„Der Pauke ein Loch gemacht“

Ernst Troeltschs Protestantismusdeutung im Lichte aktueller Entwicklungen
Martin-Luther-Denkmal auf dem Marktplatz in Lutherstadt Wittenberg.
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Martin-Luther-Denkmal auf dem Marktplatz in Lutherstadt Wittenberg.

In diesem Jahr wird an den 100. Todestag des berühmten Theologen und Religionsphilosophen Ernst Troeltsch (1865 – 1923) erinnert. Über dessen differenzierte Deutung des Protestantismus und ihre bleibende Bedeutung schreibt der Systematische Theologe Georg Raatz. Er ist seit 2015 als Referent für Bildung und Seelsorge im Amtsbereich der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) tätig.

Als ich im Theologiestudium an der Universität Halle Ende der 1990er-Jahre zum ersten Mal mit Ernst Troeltsch in Berührung kam, wurde ich zunächst von Klaus Tanner auf dessen „Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“ gestoßen. Seitdem hat mich Troeltsch nicht mehr losgelassen: Wie großartig und reflektiert, nüchtern und emphatisch zugleich kann man 400 Jahre Protestantismus rekonstruieren; was für ein weiter Horizont, was für ein Niveau!

Als dann anlässlich des 500. Reformationsjubiläums die große Pauke geschlagen wurde, fiel auf, dass man ihr ein paar Dämpfer versetzte. Der eine betraf im Wesentlichen Luthers sogenannten Antijudaismus und seine Aggression gegen die Täufer. Die Strategie scheint die gewesen zu sein, ein paar offensichtlich brandige Stellen bei Luther herauszuschneiden, um ihn danach umso heller leuchten zu lassen. Der größere Dämpfer bestand aber in der recht überheblichen Kritik früherer Reformationsjubiläen und -deutungen.

Dass das eine zu kurz griff und das andere zu weit ging, hängt miteinander zusammen: Hätte man stärker die großen Reformations- und Lutherdeutungen von Albrecht Ritschl, Adolf von Harnack, Karl Holl, Emanuel Hirsch und eben auch Ernst Troeltsch gewürdigt, hätte man darauf kommen können, dass sich ein reflektiertes Verhältnis zur Reformation und zu Luther insgesamt brüchiger darstellt. Insbesondere Ernst Troeltsch hat der Reformation nicht nur kleine Dämpfer versetzt, sondern „der Pauke ein Loch gemacht“, wie sein Schüler und erster Biograph Walther Köhler (1870 – 1946) es ausgedrückt hat.

Umfassende Perspektive

Als Ernst Troeltsch sich in den 1890er-Jahren mit der Frage nach der Entstehung der modernen Welt und der Rolle der Reformation auseinanderzusetzen begann, war die Lage in etwa so: Ausgehend vom Deutschen Idealismus und im Anschluss an Hegels Diktum, die Reformation Luthers habe mit der Freiheit das Prinzip der neueren Zeit entdeckt, konnte man die Geschichte des Protestantismus als mehr oder weniger kontinuierliche Auswickelung des Freiheitsprinzips verstehen. Diesem Geschichtsbild stellt Troeltsch eine Alternative gegenüber, die er zwischen 1906 und 1910 in zwei großen und einigen kleineren Schriften der theologischen und gebildeten Öffentlichkeit vorstellt – und damit Furore macht. Seine Grundgedanken sind die folgenden:

Den Ausgangspunkt bildet eine methodische Entschränkung der Geschichtswissenschaft, die Troeltsch im Austausch mit einer transdisziplinären Arbeitsgemeinschaft entwickelt. In Heidelberg traf sich seit 1904 im Eranoskreis eine Reihe von noch heute prominenten Gelehrten: unter anderen der Soziologe Max Weber (1864 – 1920), der Staatsrechtshistoriker Georg Jellinek (1851 – 1911), der Philosoph Wilhelm Windelband (1848 – 1915) und andere Theologen wie der Neutestamentler Adolf Deißmann (1866 – 1937). Das methodische Bindeglied bildete eine umfassende kultur-, sozial- und mentalitätsgeschichtliche Perspektive. Im Fokus standen die wechselseitigen Einflüsse unterschiedlicher Kulturbereiche auf die neuzeitliche Entwicklung ihres jeweiligen Forschungsgegenstandes, und ganz zentral war das Interesse an den religiös-konfessionellen Prägekräften gelagert. Für Troeltsch führte dies alles zu der Frage: Wie stellt sich die Geschichte des Protestantismus von der Reformation bis zur Gegenwart dar, wenn man sie nicht nur theologie-, ideen- und kirchengeschichtlich, sondern vielmehr als Religions-, Christentums-, Kultur- und Sozialgeschichte rekonstruiert, und wie verhalten sich Protestantismus und Moderne zueinander?

