Der Klang des Eigenen

Lutz Seilers poetische Annäherungen ans Göttliche
Lutz Seiler
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Lutz Seiler

Er zählt zweifellos zu den bedeutendsten deutschen Gegenwartsschriftstellern: der Dichter und Romancier Lutz Seiler. Ihm wird in diesen Tagen der Georg-Büchner-Preis verliehen, nachdem er kürzlich bereits mit dem Berliner Literaturpreis und dem Bertolt-Brecht-Literaturpreis der Stadt Augsburg ausgezeichnet wurde. Karl Tetzlaff, Theologe und Geschäftsführer der Leucorea-Stiftung der Universität Halle-Wittenberg, findet und deutet religiöse Spuren in Seilers Werk.

Er habe „als Romancier und als Dichter zu seiner eigenen, unverwechselbaren Stimme gefunden“, schreibt die Jury des Georg-Büchner-Preises über den 2023 ausgezeichneten Lutz Seiler. Was zunächst recht allgemein klingt, hat im Falle Seilers eine besondere Bewandtnis. Denn die eigene Stimme zu finden und zu bewahren, stellte für den aus der DDR stammenden Schriftsteller und Dichter eine frühe Herausforderung dar.

In einem 2001 erschienenen autobiografischen Text erinnert sich Seiler an das verpflichtende Singen von Arbeiter- und Kampfliedern im Musikunterricht. Der Zwang zum „kollektiven Gesang“ versinnbildlicht für ihn rückblickend „die Dynamik unserer Grundsituation“ im Sozialismus: „das Eingeschlossensein des Einzelnen, seiner einzelnen Stimme und ihre Aufhebung in einem erzwungenen kollektiven Zusammenhang, Gleichschaltung und Isolationsgefühl“. Angesichts der staatlich betriebenen „Abwertung des einzelnen, seiner Individualität als das Mindere, nötigenfalls Verzichtbare“, sei man genötigt gewesen, „eine grundsätzlich anders geartete Welt des Ichs“ zu kultivieren „als unter den Bedingungen einer pluralistischen Gesellschaft“.

Seiler fand in der Poesie einen Ort, wo er an dieser Ich-Welt trotz widriger sozialer Umstände festhalten konnte. Es sind aus seiner Sicht aber nicht die gesellschaftlichen Bedingungen allein, die den Antrieb zum Dichten freisetzen. Dem Gedicht liege vielmehr der „Glaube an einen absoluten Klang, der der Klang des Eigenen ist“, zugrunde. „Jahrelang abgelauschte Melodien“ gingen in ihn ein und doch müsse er sich schließlich zum individuellen Eigenklang bilden, um Poesie zu werden. Dass dieser absolute Klang des Eigenen von Seiler zum Gegenstand eines Glaubens erklärt wird, enthebt ihn zugleich dem Bereich des Verfügens. „Gedichte“, so schreibt er deshalb, „arbeiten präzise am Nichtverbalisieren“, sie machen „eine Bewegung auf das Unsagbare hin, eine Bewegung ohne Endpunkt“. So sehr das poetische Schreiben gerade nach Seilers Auffassung auch ein Handwerk ist, so wenig bekommt es je zu fassen, was ihm zugrunde liegt.

Unfasslicher Charakter

Dass Seiler hier die um 1800 prominent gewordene Rede vom Unsagbaren oder Unaussprechlichen bemüht, führt den religiösen Glutkern seiner Dichtkunst vor Augen. Denn diese erstmals in der Goethezeit für den unfasslichen Charakter menschlicher Individualität gebrauchte Formel geht auf ein klassisches Gottesprädikat zurück. Ebenso wenig sagbar ist es demnach, was einen Menschen einzigartig und unverwechselbar macht, wie Gott in seinen Benennungen aufgeht. In der immer nur annäherungsweise zu fassenden Individualität des Menschen schlägt sich demnach die ihm selbst eignende und zugleich über sich hinausweisende Göttlichkeit nieder. Ihr gilt Seilers poetische „Bewegung ohne Endpunkt“, die durch den „Glauben an den Klang des Eigenen“ in Gang gesetzt wird.

