Buch der Stunde

Zwischen Ost und West
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Was wie eine oft gelesene, klischeehafte Romanstruktur scheinen mag - ein Sterbenskranker lässt in einer Nacht sein Leben an sich vorbeiziehen -, erweist sich im vorliegenden Fall als grandiose, im ursprünglichen Sinne mitreißende Erzählung.

Auf dem Schutzumschlag des Romans Kompass steht, er sei „das Buch der Stunde“. Und hier kann es nicht treffender formuliert werden: Es ist das Buch der Stunde, da uns ständig Nachrichten über die Zerstörung Aleppos und Palmyras erreichen, Anschläge aus Istanbul gemeldet werden und in Teheran und Damaskus freies geistiges Leben in der Öffentlichkeit kaum möglich scheint. Von all diesen Städten handelt der Roman. Über Istanbul, den Bosporus, sagt der Ich-Erzähler, das sei „wirklich ein happy place, ein Ort, an den ich sofort zurückkehren würde, hielten mich nicht die Ärzte fest“.

In einer Fernsehsendung hatte der Musikwissenschaftler Franz Ritter gehört, dass einem Sterbenden geraten wurde „Go to your happy place“. Jetzt muss er selbst befürchten, bald ein Sterbender zu sein. Am Tag hat er eine beängstigende medizinische Diagnose erhalten. In der darauf folgenden Nacht lassen ihn die Erinnerungen an seine Geliebte, die Orientalistin Sarah, und die Sehnsucht nach ihr nicht zur Ruhe kommen. Während er einerseits den Schlaf ersehnt, ruft er zugleich die Erinnerungen an Sarah herauf, die ihn beglücken, die sein Begehren und ihn selbst lebendig halten.

Ritter lebt in Wien. Sarah lernt er auf einem Orientalistenkongress kennen. Er verliebt sich in sie; und von da an ist sein ganzes Leben ein einziges Werben, das immer nur zeitweise Erfüllung findet. Am Ende der durchlittenen und durchsehnten Nacht kommt eine Mail von ihr mit einem Inhalt, den er kaum noch zu erhoffen gewagt hatte.

Was wie eine oft gelesene, klischeehafte Romanstruktur scheinen mag - ein Sterbenskranker lässt in einer Nacht sein Leben an sich vorbeiziehen -, erweist sich im vorliegenden Fall als grandiose, im ursprünglichen Sinne mitreißende Erzählung: Sarah und der Orient sind Objekte der Sehnsucht, der Erfüllung. Der innere Kompass Ritters wie auch der Kompass des Westens insgesamt sind auf den Osten gerichtet. Für den Musikwissenschaftler gibt es einen „Kompass aus Bonn“, das heißt: einen von Beethoven ausgehenden Richtungsweiser. Er zeigt genauso nach Osten, wie der von Sarah geschenkte Kompass auf den „Weg der Wahrheit unter der aufgehenden Sonne“, in den „Orient der Lichter“ zeigt.

Sarah und der Orient sind nicht nur Objekte von Ritters Sehnsucht, sie sind zugleich Subjekte, die auf Ritter und auf die westliche Gesellschaft wirken. In Weimar wird Sarah klar, „wie sehr Europa eine kosmopolitische Konstruktion“ sei; vor allem im Werk Goethes komme „eine Verbindung zum Fernen Osten zum Vorschein“. Wenn die Menschheit überleben will, dann gelinge das nur durch eine Verbindung des Westens mit dem Osten.

Ritter erinnert sich der Schönheit Aleppos, und jetzt „überall dieser Geruch von Dummheit und Traurigkeit“. Der Dschihad erscheint ihm, in dessen wissenschaftlichen Arbeiten und in dessen persönlichem Leben die Beziehungen zwischen Orient und Okzident das bestimmende Thema sind, als „Ergebnis einer langen und eigenartigen kollektiven Entwicklung, die Synthese einer grauenhaften und kosmopolitischen Geschichte“. Der Dschihad ist nichts, was uns nicht anginge.

Die Liebe zu Sarah und der Versuch, den Osten zu verstehen, werden mit einer dringlichen Leidenschaft dargestellt, von der das Buch lebt, und der sich der Leser nicht entziehen kann. Beeindruckt wird er darüber hinaus durch das unglaublich vielfältige Wissen des Autors. 2015 wurde der Roman mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, dem wichtigsten französischen Literaturpreis. In diesem Monat erhält er zu recht den Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung.

Jürgen Israel

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