Zunächst kommt Troeltsch zu der ernüchternden Erkenntnis, dass der reformatorische und nachreformatorische Protestantismus eine „zweihundertjährige gewaltige Nachblüte des Mittelalters“ darstellt. Die Herausbildung zweier und dann mit dem Calvinismus dreier Konfessionen erzeugte zwar eine Pluralisierung der abendländischen Christentumskultur, jedoch bestanden nun sozusagen „drei Mittelalter nebeneinander“. Denn intern handelte es sich weiterhin um Einheits- und Autoritätskulturen, da sie soziokulturell von der Kirche und wissenschaftlich von der Theologie beherrscht blieben. Dabei ist anzumerken, dass Troeltsch, trotz seiner Offenheit für kulturellen, theologischen und religiösen Pluralismus, der mittelalterlichen Kultursynthese durchaus etwas abgewinnen konnte und um die Mobilisierung kultureller Integrationskräfte für seine Zeit gerungen hat. Wenn dem so war, dann ergab sich daraus für Troeltsch beinahe zwangsläufig eine Unterscheidung zwischen Alt- und Neuprotestantismus. Diese war keineswegs neu. Aber durch seine Stringenz und breite historiografische Aufbereitung hat es Troeltsch vermocht, dieses Unterscheidungsmuster in den Status einer bleibenden Selbstdeutungsfigur protestantischen Christentums zu erheben.

Die Frage, ab wann von Neuprotestantismus zu sprechen sei, hat Troeltsch recht klar beantwortet. Zunächst formal: seit dem Zerbrechen der kirchlich-theologisch dominierten Einheits- und Autoritätskultur, der entsprechenden Ausarbeitung eines Religions- und Christentumskonzeptes und der Verarbeitung durch die Kirchen. Dieser Vorgang ist für Troeltsch konkret mit dem Pietismus und insbesondere mit der Aufklärung verbunden. Zwischen 1650 und 1800 vollzieht sich eine zunehmende Entflechtung von Religion und Staat, von Theologie und anderen Wissenschaften; die religiöse Idee der Glaubens- und Gewissensfreiheit wird verrechtlicht. Im Kern hat Troeltsch das vor Augen, was heute als funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft beschrieben wird.

Rückbesinnung empfohlen

So sehr sich Troeltsch einer konsequenten Historisierung des Christentums verschrieben hat, so sehr spiegelt seine Frage nach der „Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt“ auch sein eminent kultur-, kirchen- und theologiepolitisches Interesse wider. Auf der Suche nach den protestantischen Wurzeln von und theologischen Legitimationsmustern für Demokratie, Toleranz, Kapitalismus und Liberalismus richtete sich sein Interesse insbesondere auf den Calvinismus samt seinen freikirchlichen Spielarten in England und in den USA. Hatten sich im Kaiserreich ab 1871 die eher konservativen Kulturlutheraner mit dem politischen Konservatismus verschwistert, empfahl er dem politischen Liberalismus dringend eine Rückbesinnung auf die modernitätsprägenden Kräfte des Calvinismus. Einen konstruktiven Bezug auf die kulturelle Prägnanz des Christentums sollte der Liberalismus jedenfalls nicht den Konservativen überlassen. Die Reserve des Liberalismus gegen das Christentum würde letztlich beide schwächen. Aber auch das Luthertum war für Troeltsch nicht glatt auf den Konservatismus zu verrechnen. Und spätestens nach den heftigen Debatten um seine großen Protestantismusschriften von 1906 unternahm er den Versuch, die Reformation Luthers in ein gerechteres Licht zu rücken. In „Luther und die moderne Welt“ (1907) trägt er nun, methodisch sehr feinsinnig, die Differenz von Alt- und Neuprotestantismus in seine Deutung Luthers ein:

„Man hat das Gefühl, daß in der ganzen Persönlichkeit [Luthers] etwas lebt, was über das nächste Ergebnis weit hinausreicht und was in der Tat den Grundrichtungen der modernen Welt wahlverwandt ist. […] Was in den einzelnen Gegensätzen und religiösen Auseinandersetzungen zum Einzelausdruck kommt und im Zusammenhange der theologischen Formeln und kirchlichen Kämpfe formuliert wird, das erschöpft doch keineswegs diese Grundkonzeption. So gilt es, hinter die Einzelformulierungen auf das Ganze der religiösen Grundstellung zurückzugehen und das herauszuholen, was über die altprotestantische kirchliche Rechtgläubigkeit und konfessionelle Kultur hinüberreicht in die Gegenwart.“

