Im Schattenreich des Unbewussten

Warum die Herrnhuter Losungen kritischer ausgewählt werden sollten
Blick von der Empore in den Kirchensaal der Herrnhuter Freikirche. Der Kirchensaal wurde im vergangenen Jahr saniert, die Orgel modernisiert und erweitert.
Foto: epd-bild/Nikolai Schmidt
Blick von der Empore in den Kirchensaal der Herrnhuter Freikirche. Der Kirchensaal wurde im vergangenen Jahr saniert, die Orgel modernisiert und erweitert.

Eingeübte judenfeindliche Motive kehren immer wieder, weil sie sich über Jahrhunderte ins Bewusstsein wie auch ins Unbewusste von Kirche und Gesellschaft eingegraben haben. Solche sind nach Meinung des Theologen Sebastian Engelbrecht auch in den Herrnhuter Losungen zu finden. Er fordert eine kritische Auswahl der neutestamentlichen Lehrtexte.

Mittwochmorgen, sieben Uhr. Die Herrnhuter Losungen liegen auch an diesem 26. Oktober 2022 auf dem Küchentisch und die Familie wartet auf zwei Bibelworte, mit denen das Frühstück beginnt: „Steh auf, Gott, richte die Erde, denn dein Eigentum sind die Nationen alle.“ Psalm 82,8 ist harte Kost für alle Beteiligten am Tisch, die nur halb bei Bewusstsein und hungrig Platz genommen haben. Aber das Los hat es so gewollt. Wie seit 292 Jahren hat die Evangelische Brüder-Unität im sächsischen Herrnhut auch für diesen Tag aus 1 800 alttestamentlichen Bibelversen einen gelost, und die familiäre Gemeinde fügt sich der morgendlichen Strenge des Loses.

Nun bleibt nur noch die Hoffnung auf den Lehrtext, um die Versammelten wenigstens etwas versöhnlich zu stimmen. „Er stammt immer aus dem Neuen Testament und wird, thematisch passend, zur Losung ausgesucht“, schreibt die Brüder-Unität in den einleitenden Erklärungen. Hier, bei der Auswahl des neutestamentlichen Verses, endet die schicksalhafte oder auch göttliche Entscheidung, welches Wort die Frommen durch den Tag geleiten soll. Mit dem Lehrtext beginnt die menschengemachte „Lehre“, die Theologie der Herrnhuter. Der Lehrtext erzeugt jeden Tag Spannungen, immer klingt er wie ein griechischer Diskussionsbeitrag zum Text der alten Hebräer. Heute schallt es in maximaler Dissonanz: „Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde.“ Der Evangelist Johannes hat zugeschlagen. Kapitel 3, Vers 17.

Wie ein Schlag ins Gesicht muss das Wort von der Rettung jedenfalls für jeden Juden klingen und für alle, die bislang dachten, der Gott der hebräischen Bibel und der des Neuen Testaments seien ein und derselbe. Aber jetzt steht der scheinbar verstockte Appell des alttestamentlichen Psalmisten Asaph neben dem wonnigen Versprechen der ewigen Rettung aus dem Mund des Evangelisten.

Für den Kontext ist jetzt keine Zeit. Um 7.22 Uhr fährt die S-Bahn. In wenigen Minuten zerstreut sich die Familie in alle Richtungen. Hätte sie am Mittwochmorgen doch Zeit für eine Auslegung. Dann würde sie erfahren, dass es dem gnädigen Gott, an den Asaph und die Gemeinde am Jerusalemer Tempel glaubten, um nichts anderes als Rettung ging: Den Armen und Waisen, den Elenden und Bedürftigen will Gott helfen, die Geringen und Armen will er retten.

Theologie der Antithese

Was aber bei wachsendem Bewusstsein des Morgens in den Köpfen haften bleibt, im besten Falle noch auf dem Weg zum Bahnhof kurz im Kopf aufflackert, ist dies: Der Gott des Alten Testaments richtet, Gottes Sohn aber rettet. Es ist nichts anderes als die Theologie der Antithese, die sich in den Anfängen des Christentums schnell verbreitet hat, die hier bei vollem Bewusstsein repetiert wird. Sie begleitet die Familie nicht nur an diesem Morgen, sondern geht unbemerkt ins Schattenreich des Unbewussten ein. Damit steht die frühstückende Familie am 26. Oktober 2022 in einer zweitausend Jahre alten Tradition christlicher Judenfeindschaft, ob sie will oder nicht.

Alle, die Losung und Lehrtext an diesem Morgen hören, ohne weiter darüber zu diskutieren – und dafür ist meistens keine Zeit –, haben eine Dosis antijüdischen Gifts zu sich genommen.

