„Koloniale Strukturen nie aufgebrochen“

Gespräch mit dem Agrarökonom Stig Tanzmann über die Landwirtschaft im globalen Süden, die gemeinsame Last der Bauern weltweit und die Rolle des Verbrauchers
Maisernte im kenianischen Chepsangor: Hier unterstützt „Brot für die Welt“ ein agrarökologisches Projekt des Anglican Development Service.
Foto: Jörg Böthling/Brot für die Welt
Maisernte im kenianischen Chepsangor: Hier unterstützt „Brot für die Welt“ ein agrarökologisches Projekt des Anglican Development Service.

zeitzeichen: Herr Tanzmann, Sie sind gelernter Landwirt und Agrarökonom. Warum treffen wir uns nicht auf Ihrem Bauernhof, sondern in einem Büro in Berlin-Mitte?

STIG TANZMANN: Es gab keinen Hof zu erben, der Hof meiner Großeltern war nicht mehr in Familienbesitz, und damit war es schwierig, in die Landwirtschaft einzusteigen. Die Investitionskosten sind schon sehr hoch. Gleichzeitig war ich immer an Entwicklungspolitik interessiert und an besseren Bedingungen für die Landwirtschaft. Und all diese Interessen konnte ich in meiner Arbeit für „Brot für die Welt“ zusammenführen. Aber wir hätten uns auch in meinem Garten treffen können, mit dem ich versuche, mich so weit wie möglich mit Obst und Gemüse selbst zu versorgen.

Wenn sich ein typischer Landwirt aus Deutschland und einer aus Subsahara-Afrika treffen: Welche gemeinsamen Sorgen hätten sie?

STIG TANZMANN: Bauern und Bäuer­innen weltweit beschäftigen sich mit den gleichen Fragen: Aussaat, Pflege der Kulturen, Lagerung und Verkauf der Produkte, Klima und Wetter – auf der Fachebene kommen die Bäuerinnen und Bauern aus den unterschiedlichsten Ländern schnell in den Austausch. Wenn wir Gäste aus dem globalen Süden hier haben und so ein Gespräch möglich ist, ist das eine sehr positive Erfahrung.

Und was trennt die Landwirte aus den verschiedenen Regionen?

STIG TANZMANN: Weniger die persönlichen oder betrieblichen Fragen, eher die übergeordneten Strukturen. Zum Beispiel: Hier herrscht Frieden, in vielen Ländern Subsahara-Afrikas gibt es latente bis offen ausgetragene Konflikte, worunter natürlich auch die landwirtschaftliche Produktion leidet. In Europa gibt es seit Jahrzehnten eine staatliche Unterstützung der Landwirtschaft, in Afrika gibt es das so nicht. Auch ein staatlich organisiertes Rentensystem finden Sie im globalen Süden in der Regel nicht. Dort müssen sich die Bäuerinnen und Bauern im Alter auf ihre Kinder verlassen.

Inwieweit trägt der Landwirt aus dem Norden Verantwortung für die Probleme des Landwirtes im Süden?

STIG TANZMANN: Es ist falsch, das Thema so zu individualisieren, es ist eine strukturelle Frage. Die Bauern und Bäuerinnen hier versuchen in dem vorhandenen politischen Rahmen so gut wie möglich, ihren Betrieb zu führen. Diese Politik hat natürlich weltweit oft negative Folgen, aber dafür kann man nicht den einzelnen Landwirt verantwortlich machen. Politik ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, der wir uns alle stellen müssen.

Der generelle Vorwurf lautet: Noch immer sind die Strukturen der weltweiten Agrarwirtschaft kolonial geprägt. Woran macht sich das fest?

STIG TANZMANN: Wenn man sich ansieht, welche landwirtschaftlichen Produkte den Welthandel bestimmen, sieht man, wie stark noch immer in kolonialen oder neo-kolonialen Strukturen gearbeitet wird: Rohrzucker, Palmöl, Bananen, Kakao, Kaffee – das sind Produkte, mit denen die Kolonialstaaten und ihre Unternehmen reich geworden sind. Die dominieren noch immer den globalen Handel, wenn im Falle von Zucker und Palmöl mittlerweile auch zunehmend als Treibstoff. Aber die kolonialen Strukturen, auch die der Produktion auf den großen Plantagen, wurden nie wirklich aufgebrochen. Das Land wurde ja nicht den ursprünglichen Besitzern zurückgegeben, sondern gehört nun einheimischen Plantagenbesitzern oder großen Konzernen aus dem Norden, China oder dem arabischen Raum. Diese Akteure haben die Plantagenwirtschaft in den letzten Jahrzehnten immer weiter ausgeweitet. Das erinnert an die englische East-India-Company oder andere Gesellschaften in der früh­kolonialen Phase.

