Gott nah, zu nah

In der Bibel findet sich an keiner Stelle die Aufforderung, in die Wüste zu gehen
Iwan Nikolajewitsch Kramskoi: "Christus in der Wüste", 1872. Foto: akg-images
Iwan Nikolajewitsch Kramskoi: "Christus in der Wüste", 1872. Foto: akg-images
Wie lassen sich die Wüstenbilder im Alten und im Neuen Testament heute interpretieren? Marcus A. Friedrich, Pfarrer in Bozen, hilft der Abgleich mit der Unterscheidung zwischen dem „Glatten und dem Gekerbten“ der französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari.

"Make straight in the desert a highway for our God!", heißt es prägnant nach dem Propheten Jesaja (40,3; vgl. Psalm 68,45) in Händels englischem "Messias". Die Wüste ist in biblischer Überlieferung Landebahn Gottes, und wenn man die englische Übersetzung nachklingen lässt, eine "Schnellstraße" für sein Eintreffen. In der Wüste scheint der nötige Raum zu sein für den Einfall der Tran­szendenz. Gott braucht Räume, glatte Räume.

Der Appell Jesajas verdeutlicht außerdem, dass die Wüste wandelbar ist, nicht übermächtig statisch, sondern im Prozess sogar von Menschenhand zu gestalten. "Bereitet dem Herrn einen Weg!" Seitdem Menschen Wüsten und Steppen bewohnen, trotzen sie dem unfruchtbaren, trockenen Raum immer wie­der Gärten, Oasen, Städte ab. Das beginnt zuerst immer mit Bewässerung. Auch ohne den von den Walt Disney Studios produzierten Film "Die Wüste lebt!" wussten die biblischen Autoren, welche wandelnde Kraft das Wasser in der Wüste aufzubringen vermag, weil ihr Lebensraum von Steinwüsten geprägt war. Deswegen benutzten sie dieses starke Bild der Belebung, "dass Bäche liefen in der dürren Wüste" (Psalm 105,41; Jesaja 35,6 und 41,18).

Manchen gestalteten Lebensraum holt sich die Wüste al­lerdings auch zurück. Wüste und ackerbaulich bewirtschafte­tes Land, Wildnis und Zivilisation stehen sich als zwei dyna­mische Räume gegenüber, gegeneinander an einer prekären Grenze. In dieser bipolaren Szenerie war und ist die Wüste immer der lebensbedrohlichere Raum. Er erfordert Beweg­lichkeit und erzwingt unstetes Leben. Für Sesshafte kann er nur Durchgangsraum sein.

Sich der Wüste aussetzen

Weil sie lebensgefährdender ist als das fruchtbare Land, erzeugt die Wüste Existenzangst. Immer wieder fürchtet das Gottesvolk nach dem Exodus, es ende in der Wüste (2. Mose, 14,11; 16,3). Drohen doch die Leiber in der Wüste zu verfallen (4. Mose 14,29). Aber es ist nicht nur das Physische, das bedroht ist. Zum Lebensbedrohlichen gehören auch die Dämonen – besonders in der Wüste kann man ihnen oder sogar dem Teufel selbst begegnen (Matthäus 4,1–11). Ent­sprechend meinten die Israeliten, man könnte die Sünde als energetische Kraft des Bösen aus der Gemeinschaft ver­bannen, in dem man sie einem Sündenbock überträgt und ihn anschließend in die Wüste schickt. Das Böse wird dort­hin verbannt, wo es herkommt, zum Wüstendämon Asasel (3. Mose 16,5–10). Ausgrenzung der Wüste und seiner negativen Dynamik: Das ist die eine kultu­relle und spirituelle Bewegung.

In der prophetischen Auffor­derung, "Bereitet dem Herrn eine Bahn in der Wüste!" verhält es sich anders. Hier geht es nicht um das Zurückdrängen der Wüste als lebensfeindlichem Raum, sondern darum, die Wüste auf­zusuchen, sich ihr auszusetzen und sie zum Begegnungsraum mit Gott werden zu lassen – als ob es gerade dieses unstruktu­rierten Raumes bedürfte, Gott in besonderer Weise entgegen oder nach zu gehen. Ein Wüstenno­madentum wird aus geistlichen Gründen angeregt.