Losung und Lehrtext sind nur ein Beispiel von tausenden, die sich in der Kirchengeschichte finden lassen. Die Linguistin Monika Schwarz-Friesel hat auf erschütternde Weise nachgewiesen, wie das Gift der Judenfeindschaft seit 19 Jahrhunderten ohne Pause weiter verabreicht wird. In ihrem Buch „Toxische Sprache und geistige Gewalt: Wie judenfeindliche Denk- und Gefühlsmuster seit Jahrhunderten unsere Kommunikation prägen“ weist sie nach, dass die Shoah diesen Mechanismus nicht stoppen konnte und kein Umdenken bewirkt hat.

Schwarz-Friesel zeichnet die Kontinuität antijüdischer Vorurteile über die Jahrhunderte nach. Sie beginnt mit Johannes 8,44, wo Jesus jüdischen Gelehrten vorwirft, sie hätten den Teufel zum Vater. In der Auseinandersetzung mit dem Judentum reproduzierten die Väter der Kirche in den ersten fünf Jahrhunderten antijüdische Stereotype. Gregor von Nyssa bezeichnete sie als „Gottes Mörder, Advokaten des Teufels“, Augustin schimpfte sie „Wölfe und Schmutz“.

Sprachstrukturen prägten das „Bild der Juden“, das in den Köpfen der Menschen entstehe, analysiert Schwarz-Friesel. Der Antijudaismus und mit ihm der Antisemitismus ist eine Sprachkonstruktion. So entstand in den Hirnen der christlichen Europäer über Jahrhunderte eine Welt, in der die heilsgeschichtlich bedingte Gegnerschaft zum Judentum konstitutiv war. Aus der sprachlichen Gewaltanwendung gegen Juden erwuchs und erwächst physische Gewalt. Früher legte Johannes sprachlich den Grund, heute tun es Antisemiten in den sozialen Medien. Über Jahrhunderte verfluchte das Christentum seine Mutterreligion und wurde so zur Anstifterin antijüdischer Pogrome.

Deshalb ist es so gefährlich und gleicht einem geistigen Brandsatz, wenn in den Losungen die christliche Antithese zum Judentum kultiviert wird. Weniger fällt sie am 27. April 2020 ins Auge, ist aber nicht minder drastisch. Die Herrnhuter losten 1. Mose 3,8 für diesen Tag aus: „Adam versteckte sich mit seiner Frau vor dem Angesicht des Herrn.“ Dazu lehren sie die Leserinnen und Leser mit Römer 8,15: „Ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen Geist der Kindschaft empfangen, durch den wir rufen: Abba lieber Vater!“ Während Adam sich, gefangen in seiner Verfehlung, vor Gott ängstigt, darf der christliche Sünder auf den gütigen und lieben Vater und dessen Vergebung hoffen.

Eine der schärfsten Abgrenzungen findet sich am 17. März 2022. Das Los fiel auf 5. Mose 8,2: „Gedenke des ganzen Weges, den dich der HERR, dein Gott, geleitet hat diese vierzig Jahre in der Wüste, auf dass er dich demütigte und versuchte, damit kund würde, was in deinem Herzen wäre.“ Die Herrnhuter fügen Matthäus 11,29 als christliche Wahrheit hinzu: „Jesus spricht: Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.“ So einfach ist das also: JHWH demütigt sein Volk, Jesus Christus aber ist demütig.

Der antithetischen Beispiele sind viele. Häufig wird der Antagonismus zwischen Neuem und Altem Testament, mithin dem Gott der Juden, nicht ganz so explizit ausgesagt wie in den bisherigen Beispielen. Oft reicht es aus, gegensätzliche Motive sprechen zu lassen, die eine Distanzierung von Israel, dem Judentum und seinem Gott scheinbar unausweichlich machen.

Am 25. Januar 2022 wird Jeremia 10,24 zitiert. Jeremia bittet Gott, er möge ihn zurechtweisen, aber „nicht in deinem Zorn, damit du mich nicht auslöschst“. Paulus wird mit 1. Thessalonicher 5,9 dagegengestellt: „Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, die Seligkeit zu besitzen“. Selbst wenn Jeremia den Zorn Gottes hier noch aufhalten will, erscheint der Gott Israels doch zumindest potentiell als der zornige, auslöschende, tötende Gott. Jesus aber wird mit „Seligkeit“ in Verbindung gebracht.

Dieselbe Dualität spricht am 19. Mai 2022 aus Psalm 77,10 („Hat Gott vergessen, gnädig zu sein, hat er sein Erbarmen im Zorn verschlossen?“) und Römer 5,20 („Wo die Sünde mächtig geworden ist, da ist die Gnade noch viel mächtiger geworden“). Uralte Klischees, die theologisch seit Mitte der 1960er-Jahre mühsam überwunden wurden, dringen an die Oberfläche und verankern sich in den Köpfen der Leser: Der Gott des Alten Testaments zürnt, der des Neuen ist gnädig im Überfluss.