Kann man in etwa beziffern, wie viel Geld die Landwirte in Deutschland im Süden verdienen? Und umgekehrt?

STIG TANZMANN: Das konkret zu beziffern ist schwierig, aber grundsätzlich ist es so, dass die Agrarbranche in Deutschland noch immer mehr Geld mit dem Export verdient, als sie für Importe ausgibt. Aber: Es sind ja nicht die Bäuerinnen und Bauern, die an diesem Agrarhandel verdienen, weder hier noch im Süden. Auch hier verkaufen die Landwirte an einen Handelskonzern, die Margen an diesem vernachlässigten Ende der Wertschöpfungskette sind gering oder sogar negativ. Das führt zu Rationali­sierungsdruck auf die Betriebe, die immer größere Mengen verkaufen müssen, um ein ausreichendes Einkommen zu erzielen. Es sind letztendlich die großen Agrarhändler und die Lebensmittelkonzerne, die im weltweiten Geschäft Gewinne erzielen. Doch dieser Markt ist sehr intransparent – und das ist ein großes Problem.

Eigentlich soll die Welthandels­organi­sation (WTO) doch für Transparenz und faire Handels­bedingungen sorgen. Warum gelingt das nicht?

STIG TANZMANN: Die WTO muss dringend reformiert werden. Die geltenden Handelsstandards benach­teiligen die Produzenten und bevorteilen diejenigen, die mit den Waren handeln. Das betrifft die Bäuerinnen und Bauern im Norden wie im Süden. Eigentlich muss die WTO in eine UN-Institution, die UNCTAD, überführt und am Recht auf Nahrung ausgerichtet werden, das hat auch der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Michael Fakhri, gefordert. Doch die Bereitschaft dafür ist gering, denn die reichen Staaten und die politischen Eliten haben sich gut in diesem System eingerichtet, und die ärmeren Länder, die von den geltenden Regeln benachteiligt werden, haben nicht die notwendige Durch­setzungsfähigkeit für eine Reform.

Das ist seit vielen Jahrzehnten ein Problem. Warum gelingt es den Ländern des Südens nicht, tragfähige Allianzen gegen ihre Benachteiligung zu schmieden? Warum ändert sich das Machtgefüge nicht?

STIG TANZMANN: Es verschiebt sich ja, wir leben in einer zunehmend multipolaren Welt. Der europäische Einfluss schwindet, China ist mächtig geworden, Russland gewinnt an Einfluss in Afrika, sein Krieg gegen die Ukraine sorgt für neue Konstellationen. Die afrikanischen Staaten, die durchaus selbstbewusster auftreten, wägen ab, wie sie sich in der neuen Konstellation verhalten können und in welchen Partnerschaften sie das Beste für sich bekommen können. Das ist ja auch legitim. Aber Landwirtschaft spielt da oft eine untergeordnete Rolle. Es geht den jeweiligen Machthabern immer wieder vor allem darum, ihre eigene Macht zu sichern, statt im Interesse der Gesamtbevölkerung zu agieren.

Der Krieg in der Ukraine hat nochmal die Versorgungslage in vielen afrikanischen Ländern verschärft. Jetzt wurde das Getreideabkommen von Russland gekündigt. Was bedeutet das für die weltweite Versorgung mit Lebensmitteln?

STIG TANZMANN: Eine ohnehin schon angespannte Situation hat sich verschlimmert. Der große Sprung bei der Zahl der Hungernden kam während der Corona-Pandemie. Es sind 120 Millionen Hungernde hinzugekommen, weil Liefer- und Wertschöpfungsketten zusammen­gebrochen sind. Schon hier hätte es eines Umbaus und einer Stärkung der Ernährungs- und Agrarpolitik mit staatlichen Entwicklungsgeldern vor Ort bedurft. Die blieben aber aus. Der Angriff auf die Ukraine hat diese Situation nochmal verschärft. Doch statt nun endlich das Problem grundsätzlicher anzugehen und zu sehen, wie man in den vom ukrainischen Getreide abhängigen Ländern eine eigene, nachhaltige Produktion aufbaut, hat man nur geschaut, wie man das Getreide aus der Ukraine herausbekommt.