Diese heuristische Sicht der Wüste als Begegnungsraum mit Gott spiegelt sich in den beiden zentralen Wüstenerzählungen des Alten und des Neuen Tes­tamentes, in der vierzigjährigen Wanderung des israelitischen Volkes durch – oder sollte man besser sagen, in der Wüste – und im vierzig Tage dauernden Aufenthalt Jesu in der Wüste nach seiner Taufe. Auch Elia ist vierzig Tage in der Wüste unterwegs (1. Könige 19). Die Geschichte dient gleichsam als Untergrund der Wüstenwanderung Jesu. Allerdings durch­schreitet Elia die Wüste mit einem geographischen Ziel, dem Berg Horeb, Ort seiner Gottesbegegnung.

Wer in die Wüste geht, gerät zwischen Dämone und Engel.

"Und er blieb dort vierzig Tage und vierzig Nächte", heißt es hingegen über Jesus im zweiten Satz der neutestamentli­chen Wüstenerzählung. Hier ist Wüste nicht Durchgangs-, sondern Lebensraum, Raum gesteigerter Gefährdung aber auch unmittelbarer Transzendenz, ein Raum provozierter existenzieller Krisen mit Potenzialen zum geistlichen Wachstum.

Die französische Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari haben ein Sprachbild-Paar entwickelt, einen für (Post-)Strukturalisten typischen binären Code für Wüste und Zivilisation. Sie sprechen in einem Essay von 1980 vom "Glatten und Gekerbten". Auch die Autoren lassen sich gleichsam in die Wüste rufen und ermitteln in der Beschrei­bung des glatten Raums die besonderen Qualitäten dieser Anti-Struktur zur Zivilisation, zur Siedlung, zum Ackerland.

"Glattes und Gekerbtes", so Deleuze/Guattari, "unter­scheiden sich zuerst durch die Umkehrung von Punkt und Linie." Das kann man auch erkennen in der "Highway for God". Im Mittelpunkt steht nicht ein bestimmter Ort, nicht das gelobte Land oder ein Tempel, auch nicht der vermes­sene Raum zwischen zwei Orten, vielmehr der Weg an sich, die nomadische Bewegung im "Glatten". Entsprechend trägt auch bei der alttestamentlichen Wüstenwanderung der Weg dieses scheinbar planlosen Umherirrens das Ziel selbst in sich. Die Beziehung des Volkes Gottes zu seinem Gott entwickelt sich auf dem beinahe chaotischen Weg, die Be­wegung schließt die Möglichkeit des Irrens mit ein, setzt sie vielleicht sogar voraus (Psalm 107,4).

Wüstennomaden auf Zeit

Bei diesem Herumirren droht leicht in Vergessenheit zu geraten, dass der Weg in die Wüste vor allem ein Weg in die Freiheit von der Sklaverei war, aus den Zwängen und Machtverhältnissen des "gekerbten" Raumes heraus. So ist auch neutestamentlich der Weg zur Buße mit dem Weg aus den Städten heraus zum Jordan, dem Fluss in der Wüste, verbunden. Römer und Juden, Pharisäer und Sad­duzäer folgen dem Rufer in der Wüste Johannes (Mathäus 3,3) gleichermaßen und werden im Raum der Wüste befreit zur Neuorientierung. Es handelt sich also, wie bei Jesus, um einen freiwillig gewählten Schritt in die Bedingungen der Wüste. Und dennoch gilt: "Ganz bestimmt sind glatte Räume nicht von sich aus befreiend. Aber in ihnen verän­dert und verschiebt sich der Kampf, und in ihnen macht das Leben erneut seine Einsätze, trifft es auf neue Hindernisse, erfindet neue Haltungen, verändert die Widersacher", so Deleuze/Guattari.

Die ständige Veränderung und Verschiebung des Kampfes ums Dasein, das stete Ringen um die Beziehung zu Gott zeigt sich in jeder Wüstenepisode aufs Neue. Mit der neu gewonnenen Freiheit in der Wüste beginnen erst die Probleme, sei es in der Sorge um Speise und Trank, in der Geschichte um das goldene Kalb oder in der göttli­chen Attacke der Schlangenplage – um nur einige zu nen­nen. Der Volksführer Mose und der Einzelgänger Jesus erweisen sich als geistlich kompetent, indem sie unter den Bedingungen der existenziellen und spirituellen Irrefüh­rung in der Gottesbeziehung bleiben und sie weiter entwi­ckeln. "Im Glatten zu reisen ist ein regelrechtes Werden, und zwar ein schwieriges, ungewisses Werden."

