Der Rand ist der Kern

Die kirchensoziologischen Konzepte greifen zu kurz
Foto: EKd

Die evangelischen Christvespern waren mit über acht Millionen Besuchern wieder sehr gut besucht. Das volkskirchliche Hochamt am Heiligabend bei Kerzenschein und Tannenduft ist mit seinen gut einhundert Jahren zwar noch recht jung, aber ohne Frage ein liturgisches Erfolgsmodell. In der aktuellen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) erklärten 57 Prozent derjenigen, die sehr selten einen Gottesdienst besuchen, dass sie „(fast) immer“ in die Christvesper gehen. Und wenn der Hauptgrund, es nicht zu tun, stimmt, dass ihnen die Kirche zu voll sei, dürfte noch Potenzial nach oben vermutet werden. Aber wissen wir auch, wie dieses eigentümliche Phänomen christlich-protestantischer Religionspraxis zu deuten ist? Auch wenn sich kirchliche Amtsträger mittlerweile mit abschätzigen Bewertungen zurückhalten, so stößt man bei Stellungnahmen dazu immer wieder auf Differenzfiguren wie Christen/Nichtchristen, Christen/Atheisten, Kirchenmitglieder/Konfessionslose oder gar Religionslose. Zudem findet man in kirchensoziologischen Konzepten Figuren wie Kern/Rand, Zentrum/Peripherie, Nähe/Distanz und Hochverbundene/Schwachverbundene. Demnach gingen zu Heiligabend auch viele Atheisten, Nichtchristen, Areligiöse, Randständige und Distanzierte zur Kirche. Im Jargon der Engagierten aus der sogenannten Kerngemeinde drückt sich dies in Formulierungen wie „U-Boot“- oder „Weihnachtschristen“ aus. Man meint damit, die Qualität von Religiosität von der Quantität der Kultpraxis her beurteilen zu können. Die Ideologieanfälligkeit solcher Beobachtungsweisen liegt jedoch auf der Hand. Es stellt sich die Frage: Wer definiert wie Religion, Christentum und Kirche, um feststellen zu können, dass angeblich viele Areligiöse, Nichtchristen und Konfessionslose sich am 24. Dezember in die Kirchen drängen? Ist die Metapher von den „Rändern“ nicht schon deshalb schräg, weil damit rund 90 Prozent der Kirchenmitglieder erfasst werden und deshalb religionssoziologisch das angebliche Randmilieu als Kernmilieu angesehen werden müsste? Und tauchen eigentlich zu Weihnachten die sogenannten U-Boot-Christen wirklich auf oder tauchen sie nicht vielmehr unter, nämlich in eine kirchliche Subkultur, die im restlichen Jahreslauf für sie keine Rolle spielt? In der Regel fußen diese Betrachtungen auf Kirchen- und Gemeindebegriffen, bei denen vereinsmäßige Aktivitätsformen und Gottesdienstbesuchsfrequenzen, also hobbyartige und freizeitgestalterische Praxisformen, zum Gradmesser des eigentlichen Christseins erhoben werden; also Formen, in denen sowohl Haupt- als auch Ehrenamtliche religiös sozialisiert wurden. Sie werden ekklesiologisch überhöht und mit einem Pathos der Eigentlichkeit normativ gesetzt. Zu Heiligabend aber wird man plötzlich skeptisch. In die Freude über den scheinbaren Erfolg mischt sich diffuses Unbehagen. Mangels geeigneter Konzepte von Religion, Christentum und Kirche hilft man sich dann mit der Unterstellung uneigentlicher Motivlagen. Solche Perfektionssemantiken aber erinnern eher an Ernst Troeltschs Sektentypus als an sein Konzept einer elastischen Volkskirche. Zu Beginn des Reformationsjubiläumsjahres 2017 sei deshalb an Martin Luthers ekklesiologische Ideologiekritik erinnert, insbesondere an frommen Werken. Zu seiner Zeit galten Priester, Mönche und Nonnen aufgrund ihrer religiösen Aktivitätsformen als herausgehobener christlicher Stand. Alle anderen praktizierten daneben so etwas wie ein Kompromisschristentum. Es gab also eine Art Zwei-Klassen-Christentum. Es funktionierte nach der gleichen Logik, wie heute das behauptete Gegenüber von Kern und Rand, Hochverbundenen und Schwachverbundenen, Zentrum und Peripherie. Für Martin Luther zählte hingegen, ob jemand im Hören des Evangeliums sowie dem Empfang des Heiligen Geistes zum Glauben findet, in seinem alltäglichen Leben seinem Beruf nachgeht und damit dem Nächsten dient. Er bewertet es so: „Das heißt alles Gott gedient.“ Dass Luther spätestens seit seiner Exkommunikation durch die Papstkirche davon ausging, dass Christentum auch außerhalb der sichtbaren und organisierten Kirche möglich ist, stellt für die protestantische Ekklesiologie einen bleibenden Stachel dar und regt zur Kritik der oben genannten ideologisch eingefärbten Kriterien an. Und trotzdem lohnt die Frage nach den Gründen des Heiligabend-Booms. Es sind wohl insbesondere die zeitlichen und sozialen Faktoren. Hiervon könnte die Kirche viel für die Optimierung des religionspraktischen Angebotsspektrums für den Rest des Jahres lernen.

—— Georg Raatz ist theologischer Referent im Amt der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) in Hannover.

Georg Raatz

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