Troeltsch unterscheidet also zwischen der zeitgebundenen Erscheinung und den tief liegenden Prinzipien von Luthers neuem Begriff der christlichen Religion. Bei den Prinzipien fällt auf, dass diese nichts mit dem heute noch pausbäckig beschworenen Schriftprinzip und der Rechtfertigungslehre zu tun haben. Diese gehören für Troeltsch ganz in den Debattenkontext der frühen Reformation. Vielmehr rekonstruiert er die Prinzipien der Glaubensreligion, des religiösen Individualismus, der Gesinnungsethik und der Weltoffenheit als diejenigen Grundlagen von Luthers Christentumsverständnis, die sich jedoch allererst im Zuge des Neuprotestantismus voll zu entfalten begonnen haben. Was gibt uns Troeltsch mit seiner Protestantismusdeutung zu denken:

Erstens: Reformation und Protestantismus sind nicht identisch. Der Protestantismus ist nichts, was mit seinem reformatorischen Anfang schon fertig war, sondern es handelt sich um einen bis heute unabgeschlossenen Prozess. Den Protestantismus heute zu gestalten und theologisch zu reflektieren, kann daher nicht durch Rückgriff auf normativ aufgeladene Ursprungsformen (das Evangelium, Auftrag der Kirche, Rechtfertigung, Bekenntnisse et cetera) gelingen, sondern nur durch ein zirkuläres Verfahren von historischer Kritik und begrifflicher Konstruktion. Alles andere würde in verkorkste Repristinationen und Imitationen ausmünden. Gegen die seit dem Konfessionalismus und der Nachkriegsrezeption der Barmer Theologischen Erklärung gut gepflegte Angst vor Beliebigkeit sollten wir an Troeltschs Vertrauen anknüpfen, dass die Spannungseinheit von Tradition und Transformation, von Kontinuität und Diskontinuität kreative Energien freisetzen kann.

Zweitens: Zur Tradition und zugleich zur Transformationsgeschichte des Protestantismus gehören auch der Pietismus und insbesondere die Aufklärung, die eine zweite einschneidende Zäsur in die abendländische Christentumskultur eingetragen haben. Auch auf sie sollte sich die evangelische Erinnerungskultur zurückbesinnen. Da insbesondere die Aufklärung mit keinem so markigen Paukenschlag wie mit dem Thesenanschlag 1517 aufwarten kann, wäre eventuell, so mein Vorschlag, das nächstjährige Kant-Jahr, in dem an den 300. Geburtstag des Königsberger Philosophen gedacht wird, eine passende Gelegenheit.

Kindischer Zwist

Drittens: In jedem Falle geht von Troeltschs Denken und Wirken der Appell aus, die neuprotestantische Umformungskrise auszuhalten und fortzusetzen! Da diese nicht ohne den unierten Schleiermacher und zahlreiche unierte Theologien zu denken ist, wäre es auch für die Pflege von Konfessionalität fruchtbar, in ihr jeweiliges Selbstverständnis die je andere protestantische Perspektive einzubauen und nicht altprotestantische Unterscheidungslehren fortzuschreiben. Ernst Troeltsch jedenfalls hat diese und andere Schuldifferenzen sehr drastisch beurteilt: als kindischen Zwist, während doch das ganze Haus brenne. Eine solche innere Haltung ginge über das Leuenberger Modell hinaus, dessen 50-jähriges Bestehen wir in diesem Jahr feiern (vergleiche zz 3/2023). Denn es würde sich nicht nur um Anerkennung und Gemeinschaft auf der Basis eines gemeinsamen Nenners handeln, sondern vielmehr um die ernsthafte theologische Arbeit an einer solchen Theologie, die sich zum einen auf den reichen Schatz des gesamten Protestantismus bezieht und die sich zum anderen dem allgemeineren Kriterium unterziehen würde, wie protestantische Religion in der gegenwärtigen Moderne überhaupt zu denken ist.

Und schließlich: In einer kulturgeschichtlichen Perspektive erschöpft sich der Protestantismus nicht in seiner großkirchlichen Form, sondern bezieht auch Freikirchen und individuelle Formen und Bildungen mit ein. Troeltschs Synthesemodell einer „elastischen Volkskirche“, die alle drei Formen zu integrieren vermag, könnte für die Zukunftsprozesse unserer Kirchen anregend sein.

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Georg Raatz

Georg Raatz ist Privatdozent für Systematische Theologe in Leipzig und Referent für Bildung, Seelsorge und Generalsynode bei der VELKD in Hannover.

 


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