„Brot für die Welt“ tritt für das Prinzip der „Agrarökologie“ ein. Was steckt dahinter?

STIG TANZMANN: Wir arbeiten in unseren Projekten mit den Ärmsten der Armen zusammen, die oft wenig Land und Produktionsmittel besitzen. Es geht darum, diesen Menschen zur Unabhängigkeit zu verhelfen. Das bedeutet, sie dazu zu ermächtigen, das, was sie brauchen, in ihrem Betrieb mit ihren Mitteln und ihrem Wissen zu erzeugen. Ziel ist es aber auch, dass am besten noch Überschüsse produziert werden, die dann einen Beitrag zur Ernährungssouveränität der jeweiligen Staaten und Gesellschaften leisten. Unabhängig werden bedeutet, ohne künstlich erzeugten chemischen Dünger oder Pestizide zu arbeiten, mit lokalem Saatgut, angepasst an die jeweils vorherrschenden Bedingungen. Aber auch die Diversität zu stärken und eben nicht die sogenannte Grüne Revolution auszurufen, die mit standardisierten Industrieprodukten Landwirtschaft betreibt. Sonst drohen Ein­seitigkeit und Mangel an vielen Stellen, bei der Ernährung, der Ökologie, den wirtschaftlichen Strukturen, aber auch in der Kultur und sozialen Struktur
einer Gesellschaft. Agrarökologie ist ein ganzheitliches Konzept, das auf vielen Ebenen ansetzt und Antworten auf viele Fragen liefert. Allerdings ist es komplexer, als einen Sack Saatgut und Hochleistungsdünger aus dem Norden in den Süden zu schicken.

Nachdem die deutsche Entwicklungs­zusammenarbeit lange der Idee der „Grünen Revolution“ anhing, gilt seit der letzten Legislaturperiode auch im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) das Prinzip der Agrarökologie. Wie beurteilen Sie die Umsetzung durch die aktuelle Ministerin Svenja Schulze?

STIG TANZMANN: Es war ja der große Erfolg der vergangenen Legislaturperiode, dass Agrarökologie im für die Entwicklungspolitik zuständigen Bundesministerium an Bedeutung gewann und entsprechende Initiativen gestartet wurden. Wir haben für diese Legislaturperiode vom BMZ mehr erwartet, weil ja schon vieles angestoßen wurde, was man hätte fortführen und ausbauen müssen. Da haben wir bislang vom BMZ zu wenig gesehen und hoffen, dass da noch mehr kommt. Positiv ist, dass das Bundes­ministerium für Ernährung und Landwirtschaft das Prinzip der Agrar­ökologie in seine Richtlinien für internationale Kooperationen aufgenommen hat und diese auch im Austausch mit anderen Agrarministerien weltweit vertritt. Wir würden uns wünschen, dass beide Ministerien zusammen sich stark für die Agrarökologie einsetzen. Das könnte viel bewirken.

Es fließt also immer noch deutsche Entwicklungshilfe in Projekte der „Grünen Revolution“?

STIG TANZMANN: Die „Allianz für eine Grüne Revolution in Afrika“, an der auch Konzerne wie Bayer beteiligt sind, wird noch immer vom BMZ gefördert, das kritisieren wir seit Jahren. Die Begründung des Ministeriums ist, dass es sich um langfristige Projekte handelt, die nach und nach auslaufen. Auch die „Global Alliance für Food Security“, die die G7-Entwicklungsminister im vergangenen Jahr beschlossen haben, folgt in weiten Teilen den Narrativen der Grünen Revolution. Industrielles Saatgut, Agrochemie, künstlicher Stickstoffdünger – alles taucht dort auf.

Aber braucht es denn nicht doch immer mehr Effizienz, um eine wachsende Weltbevölkerung zu ernähren?

STIG TANZMANN: Wer definiert denn, was effizient ist? Wenn ich nur auf einen Parameter blicke und zähle, wie viel Kilo ich von einem Produkt ernte, kann industrialisierte Landwirtschaft effizient erscheinen. Aber ich muss ja auch etwas hineinstecken, damit mehr herauskommt, etwa Stickstoffdünger aus der Fabrik. Und der ist für das Gesamtsystem schädlich, weil seine Produktion viel Energie kostet, was wiederum das Klima belastet und zu Folgeschäden führt. Wäre es nicht effizienter, Biodiversität zu stützen, die auch den Folgen des Klimawandels entgegenwirkt und eine viel breitere Nahrungspalette anbietet?

