So geht Populismus
Elf Jahre nach ihrer ersten Wahl zur Bundeskanzlerin sehen viele politische Kommentatoren das Ende von Angela Merkels Kanzlerschaft gekommen. Sie schreiben von „Entrücktheit“, „Kanzlerinnendämmerung“, von der „Kanzlerin der Einsamkeit“ und dem Scheitern ihrer Flüchtlingspolitik. Als Beleg gilt vor allem der Erfolg der AfD, die bereits in neun Landtagen sitzt. Er sorgt in der CSU für Panikattacken und Übersprungshandlungen, wie etwa das Schwadronieren über die Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft und einer Bevorzugung von Einwanderung aus dem „christlich-abendländischen Kulturkreis“. Doch auch die Linkspartei schlingert zwischen Irgendwie-Noch-Immer-Protest- und potenzieller Mit-Regierungspartei hin und her. Und die spd dreht kunstvolle Pirouetten, verteidigt einerseits Merkels „Wir schaffen das“, versucht aber gleichzeitig alles, was seit dem letzten Sommer bei der Flüchtlingspolitik schief gelaufen ist, der Union in die Schuhe zu schieben. In der CDU werden die Worte der Kanzlerin plötzlich zum „Kommunikationsproblem“ und Präsidiumsmitglied Jens Spahn fordert, dass die Menschen bei den Emotionen gepackt werden müssten, nicht bei den Fakten. So geht Populismus.
Dabei war Merkels „Wir schaffen das“, das ihr nun immer wieder vorgehalten wird, vor einem guten Jahr wohl einer der emotionalsten Sätze, den die Kanzlerin jemals öffentlich gesagt hat. Und es tat gut zu sehen, dass auch ein sonst eher kühler Kopf wie Merkel mitmenschlich reagiert auf das, was kurz vorher die Medien prägte: Die Nachricht von erstickten Flüchtlingen im Kühllaster auf der Autobahn und das Bild des toten Jungen im roten T-Shirt am Mittelmeerstrand zeigten Wirkung ebenso wie die randalierenden Rechtsradikalen vor den Flüchtlingsheimen. Und die Kanzlerin reagierte richtig. Endlich sollte sich Deutschland nicht mehr verstecken hinter dem Dublin-System der EU, das Italien und Griechenland mit den Flüchtlingsströmen allein ließ.
Ein Jahr später wird das alles nun in Frage gestellt, weil die AfD zweistellige Wahlergebnisse einfährt. Dabei regiert nicht die AfD, wohl aber die Angst vor dieser „Denkzettel“-Partei. Dass sie Union, SPD und Linken Wähler abspenstig macht, dürfen diese selbstverständlich nicht ignorieren. Offenbar steht ein weitaus größerer Teil der Deutschen am rechten Rand, als es die Zusammensetzung unserer Parlamente bislang vermuten ließ. Aber das lässt nun den Kampf mit offenem Visier zu. Und den gewinnt man nicht, indem man den tumben Parolen eigene hinzufügt.
Richtig ist es stattdessen, dem empathischen und optimistischen „Wir schaffen das“ eine ebenso konstruktive Integrations- und Migrationspolitik folgen zu lassen. Sei es durch ein neues Einwanderungsgesetz, das wirklich ein solches ist und kein Abschottungsgesetz, sei es durch eine langfristig und breit angelegte Integrationshilfe, die ohne Frage viel kosten wird. Und nicht zuletzt muss trotz der bisherigen Misserfolge auch auf der EU-Ebene eine neue Flüchtlingspolitik gestaltet werden. Auf dem Tisch liegt gerade ein Vorschlag der EU-Kommission, der das bisherige Dublin-System noch verschärft. Hier gilt es gegenzuhalten. Denn bei aller gebotenen politischen Klugheit – nicht die Angst sollte regieren. Sondern Mut und Menschlichkeit.
Stephan Kosch