Seine autobiografisch gefärbte Erzählung Die Anrufung (2005) kann als ein Versuch gelesen werden, das Aufkommen eines solchen Glaubens zu schildern. Deren Ich-Erzähler, ein Student der Literaturwissenschaften, erinnert sich während einer mündlichen Prüfung über den Begriff des Schönen an einen in der Kindheit erlebten „Moment von Schönheit“. Damals hatte er die Angewohnheit, am Eingangstor des elterlichen Bauernhofs zu verweilen und die Namen seiner Spielgefährtinnen lauthals auszurufen. Dass sie ihn hörten und zum gemeinsamen Spiel herüberkämen, war sein illusorischer Wunsch, der aber ob der Entfernung ihres Wohnhauses niemals in Erfüllung gehen konnte. So wurde sein Rufen mehr und mehr zu einem bloßen Selbstzweck.

Dabei überkam ihn einmal „die erstaunliche Empfindung, mir selbst plötzlich nah zu sein und mich dabei klar umrissen zu fühlen. Ich hatte ein erstes Selbst-Gefühl, und die Sensation war, mit einem eigenen Körper in der Welt zu sein“. Mithin schien sein resonanzloses Rufen, das die „beiden konkreten Adressatinnen […] überstieg“, auch die Welt um ihn herum zu verändern: „Die Anrufung errichtete ihren eigenen Echoraum, sie bewässerte die Wüste, sie baute Fachwerkhäuser mit Leuten darin, die an ihrem Tisch saßen und im Rhythmus der Anrufung wippten und lebten“. So wurde die „ganze schöne Dorfwelt“ zu einem „Selbstbildnis – nicht meiner Person, aber meines Sprechens, ein Spiegelbild meines Rufens, eine Antwort ohne Antwort“.

Das „Erlebnis der eigenen Stimme“, dem Seilers Ich-Erzähler hier nachgeht, ist die gelungene Umschreibung einer poetischen Annäherung ans Unaussprechliche. Für einen Augenblick stimmen Ich und Welt, wie es ausdrücklich heißt, „vollkommen überein“, gibt es keinen Unterschied mehr zwischen innerem „Selbst-Gefühl“ und äußerer Realität. Beides kommt vielmehr im schöpferischen Rufen des Ich-Erzählers zusammen und verbindet sich zu jenem „außerordentlichen Moment von Schönheit“, den das Gedicht festzuhalten versucht.

Unkontrollierbarer Eigensinn

Dass solch ein poetisches Sprechen mit eigener Stimme für Seiler aus einem Glauben entspringt, aus einer Haltung also, die auf etwas aus ist, das man nicht (nur) selbst ins Werk zu setzen vermag, bringt schon der Titel seiner Erzählung zum Ausdruck. Denn eine Anrufung, man kann hier durchaus an die gottesdienstliche Epiklese denken, ist ein Sprechakt, in dem um den unkontrollierbaren Eigensinn des Adressierten gewusst wird. So kommt es für den Ich-Erzähler auch wie von selbst zu jener Erfahrung einer absoluten Stimmigkeit. „Aus meinem Rufen […] war eine Anrufung geworden“, stellt er am Ende der Geschichte verblüfft fest. Ohne es direkt zu intendieren, aber auch ohne sich am vordergründig aussichtslosen Charakter seines Rufens zu stören, hat er sich darin aufs Unsagbare zubewegt, das nach Seiler das ewig unerreichte Ziel jedes Poetisierens darstellt.

Während in Die Anrufung ungenannt bleibt, worauf sich diese bezieht, wird Seilers am Ende der 1990er-Jahre verfasstes Gedicht „sonntags dachte ich an gott“ expliziter. Der Gedanke an Gott überkommt dessen lyrisches Ich angesichts eines Trafohauses, das es allsonntäglich passiert: „dort / im trafo an der strasse wohnte gott. ich sah / wie er in seinem nest aus kabel enden / hockte zwischen seinen ziegelwänden / ohne fenster dort am grund / im dunkel an der strasse hinter / einer tür aus stahl / sass der liebe gott“. In einem Essay, der dieses Gedicht kommentiert, verweist Seiler auf darin eingegangene Kindheitserfahrungen. Von Trafohäusern sei er früh fasziniert gewesen, was vor allem daran lag, dass sie zu betreten als lebensgefährlich und streng verboten galt. Er habe oft wie „gelähmt von der Lust auf Übertretung“ vor ihnen gestanden, „durchströmt von den Aussichten“, die ein Schritt durch die Tür dieses „magischen“ Orts verhieß. Was das Trafohäuschen für Seiler so magisch machte, waren das „Tönen der Elektrizität“ und die vielen von außen „aus der Luft in dieses / haus aus hart gebrannten ziegelsteinen“ hineinführenden Stromkabel. „Durch jedes dieser Kabel“, so erinnert Seiler seine kindlich-fantastische Vorstellung, „konnte eine Geschichte kommen“, die im wundersamen Surrgeräusch hinter der verbotenen Tür ihre Quelle zu haben schien.

