Des Öfteren habe ich an dieser Stelle über die schönen, beziehungsweise meist weniger schönen Seiten des Bahnfahrens berichtet. Zum Beispiel über die tückische Ambivalenz der Bahn-App, die angeblich in Echtzeit Bahnverspätungen anzeigt, aber dann kommt der Zug noch später, oder - was noch schlimmer ist -deutlich früher, weil er rasant die vorgebliche Verspätung aufgeholt hat, und dann kommt man zu spät auf den Bahnsteig gedackelt. Weg isser, der Zug. Natürlich gibt es, plötzlich wie Zieten aus dem Busch, die „falsche Wagenreihung“ und alles „rettet, rennet, flüchtet“. Oder den Totalausfall der Wagenstandanzeige, gepaart mit der lapidaren Ansage: „Wir bitten Sie, die Plätze für Platzkartenbesitzende freizugeben“ - ja, schönen Dank auch!
Diese Lästigkeiten sind natürlich keine Katas-trophen wie Zugausfälle, hemmungslose Verspätungen und defekte Klimaanlagen im Hochsommer, doch schön ist was anderes. Letztens aber dachte ich wirklich, das kann doch nicht sein. Es stieg in Berlin-Spandau eine Dame vor mir ein, steuerte zielstrebig auf den von mir reservierten Platz zu und setzte sich. Ich kam vor dem Platz zu stehen und schaute etwas irritiert. „Ist das Ihr Platz?“, fragte sie. Ich hörte mich sagen: „Ja, aber bleiben Sie sitzen, ich kann ja auch hier bleiben“, denn direkt dahinter waren beide Plätze zumindest mit „ggf. freigeben“ ausgeschildert und frei. So weit so gut.
In Wolfsburg stieg dann eine weitere Dame zu und „vertrieb“ „meine“ Dame von „meinem“ Platz mit der Aussage „Entschuldigen Sie, diesen Platz habe ich reserviert“. Da sagte ich zu „meiner“ Dame: „Nun werden Sie von meinem Platz vertrieben - das geht doch eigentlich nicht“. Die weitere Dame sagte sehr freundlich: „Ja, aber ich habe diesen Platz wirklich!“ Soso, dachte ich, denn aus schlimmer Erfahrung eigener Unfähigkeit - bemerkte ich doch jüngst erst, dass ich für den falschen Tag reserviert hatte, gottlob bevor ich mich schneidig beim Schaffner beschwerte - weiß ich, dass der Fall, dass ein und derselbe Platz doppelt reserviert sind, eigentlich nicht vorkommt. Meistens finden solche Missverständnisse ihre Auflösung darin, dass sich jemand eben doch im falschen Wagen (meistens!) oder eben im falschen Tag befindet. Also ich halte es für eine „moderne Sage“, dass wirklich dieselben Plätze im ice doppelt reserviert werden. Beziehungsweise hielt es.
Kürzlich wollte ich es wissen und traute mich, eine entspannt daher werkelnde Zugbegleiterin auf den Vorfall anzusprechen. Ich war der festen Überzeugung, sie würde mein Ahnen mit einer Formel á la „Ja, Sie haben Recht, das kann wirklich nicht sein“ bekräftigen. Sie hörte mir geduldig zu, lächelte verlegen und sagte dann: „Ja gut, es ist nicht oft, aber manchmal, manchmal passiert das wirklich. Ich habe es selbst schon erlebt. Woran es liegt? Keine Ahnung…“. Erschüttert ließ sie mich zurück, denn jetzt weiß ich, „Geht nicht - gibt’s nicht“ - das hat bei der Deutschen Bahn wirklich eine ganz eigene Dimension.
Reinhard Mawick