Das untreue Israel verlässt immer wieder seinen Gott. Er selbst beklagt es in Jeremia 2,17, zitiert von den Herrnhutern am 16. Juni 2020. Um so heller aber leuchtet die christliche Urgemeinde. Hier ist der Horizont nicht das Verlassen, sondern das Bleiben: „Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger“ (Johannes 8,31).

Israel mit seiner Hebräischen Bibel erscheint in den Losungen als ein Volk, das einem überkommenen Gottesbild verhaftet ist. Die Verse der Thorah und der Propheten dienen den neutestamentlichen Lehrtexten, um ihre höhere Wahrheit herauszustellen und sie gegen Israel abzugrenzen: „Der HERR macht die Gefangenen frei“, jubelt der Psalmist in Psalm 146,7 am 19. Oktober 2020. Aber das kann in der Herrnhuter Theologie nicht so stehen bleiben. Es muss überboten werden mit der überlegenen christlichen Wahrheit: „Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei“ (Johannes 8,36). Wie auch immer der Kontext der Verse und ihre Exegese ausfallen mögen – für den kurzen Moment der Alltagsmeditation bleibt hier das „wirklich frei“ des Evangeliums in Erinnerung und damit die Überbietung.

Gegensätzliche Motivpaare

So lassen sich noch viele gegensätzliche Motivpaare finden: Der Gehorsam Noahs gegen den Glauben des Hebräerbriefs (18. Juni 2020); Davids Klage über die Verdorbenheit der Gottlosen gegen die Gerechtigkeit der Christen vor Gott aus Gnade (2. November 2020); die Sicherheit des Lebens im Lande Israel gegen den wundersamen Überfluss, den Jesus schafft (24. Februar 2021).

Fassungslos aber macht der Lehrtext am Israelsonntag, dem 21. August 2022. Hier wird der Rückgriff auf eine Theologie der Substitution Israels durch die Kirche ungeschminkt sichtbar. Der Kämmerer aus dem Mohrenland muss für die Judenmission herhalten. Bekanntlich ist der Kämmerer ein frommer Jude. Er liest den Propheten Jesaja. Nach Jerusalem war er gekommen, um im Tempel JHWH anzubeten. Philippus gelingt es, den Juden zu bekehren. So heißt es triumphierend in Apostelgeschichte 8,36: „Und als sie auf der Straße dahinfuhren, kamen sie an ein Wasser. Da sprach der Kämmerer: ‚Siehe, da ist Wasser; was hindert’s, dass ich mich taufen lasse?‘“

Am Israelsonntag kann dieser bewusst ausgewählte Text nur als Einladung zur Judenmission gelesen werden, auch wenn er sich nicht auf den Wochenspruch bezieht, sondern auf die Losung aus 1. Mose 24,56. Tatsächlich stand die Judenmission bis in die 1970er-Jahre hinein im Fokus des „Judensonntags“, wie er bis dahin hieß. An diesem Tag manifestierte sich die über Jahrhunderte eingeübte antijüdische Theologie der Ersetzung Israels durch die Kirche.

Es gehört heute zum guten Ton, Vorwürfe wie diese zurückzuweisen. Niemand bezeichnet sich selbst als Antisemiten, niemand will sich des Antijudaismus schuldig machen. Es ist gut möglich, dass die Muster einer antijüdischen Theologie aus Substitution, Antithese und Überbietung nicht vorsätzlich in die Losungen gelangt sind. Es ist gut möglich, dass dies unbewusst geschehen ist oder aus einem Mangel an Sensibilität für das Verhältnis zum Judentum, das seit den Anfängen der Kirche und auch nach der Shoah als das tote, vergangene, überwundene, ehemalige Volk Gottes gesehen wird. Dabei leben heute – Gott sei Dank – etwa 200 000 Juden in Deutschland.

Wie Staat und Gesellschaft halten sich auch Kirche und Theologie für aufgeklärte Freunde der Juden in Deutschland, für Bundesgenossen Israels. Das ist erfreulich und gut. Nur spielt das kollektive Unbewusste auch den Aufgeklärten immer wieder einen Streich. Eingeübte judenfeindliche Motive kehren wieder, weil sie sich über Jahrhunderte ins Bewusstsein wie auch ins Unbewusste von Kirche und Gesellschaft eingegraben haben. Der kritische Blick in die Losungen zeigt, dass der Kampf gegen den Judenhass eine Aufgabe ist, die Generationen, ja Jahrhunderte dauern kann.

Die Evangelische Brüder-Unität aber hat es in der Hand, die Auswahl ihrer Lehrtexte zu prüfen: Wie mag sich das Text-Doppel in den Ohren eines Juden anhören? Spiegelt der Lehrtext theologische Vorurteile gegen den Gott des Alten Testaments und sein Volk? Weckt er Assoziationen, die einen antijüdischen Schluss nahelegen? Die Zeit zur kritischen Reflexion, die der Familie am Frühstücks-tisch so selten bleibt, sollten die Herrnhuter investieren. 

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