Was die Rede von Gott hier für ihn nahelegt, ist somit das Phänomen des verborgen bleibenden Ursprungs allen Dichtens und Erzählens. Das Hervorgehen der Poesie aus dem „Nicht-Verbalisierbaren“ findet im Bild des Trafohäuschens einen passenden Ausdruck. Man kann sich dem, was darinnen ist, annähern, „vielleicht das Ohr an den Stahl der Tür legen“, wie es sich das Kind manchmal angstvoll traute. Weiter vorzudringen aber wäre zerstörerisch, denn es vernichtete den produktiven Zauber, den die Fantasie gerade aus dem bleibend Geheimnisvollen und Unsichtbaren zieht.

Angeregt vom eigenen Gedicht erzählt Seiler noch von einer anderen Sonntagserfahrung. Über mehrere Jahre hinweg sei er mit seinem Vater, begleitet vom Klang der Kirchenglocken, in die Garage gezogen, um an den dort abgestellten Fahrzeugen zu werkeln. Keine nützliche Arbeit hätten sie dabei verrichtet, sondern eher ein festes Ritual gepflegt. Es war die „Zeit“, schreibt er, „in der die Garage eine Art Kirche war“. Nicht selten habe er nämlich dabei ein „Stadium der Andacht“ erreicht: „zwischen Zylinderkopf und Tank“ sei dann „der Blick hinaus ins Leere“ gegangen: „ich spürte in diesem Moment meine Existenz und zugleich die von etwas Anderem, Jenseitigem, das für die Augen unsichtbar bleibt.“

Seilers sonntägliche Transzendenzerfahrung in der Garage, die zugleich das Aufkommen eines klaren Selbstgefühls beinhaltet, vollzieht sich bezeichnenderweise im Rahmen einer als nutzlos geschilderten Tätigkeit. Der ritualisierte Ausbruch aus den Zweckzusammenhängen des Alltags, den Vater und Sohn vollziehen, schafft allererst die Bedingungen für das Nahekommen des ungreifbaren Göttlichen, von dem auch Die Anrufung handelt. Passend dazu ist „gerade die fehlende kommerzielle Verwertbarkeit“ Seiler zufolge „Voraussetzung für die absolute Ausnahmestellung des Gedichts, für die absolute Freiheit dieses Genres, letztlich für sein, wenn man so will, utopisches Potenzial“. Seine Romane Kruso (2014) und Stern 111 (2020) erzählen von nichts anderem als dem Versuch, dieses utopische Potenzial der Poesie in gemeinsame Lebensformen zu überführen.

