines Leben, seiner Lebensumstände annimmt. Das tut man in Breite. Natürlich zählt dazu auch die Schilderung seines (annähernd lebenslangen) Wohnortes, Königsberg in Ostpreußen. Von ihm hat er sich kaum einmal entfernt, auch wenn er sich in seiner Jugend gelegentlich an einigen Orten nicht fern der Provinzstadt als Hauslehrer verdingte und später immer mal wieder das gebildete Grafenpaar Keyserlingk auf ihrem Landgut besuchte. Berufungen an andere Universitäten, die vorkamen, lehnte er ab, obwohl er sich dort finanziell besser gestanden hätte.
Im Eingangsbereich der Ausstellung wird auf einem gewaltigen Bildschirm eine Virtual-Reality-Darstellung der Stadt Königsberg im 18. Jahrhundert gezeigt; nostalgische Gefühle sind da wohlfeil. Heute ist Königsberg Hauptstadt einer russischen Exklave und heißt Kaliningrad, benannt nach einem obskuren sowjetischen Politiker.
Was Kants Herkunft angeht, so ist festzuhalten, dass er aus einfachen Kreisen stammte, sein Vater war „Riemer“, also ein Handwerker, der Pferdegeschirre und dergleichen herstellte. Seine Eltern waren Pietisten, und so hat man von jeher darüber spekuliert, ob dies der Grund war, dass Kant den Gottesgedanken nicht aufgeben wollte. Mit vierzehn verlor Kant seine Mutter – auf sie führte er seine schwächliche Konstitution und seinen Verstand zurück. Kant konnte dann das Collegium Fridericianum besuchen, der Pfarrer war auf das Talent des Jungen aufmerksam geworden.
Auffallend ist aber, dass in Ausstellung und Katalog Kants Auffassung, der Gottesglaube sei eine Folge der praktischen Vernunft, mit, gelinde gesagt, großer Zurückhaltung behandelt wird.
Die Metaphysik als Glaube an Gott oder auch nur göttliche Kräfte hatte Kant in der Kritik der reinen Vernunft zerstört. Er war David Hume darin gefolgt, dass die menschliche Vernunft nur das erkennen könne, was die Sinne ihr liefert, aber dann, in der Kritik der praktischen Vernunft, erklärt er es zu einem Gebot der praktischen Vernunft (der im Leben der Menschen der Vorrang gebühre), an Gott und die Unsterblichkeit zu glauben. Für ihn war das „moralische Gesetz in uns“ auch die Grundlage aller Religion, nicht, wie bisher, umgekehrt.
Gott und die Unsterblichkeit
In der Praktischen Vernunft findet sich einer der berühmtesten Aussprüche Kants: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ – Mit diesem moralischen Gesetz hat es aber so seine Schwierigkeiten, nicht nur, weil es so vielen Menschen zu fehlen scheint (es gehöre zur menschlichen Freiheit, befand Kant, dass der Mensch auch radikal böse sein kann), auch, weil es so interpretiert werden kann, als sei nur das Handeln nach diesem Gesetz wirklich „sittliches“ Handeln. Wo sich die Neigung einmische, sei es zumindest mit der Reinheit des Impulses dahin. So verstand es auch Schiller, der sich lange und intensiv mit Kants Philosophie auseinandersetzte und der bemängelte (zitiert im Katalog Seite 146): „Gern dien ich den Freunden, doch thu ich es leider mit Neigung, / Und so wurmt es mir oft, dass ich nicht tugendhaft bin.“
Der Katalog tut diesen Einwand kurz ab: „Kant sah keinen Widerspruch zu Schillers Überlegungen. Wird die Achtung noch durch andere positive Gefühle oder Charakterzüge begleitet, tut dies dem ethischen Antrieb keinen Abbruch“ (ebd.). – Für Kant aber gab es nichts Gutes außer dem „guten Willen“. Ob sich mit dem Spruch „Gut gemeint ist noch lange nicht gut“ eine volkstümliche Kritik an Kant artikuliert hat, ist nicht überliefert. Aber wo er Recht hat, hat er Recht: ohne praktische Vernunft keine Ethik, ohne Ethik kein gesellschaftliches Zusammenleben. Nebenbei sei bemerkt, dass es sowohl in der Philosophie als auch in der evangelischen Theologie Theoretiker gab, die gerade aus dem kantischen Rationalismus das Recht und die Pflicht ableiteten, auf der irrationalen Vernunftferne des Glaubens zu bestehen. Noch heute wird gern in Theologie und Kirche die unbedingte Geschiedenheit von Vernunft und Glauben betont – hinsichtlich der drei berühmten Fragen Kants am Ende der „Kritik der reinen Vernunft“ nichts anderes als eine Immunisierungsstrategie: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?“
Was die Ausstellung angeht: Die Kuratoren der Ausstellung Agnieszka Lulinska und Thomas Ebers haben eine neue und interessante Weise gefunden, die Neugier auf jemanden zu wecken, der zwar seit 220 Jahren (1804) tot ist, dessen Denken aber bis heute zumindest für die westliche Welt Leitcharakter hat, auch wenn nicht zu leugnen ist, dass es nach Kant allerhand große Philosophie gegeben hat, darunter auch manche Revolte gegen sein Vernunftdenken. Zunächst noch die Extremkletterer der Vernunft, Hegel, Fichte, schließlich Marx, der Hegel (und mit ihm auch Kant) nach eigenem Verständnis vom Kopf auf die Füße gestellt hat – „zuerst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“, wie Bertolt Brecht zuspitzte.
Dann die Zweifler, die Romantiker. Die Romantik war ja alles andere als das verzückte Schnuppern an Blümchen, sie bestand vielmehr darauf, dass die menschliche Existenz eine Nachtseite habe, die die Aufklärung (Enlightenment, verlichting) mit ihrem Lichtprogramm nicht völlig auszuleuchten vermag – später, in der zweiten Hälfte des Neunzehnten Jahrhunderts, wollte Friedrich Nietzsche nicht anerkennen, dass die Vernunft einen unübersteigbaren Gipfel der Menschheit darstellt.
Die Kritik der reinen Vernunft, die Kritik der praktischen Vernunft, die Kritik der Urteilskraft: Das Wort „Kritik“ heißt in jedem Falle, Grenzen zu erforschen, nicht etwa, jeweils aufzuzählen, was einem nicht passt (zu welchem Missverständnis der heutige Gebrauch des Wortes Anlass geben könnte). Und wenn es um den Inhalt der kantischen Philosophie geht, kann auch diese Ausstellung nicht anders und sich mit der Präsentation vieler Seiten seiner Philosophie behelfen. Dass diese dort von vielen intensiv gelesen werden, ist nicht anzunehmen – kein Schade, solange der erste Funken der Neugier zündet.
Ist sie also möglich, die Ausstellung über den Philosophen, der die Vernunft erforscht hat wie kein zweiter? Ja, sie ist möglich, und dies gar verbunden mit einer bündigen Einleitung in Kants Denken. In der Bundeskunsthalle Bonn wurde es bewiesen.
Information
Die Ausstellung „Immanuel Kant und die offenen Fragen“. Bundeskunsthalle Bonn, bis 17. März 2024 , www.bundeskunsthalle.de/ausstellungen.
Helmut Kremers
war bis 2014 Chefredakteur der "Zeitzeichen". Er lebt in Düsseldorf. Weitere Informationen unter www.helmut-kremers.de .