Man dürfe die Digitalisierung nicht verschlafen, heißt es dieser Tage wieder und wieder in der Kirche. Schlicht verpennt hat sie darüber indes das Entschlafen der Frau E. Vorwerfen kann man Frau E. aber wohl kaum, dass sie sich dazu sechs Monate Zeit gelassen hat, zumal in wechselnden Krankenhäusern. Nachgesehen sei ihr auch, dass sie - obwohl lebenslang treues Glied ihrer Gemeinde und jeden Sonntag im Gottesdienst, mit Herz und Hand in der Frauenhilfe engagiert, jedem zugewandt und stets eine gläubige Nachfolgerin ihres Herrn - nicht Mitglied der WhatsApp-Gruppe ihrer Gemeinde war, die es dort zeitgemäß inzwischen gibt. Auch die loyale Bescheidenheit ist ihr nicht vorzuwerfen, die sie bis zum letzten Atemzug davon abhielt, darüber zu klagen, dass der Pfarrer sie dort nie besuchte, obwohl ihr 81. Geburtstag in jenen letzten Monaten lag. Vorzuwerfen ist es aber ihren Angehörigen, dass die das enttäuschend fanden, zugleich jedoch rein gar nichts dafür taten, damit auch Frau E. sich in jenes WhatsApp-Schiff rettete, das inzwischen Gemeinde heißt. Wohin derlei unterlassene Digitalisierung führt, sah man ja: in Vereinsamung und übersehenen Tod. Die Fußmärsche in den Tempel waren früher mal, heute hätte einfache WhatsApp-Mitgliedschaft gereicht.
Das mag ungerecht klingen, lässt doch diese Berechnung alle denkbaren pastoralen Entschuldigungen außer Acht, in der Hauptsache wohl zeitliche. Aber so bleibt es dabei: Digitalisierung lautet das Gebot der Stunde. Und hier hat man ja deutlich gesehen, in welches Abseits es führt, wenn eine kein Smartphone hat!
Heute jedenfalls unvorstellbar, Priester und Levit hätten ihres nicht in der Hand gehalten, als sie so von Jerusalem nach Jericho liefen, wie wir sie aus dem Gleichnis vom Barmherzigen Samariter kennen (Lukas 10, 25-37). Ja, vielleicht lasen sie dabei sogar gerade dieses Gleichnis auf ihrem leuchtenden Bildschirm, waren connected und dabei doch ganz bei ihrer Sache, der Schrift, zumal in den zuletzt hyperakuten Sola-Scriptura-Hochzeiten rund ums Reformationsjubiläum. Nur der Samariter, der hatte seines wohl gerade nicht dabei, nicht draufgeguckt oder lautlos gestellt. Oder hatte er die Digitalisierung verschlafen? Immerhin bekam er so das ganz Andere in den Blick - und genießt bei manchen noch heute Achtung dafür.
Die Kirche ist damit beschäftigt, die Digitalisierung nicht zu verschlafen. Wachheit, die manche loben. Schließlich gehe es um sie selbst dabei, nicht bloß um Modernität. In Zeiten grassierenden Mitgliederschwunds hat sie allen Grund, jeden Kontaktstrohhalm zu greifen, um an Leute heranzukommen, besonders die Jungen. Und die sind eben alle bei Facebook, WhatsApp, Instagram & Co. Dass die indes einzig auf Daten scharf sind, diese abgreifen, zu Big Data bündeln und auswerten, um noch präzisere Werbepakete zu schnüren, damit der Profit weiter gen Himmel strebt, ist nun mal ihr Geschäftsmodell. Facebook & Co. brauchen „traffic“, Verkehr auf ihren Seiten, damit das Modell funktioniert. Und heißt es nicht in der Schrift, zumindest sinngemäß: „Suchet der Social-Media-Plattformen Bestes?“ Da kann die Kirche doch wohl getrost auch mal mit dem Teufel tanzen, wenn es auch ihrer Sache dient.
Anderen hingegen kommt diese prononcierte kirchliche Digitalerweckung wie Einknicken vor schändlichem Zeitgeist vor. Sie widern sich, wenn sie sehen, wie derlei Zwecke Mittel heiligen, deren Effekte sicher messbar und - vor allem zählbar - einzig den digitalen Großkampfschiffen dienen. Vor Empörung starren sie dann sprachlos, wenn sie miterleben, wie Ratsvorsitzende oder theologische Vizepräsidenten den Erfolg mancher Reformationsjubiläumsaktionen stolz nach Anzahl der Klicks bemessen, die die entsprechenden Internetseiten generierten. Die in der Werbung gängige Währung der Abrufzahlen als Maßstab für erfolgreich umgesetzten Verkündigungsauftrag? Doch so verhärmt stöhnt wohl nur die Digitalkapitalismus-Antifa. Das sind eher nostalgisch Abgehängte, die noch immer jenes Schriftwort zitieren, wonach Kirche dort sei, wo zwei oder drei in Jesu Namen zusammenkämen.
Zugegeben, für eine WhatsApp-Gruppe wäre diese Zahlenbasis wirklich schmal, doch vielleicht kann man es probeweise einfach mal so sehen: Cybersex bringt ja nun ebenfalls definitiv keine Kinder, da muss schon der Samen ganz konkret von A nach B - was nach wie vor am ehesten im persönlichen Clinch gelingt, und das häufig sogar ausgesprochen vergnüglich. Frau E. hat nun so oder so nichts mehr davon, aber gewiss hätte sie über einen solchen Einwurf zur digitalen Verhütung herzhaft gelacht. Denn so kritisch sie auch ihre Kirche sah und das dann auch gern derb formulierte, sie hat sie sehr konkret geliebt.
Da wäre es ganz in Frau E.s Sinne, wenn dieser Weckruf im zeitzeichen-Facebook-Auftritt zumindest eine Handvoll Likes bekäme ...
Udo Feist
Udo Feist
Udo Feist lebt in Dortmund, ist Autor, Theologe und stellt regelmäßig neue Musik vor.