In Kruso findet sich am Ende der DDR-Zeit eine verschworene Gemeinschaft von Aussteigern auf der vorpommerschen Ostseeinsel Hiddensee im Gasthaus „Klausner“, wo Seiler auch einmal gearbeitet hat, zusammen. Unter geistiger Leitung des messiashaft anmutenden Kruso besorgen sie den Saisonbetrieb, wobei ihre Arbeit in Küche und Restaurant ebenfalls im Modus der Andacht ausgeführt wird. Dort am Rande der DDR, wo die dänische Insel Møn bei gutem Wetter am Horizont aufscheint, also die Verheißungen des Westens greifbar nahe werden, entsteht so eine Art Gegenkultur der Freiheit. Ed, die Hauptfigur des Romans, gerät eher zufällig in diese Gemeinschaft hinein. Kruso, dessen „Stimme […] die Welt in ein anderes Licht“ zu tauchen schien, lehrt ihn, „die eigene Stimme, de[n] eigenen Ton“ zu finden. „Die Insel ist der Ort“, sagt er, wo man „zu sich kommen“ kann, „wo man zurückkehrt in sich selbst, das heißt zur Natur, zur Stimme des Herzens, wie Rousseau es sagt. Niemand muss fliehen, niemand muss ertrinken. Die Insel ist die Erfahrung […], die es ermöglicht, das Leben weiterzuleben, bis zu dem Tag, […] an dem das Maß der Freiheit in den Herzen die Unfreiheit der Verhältnisse mit einem Schlag übersteigt“. Die innere Freiheit in unfreier Gesellschaft aufrechterhalten zu können – Krusos Versprechen soll sich über eine poetische Haltung zur Welt erfüllen. „Überall verbarg sich“ aus deren Sicht „die Möglichkeit einer Zeile, eines Worts, das stimmte. Selbst die Arbeit im Abwasch […] konnte teilnehmen am Gedicht. Die eigene Stimme, der eigene Ton – ein Licht war das, ein Leuchtturm, an dem Ed von nun an seine Position bestimmte.“

Nach diesem in der Poesie steckenden Potenzial einer individuellen Selbstpositionierung sucht auch Carl, der Protagonist von Stern 111. Kurz nach dem Mauerfall von den gen Westen aufgebrochenen Eltern im thüringischen Elternhaus zurückgelassen, bricht er nach Berlin auf. Dort schließt er sich einer anarchischen Gemeinschaft von Hausbesetzern an, die in den verwaisten Wohnungen der Entflohenen hausen und eine Kneipe namens „Assel“ betreiben. Dort beginnt Carl, auch hier gibt es Parallelen zu Seilers Lebensgeschichte, zu arbeiten. „Ich gehörte dazu und konnte trotzdem allein sein“, beschreibt er den „idealen Zustand“ in dieser Gemeinschaft. Sie lässt für ihn wirklich werden, was er seit seiner „Kindheit immer wieder herzustellen versucht“ hat. In der ihm zugeteilten verlassenen Wohnung findet Carl eine Werkbank vor, an der er nach früheren poetischen Gehversuchen nun dem „absoluten Gedicht“ nahezukommen strebt. Es war, heißt es, „wie etwas, das er unbedingt machen musste. […] Eine nicht näher definierbare Macht hatte ein Kind in die Tiefe des Brunnens gestürzt, aber nun stieg es langsam wieder empor, kam näher, wurde größer, übermächtig. […] Er musste in den Brunnen sprechen, als wären die Worte und ihr Klang für immer verloren, wenn er nicht an ihnen festhielt, so lange bis er es geschafft haben würde: das absolute Gedicht.“

Öffnende Vielfalt

Unverkennbar ist dieses Carl ergreifende Streben zugleich eine Suche nach dem eigenen Ort in der Welt – in einer nach dem Fall der Mauer deutlich komplexer gewordenen Welt. „‚Was willst du werden?‘, die alte Lehrerfrage wurde plötzlich neu gestellt“, sagt er am Ende des Romans im Rückblick auf die Zeit um 1989. Mit der sich damals öffnenden Vielfalt an Antwortmöglichkeiten wuchs ebenso der Raum individueller Freiheit, wie die Unsicherheit anstieg. Auch in einer offenen Gesellschaft ist es herausfordernd, das je eigene individuelle Anderssein, den „Klang des Eigenen“, zu wahren. Dass Poesie und Literatur in ihrem unbedingten Bestreben, sich auf jenes Unsagbare, Göttliche in uns zubewegen, dabei immer noch und immer wieder hilfreich sein können, lässt sich von Lutz Seiler lernen. Darin liegt nicht zuletzt die bleibende Aktualität einer für sein Werk prägenden Lebenserfahrung: inmitten widrigster Gesellschaftsverhältnisse, die zum Glück nicht mehr die unseren sind, „in sich“ eine „anders geartete Welt des Ichs“ aufrechterhalten zu haben. 

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Karl Tetzlaff

Karl Tetzlaff ist promovierter Systematischer Theologe und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie/Ethik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.


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