Während Mose in dieser Beziehung zwischen Volk und Gott vor allem vermittelnd wirkt, durchwandert der Sohn Gottes die Versuchungen der Menschen gleichsam exemplarisch. Die Darstellung der Rettung Jesu steht nicht im Mittel­punkt der neutestamentlichen Wüstenerzählung. Es gilt vielmehr davon zu erzählen, wie Jesus als Mensch und Gott die existenziellen Grenzen überwindet. Auch Jesus trifft also nach seiner Taufe in der Wüste "auf neue Hin­dernisse, er erfindet neue Haltungen, verändert die Widersacher", hier sogar das personifizierte Böse schlechthin. Jesus gelingt es, es zu entkräften mit eindeutigem Resultat: "Und die Engel traten zu ihm und dienten ihm!" (Matthäus 4,11)

Thermische Erfahrung

"Der haptische, glatte Raum (…) operiert von nah zu nah": Bei der Berufung des Mose am brennenden Dornbusch (2. Mose 3) zeigt sich Gott "von nah zu nah": ein Brand als Ausgangspunkt, der nicht verzehrt, das Ausziehen der Schuhe, die unmittelbare thermische Erfahrung in Verbin­dung mit der Audition, dem direkten Gespräch mit Gott, näher geht es kaum. Auch alle anderen Prozesse haben diese Nah-Dimension und sprechen die Nah-Wahrnehmung an: Manna und Wachteln fallen vom Himmel vor die Zelttüren und werden mit bloßen Händen gesammelt. Mose klopft mit dem Stock auf den Stein und Wasser dringt heraus.

Neutestamentlich provozieren die Steine unmittelbar vor seinen Füßen Jesu Hunger: Steine zu Brot, das ist die erste Versuchung des Teufels, dämonische Herrschaft über Jesus zu erzwingen.

Nirgendwo versperren in dieser Wüste Tempel und Häu­ser den Weg, Straßen und Mauern in der Ferne den Hori­zont. Wenig zwingt die Sinne in Bahnen und leitet das Auge. Gebäude entstehen zwar aus dem Nichts, wie die plötzliche Gegenwart Jesu auf der Zinne des Tempels bezeugt, aber verschwinden genauso plötzlich wieder – wie eine Fata Morgana.

Die Aufforderung des Teufels an Jesus, von der Zinne des Tempels zu fliegen, holt den glatten Raum schließ­lich ins Gestische, in die Aktion. "Manchmal genügt eine Geste, um einen gekerbten Raum in einen Glatten umzu­wandeln.", so Deleuze/Guattari. Der Teufel will die Geste des Fliegens, Springens herausfordern. Am symbolischen Ort des Gekerbten, des Konstruierten und Verfassten, des Lokalisierbaren in der Religion schlechthin, am Tempel, soll Jesus zum göttlichen Überflieger werden und die beschrie­benen Tafeln der Religion abwischen.

Nomadische Gesten

"Man sollte niemals glauben, dass ein glatter Raum ge­nügt, um uns zu retten!", warnen Deleuze/Guattari. So ist auch nirgendwo biblisch die Aufforderung zu finden, in die Wüste zu gehen und dort für immer Gott zu dienen. Jesus lässt sich nicht verleiten, ein nomadischer Überflieger im unbegrenzten Luftraum der Transzendenz, der der Wüste entspricht, zu werden. Mensch zu werden und zu wachsen in der Gottesbeziehung ist auch mit der Bewegung verbunden, glatte Räume wieder zu verlassen und ins "Gekerbte" zurück zu kehren, allerdings mit der Perspektive, auch in geistlichem Sinne den glatten Raum zu halten.

Mose, der Nomade Gottes schlechthin, stirbt im Ange­sicht des gelobten Landes, die Sesshaftigkeit vor Augen. Jesu Weg durch Galiläa und nach Jerusalem, sein Wirken und seine Passion bis zum Tod am Kreuz sind ein einziges Halten des Glatten im Gekerbten. Sein Tod ist die gewaltfreie Er­oberung des ewigen Lebens. Seine nomadischen Gesten kön­nen bis heute zeigen, was es heißt: Gott, nah zu nah.

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Marcus A. Friedrich

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