Die Grenzen des Möglichen
Die westliche Politik, sich offensiv in die Angelegenheiten des Orients einzumischen und umgekehrt in Europa auf schützende Grenzen zu verzichten, hat zu einer doppelten Überdehnung nach außen und innen geführt. Wenn der Nationalstaat eine vorrangige Staatsaufgabe wie die Grenzsicherung an die Europäische Union delegiert, diese dazu aber nicht in der Lage ist, geraten beide Ebenen in eine Entgrenzungskrise. Zwischen den Nicht-Mehr-Kompetenzen der Nationalstaaten und den Noch-Nicht-Kompetenzen der EU ist ein schwarzes Loch entstanden, in dem sich auch Schlepper und Islamisten verbergen können.
Insbesondere der von Deutschland vorangetriebene Abschied vom Nationalstaat und seinen Grenzen kam verfrüht. Dabei hat es keine Notwendigkeit zur überstürzten Schwächung des Nationalstaates gegeben, dem wir Entwicklungen zur Demokratie, Gleichberechtigung und sozialen Sicherheit verdanken. Nationen – so Paul Collier – sind legitime moralische Einheiten, die ihren ärmeren Bürgern Rechte verleihen. Deren Interessen bleiben vom „globalen Nutzen“ der Zuwanderungsgewinne oft unberührt. Deutschland kann von Glück sagen, dass seine gleichsam utopische Politik der offenen Grenzen von Österreich und den Westbalkanstaaten korrigiert wurde.
Die wichtigste gesamteuropäische Aufgabe wäre eine gemeinsame Grenz- und Asylpolitik. Schengen erlaubt die zeitweilige Wiedereinführung von nationalen Grenzen. Wann, wenn nicht jetzt? Angesichts des Andrangs von Flüchtlingen und der Bedrohung durch Dschihadisten kann keine politische Ebene die Grenzsicherung alleine leisten. Nationalstaaten und EU mAüssten sich gegenseitig ergänzen. Die europäischen Nationalstaaten sind für die globalen Migrationsprozesse zu klein, aber ohne starke Nationalstaaten kann es keine erfolgreiche inter- oder supranationale Kooperation geben. Da sich die ideellen Gemeinsamkeiten der Europäischen Union als wenig belastbar erwiesen haben, ist es umso dringlicher, Gegenseitigkeiten einzufordern, etwa finanzielle Hilfen an Griechenland an dessen Beiträge zur Grenzsicherung zu binden. Grenzkontrollen müssten zumindest eine Differenzierung zwischen Schutzsuchenden und potenziellen Gefährdern erreichen.
Schwellen wären gewiss besser als Zäune und Mauern, die wie in der spanischen Enklave Ceuta nur eine Ultima Ratio sein sollten. Die erste Schwelle läge in der Abschaffung von Migrationsanreizen, die zweite in einer Differenzierung der Flüchtlinge in Aufnahmezentren, die dritte in einer konsequenteren Rückführung, die vierte in einer besseren Sicherung der EU-Außengrenzen und die fünfte in der Flüchtlingshilfe für „Pufferstatten“ wie Türkei, Libanon und Jordanien. Die letzte Schwelle wäre die militärische Sicherung im Sinne eines Kampfes nicht gegen die Flüchtlinge, sondern gegen die Schleuser.
In Australien wurde die Grenzsicherung der Marine übertragen, woraufhin sich die Zahl der Schleuserboote drastisch reduzierte. Da Frontex über keine nennenswerten operativen Kapazitäten verfügt, hat die EU die nato um Amtshilfe gebeten, die sich aber letztlich auf Beobachtungseinsätze beschränkt. Statt auf die Hilfe des immer despotischer und unberechenbarer werdenden Regimes in Ankara zu vertrauen, hätte man die der Türkei als Schutzgeld in Aussicht gestellten drei Milliarden Euro besser in die europäisch-griechische Grenzsicherung investiert.
In Zukunft soll die europäische Grenzagentur Frontex in die Rolle einer operativ arbeitenden Grenzschutzbehörde hineinwachsen. Neben einer Aufstockung des eigenen Personalbestandes auf 1?000 sollen mindestens 1?500 Grenzbeamte aus den Mitgliedstaaten als schnelle Eingreiftruppe auch gegen den Widerstand des Nationalstaats eingesetzt werden können. Wenn ein Mitgliedstaat überfordert ist, soll Frontex für den Grenzschutz zuständig sein. Damit würde die Souveränität von Staaten in einem wesentlichen Punkt eingeschränkt. Deshalb sind die Pläne immer noch umstritten und dürften zudem nicht ausreichen.
Neue Grenzen sind nicht nur im physischen, sondern auch im organisatorischen und im ideellen Sinne gefordert. Der Binnenmarkt kann für alle, eine Währungsunion oder Politische Union nur für wenige gelten, eine Sozialunion darf es nicht geben, solange wirtschaftliche Voraussetzungen zu unterschiedlich sind.
Der Westen und zumal das offene Europa müssen zunächst den seinerseits universalistischen Islamismus eindämmen, dann ihr eigenes Streben nach politischer Universalität gegen eine Koexistenz der Kulturen eintauschen und sich schließlich selbst funktionsfähige Grenzen geben, an denen unterschieden wird, wer und wie viele hineinkommen.
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Heinz Theisen ist Professor für Politikwissenschaft an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln, Fachbereich Sozialwesen.
Heinz Theisen
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