pro und contra

Ist der konfessionelle Religionsunterricht am Ende?
Foto: privat
Ist in einer zunehmend multireligiösen Gesellschaft, in der die Bindung an die Kirchen abnimmt, die Zeit des konfessionell organisierten Religionsunterrichts abgelaufen? Nein, sagt Silke Leonhard, Rektorin des Religionspädagogischen Instituts Loccum und Privatdozentin an der Universität Frankfurt am Main.

Keine Weltdeutung ohne Weltzugang

Der konfessionelle Religionsunterricht steht an einem neuen Anfang

Mit der Ablehnung der Konfessionalität des Religionsunterrichts steht die Existenz des Religionsunterrichts an sich auf dem Spiel. Selten wurde so daran gezweifelt, dass dessen Bindung an die Träger von religiösen Weltdeutungen und Werthaltungen klug und wertvoll ist. Von diesem Zweifel aus wird Religionsunterricht an sich abgewiesen oder ein allgemeiner, ersatzloser Werteunterricht gefordert – im Bewusstsein der Öffentlichkeit wird hier kaum unterschieden. Dabei ist grundgesetzlich gemäß Artikel sieben, Absatz drei der Religionsunterricht als Organisationsform schulisch-religiöser Bildung in der Weise einer „res mixta“ unmissverständlich zugesichert. Es ist daher entscheidend, sich dem beschriebenen Trend entgegen zu stellen und auf ihn zu antworten.

Erstens: Zum Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Religionsunterrichts tragen Traditionsbrüche in christlich-religiösen Sozialisationen, die abnehmende Verbundenheit mit Kirchen als Potenzial konfessioneller Orientierung bei zunehmender Konfessionslosigkeit oder nichtreligiösen Weltdeutungen sowie wachsende Multikulturalität und -religiosität bei. Aber die Kenntnis dieser religionssoziologischen Trends macht nicht bereits automatisch dafür sprachfähig. Sprachfähigkeit ist aber dringend vonnöten, um den Formen des Fundamentalismus vorzubeugen. Sie schließt nicht nur das Sprechen über Religion ein, sondern meint Kommunikationsfähigkeit als Grundlage eines orientierten, differenzierten, hermeneutisch gebildeten und urteilsfähigen Weltverstehens. In diesem Dienst steht der Religionsunterricht.

Zweitens: Konfessionalität wird in der Öffentlichkeit zuweilen mit zwangsweisen Übernahmen von Glaubensinhalten verwechselt. In der Pluralität ist Konfessionalität aber das positionelle Gesicht der Heterogenität. Sie macht die Bindungen von Menschen an unterschiedliche religiöse Lebensformen und -gemeinschaften deutlich. Frieden in der Welt braucht die Ausgestaltung von Pluralitätsfähigkeit in der kritikfähigen Anerkennung. Ein Erziehungssystem, das zu einer Haltung zur Welt ermutigen und befähigen will, kann sich nicht hinter einer (Schein-)Neutralität verstecken.

Drittens: Reflektierte Positionalität ist eine entscheidende Voraussetzung für Pluralitätsfähigkeit. In einem ungebundenen Religionsunterricht kann sie nicht erlangt werden. Respekt gegenüber anderen Glaubenshaltungen und Religionen zielt auf Positionierung und braucht Perspektivität: Keine Weltdeutung ohne Weltzugang, keine Orientierung in ihr ohne ein Bewusstsein für Perspektivität; kein Perspektivenwechsel, ohne sich der eigenen Perspektive gewahr zu werden. Andere Perspektiven durch teilnehmende Beobachtung – ein wertvolles, da Subjektivität wie pädagogische Wirksamkeit stärkendes Instrument – zu erlernen, ohne vereinnahmt zu werden, ist ein hohes Gut. Erfahrungen in der Begegnung mit Menschen zu gewinnen, die sich zu einer religiösen Position bekennen, und sich mit dieser auseinanderzusetzen, ist eine vorbeugende Maßnahme gegenüber fundamentalistischen Neigungen.