Wir brauchen die industrialisierte Landwirtschaft also nicht, um die Welternährung zu sichern?

STIG TANZMANN: Nein, denn sie lenkt von der eigentlichen Frage ab, nämlich der der Verteilungsgerechtigkeit. Wir produzieren mehr Kalorien und Lebensmittel auf der Welt, als wir brauchen, aber sie werden nicht gut verteilt. Es hungern über 700 Millionen Menschen, weil sie keinen Zugang zu den Lebensmitteln haben. Oder weil es im kapitalistischen Sinne effizienter ist, daraus Tierfutter, Bioplastik oder Treibstoff zu machen. Natürlich brauchen wir Innovationen für die sozialökologische Transformation der Landwirtschaft, aber sie müssen effizient im Sinne der Agrarökologie und der Verwirklichung des Rechts auf Nahrung sein, und das ist komplex. Aber notwendig.

Für einen solchen Umbau braucht es eine starke global koordinierte Politik. Sie fordern eine Stärkung des  Welternährungsausschusses der UN. Was kann dieser bewirken?

STIG TANZMANN: In diesem Ausschuss haben die Betroffenen eine Stimme. Er ist seit der letzten großen Welternährungskrise 2008 und 2009 reformiert worden, damit die, die von Hunger und Mangelernährung am meisten betroffen sind, gehört und Teil der Verhandlungsprozesse werden. Sie können zwar nicht direkt mitbestimmen, aber sind über einen Zivilgesellschaftsmechanismus an den Verhandlungen beteiligt. Das führt zu Empfehlungen an die Politik zu verschiedenen Themen. Das bekannteste Beispiel dafür sind die Freiwilligen Leitlinien zu Landnutzungsrechten aus dem Jahr 2012, die als Werkzeug gegen das Landgrabbing, also den Aufkauf von Land im globalen Süden durch ausländische Investoren, durchaus Wirkung zeigen. Es gibt aber noch viele andere Beschlüsse dieses Ausschusses, die man in konkrete Politik umsetzen könnte und sollte, etwa bei der Reform der EU-Agrarpolitik.

Klingt gut, warum passiert das nicht?

STIG TANZMANN: Weil auch bei der Arbeit dieses Ausschusses die Ziel­konflikte des Welternährungssystems zu Tage treten und einige Reiche etwas abgeben müssten. Doch die haben viel Macht, und so wurde der Ausschuss in den vergangenen Jahren systematisch geschwächt. Die export­orientierten Länder haben wenig Interesse, dass die Beschlüsse des Ausschusses umgesetzt werden, weil das ihre Position schwächen würde.

Was kann der Verbraucher tun, um das zu ändern? Dieser Ausschuss der UN ist in der Öffentlichkeit doch kaum bekannt.

STIG TANZMANN: Wir reden immerhin darüber, und alle, die das Interview lesen, wissen nun, dass es ihn gibt, und können sich über die Arbeit dieses Gremiums informieren. Auch als Verbraucher kann man sich orientieren und sich in den zivil­gesellschaftlichen Mechanismus des Ausschusses einbringen und so an wichtigen globalen Prozessen und Entscheidungen teilhaben. Genau diese Möglichkeit der Teilhabe macht den Ausschuss so wichtig und stark. Wichtig ist, sich auch für globale Fragen der Agrarökologie und mögliche Lösungsansätze zu interessieren.

Es reicht also nicht, Fairtrade-Produkte zu kaufen?

STIG TANZMANN: Fairer Handel kann und sollte ein Teil der Lösung sein. Aber auch er muss sich weiterentwickeln und sich gerade auch um solche Debatten um Agrarökologie einbringen. Der faire Handel hat mittlerweile eine gar nicht mehr so kleine Marktmacht. Daraus muss nun auch ein politisches Gewicht entstehen. Wo sind jetzt die Stellschrauben, mit denen ein gerechter Handel erreicht werden kann? Ist es der Markt oder die Politik? Individuelle Kaufentscheidungen sind wichtig. Aber man kann die Welt nicht nur durch individuelles Handeln verändern. Man muss sich mit anderen zusammenschließen, streiten und diskutieren und politisch um Lösungen ringen. Das ist die Herausforderung, der man sich stellen muss.

 

Das Gespräch führte Stephan Kosch am 14. August in Berlin.

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Foto: Rolf Zöllner

Stephan Kosch

Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen". 


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