Viertens: Konfessioneller Religionsunterricht muss offen sein für Schülerinnen und Schüler jeder Konfession und Religion und für Konfessionslose. Um in einer weiter gewordenen Welt dialogfähig zu werden und zu sein, also die Verschiedenheit der Religionen anzuerkennen, kommt es darauf an, Religionsunterricht konfessionssensibel und differenzfreundlich zu organisieren und zu gestalten. Insofern sichert die Akzeptanz eines positionierten Unterrichts die Voraussetzung für eine kommunikativ tragfähige, interpositionelle religiöse Bildung.

Fünftens: Schulischer Religionsunterricht ist auch aus pädagogischen Gründen mehr als Religionskunde: In keinem Schulfach sonst begreift man Lernen als stoffliches Gefüttert- Werden. Um sich mit Musik und Literatur auseinandersetzen zu können, muss man sie gehört und gelesen haben. Schülerinnen und Schülern können durch Lehrkräfte von und mit Religion lernen, eine religiöse und kulturelle Urteilsfähigkeit zu erlangen. Warum sollte ausgerechnet Religion ohne eine Positionalität erlernt werden, wo die Gefahren des Fundamentalismus deutlich vor Augen stehen? Auch der Unterricht in Ethik und in LER ist faktisch nicht neutral, sondern hat positionelle Ziele, von denen zu wünschen ist, dass sie reflektiert werden.

Sechstens: Es gibt keine Positionalität ohne das Wissen um die eigene Kontextualität; ohne die theologische Urteilsfähigkeit der Lehrkräfte wird Religionsunterricht „versachkundlicht“, wie Rudolf Englert die Tendenz beschreibt. Die pädagogische Forschung hat zum Beispiel mit der Hattie-Studie nachgewiesen: Es hängt von den didaktisch-methodischen Möglichkeiten der Lehrkräfte ab, inwiefern Kinder und Jugendliche tatsächlich anderen Menschen und Haltungen begegnen können. Die Weiterentwicklung von konfessioneller Kooperation, wie sie in Niedersachsen die konfessionelle Orientiertheit der Lehrkräfte berücksichtigt, ist ein Schritt auf dem Weg der Dialogfähigkeit. Wie auch immer man sie beurteilt: Wenn Entwicklungen dazu führen, dass aus dem aufklärenden, identitätsfördernden Religionsunterricht flächendeckend eine Religionskunde wird, geht auch das Potenzial der Personalität von Religion verloren. Religionen plausibel zu unterrichten, benötigt die Fähigkeit, zwischen Innen- und Außenperspektiven wechseln zu können, die Perspektiven der Gläubigen zu kennen und ebenso die der Anders- oder Nicht-Gläubigen.

Ergo: Der konfessionelle Religionsunterricht ist nicht am Ende, sondern steht an einem neuen Anfang. Er soll Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene konfessionssensibel kompetent für das Leben machen, indem sie von Religion lernen, um sich in Religion auszukennen, zu Religion ein mündiges Verhältnis zu gewinnen und – je nach eigenem Urteil – ein Leben mit Religion führen zu können. Mit ihm verbinden sich Aufgaben, Resonanzen in der Welt wahrzunehmen und zu gestalten. Wie gewinnt Jugend das Zutrauen in die Fähigkeit von Kirche und Religionsgemeinschaften, auf existenzielle Belange, Lebensfragen und die Gestaltung der Welt einzugehen? Der Religionsunterricht braucht die Unterstützung von Staat und Religionsgemeinschaften für eine Mitgestaltung von Welt und Bildung durch die Personen, die dafür verantwortlich zeichnen. Positionalität und Respekt erfordern eine erzieherische Haltung, die um die eigene Bindung weiß und von daher selbst konfessorisch orientiert ist. Denn Verantwortung lernt man durch die Übernahme von Verantwortung.

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Silke Leonhard

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