Neuerliche Selbstinfantilisierung

Alles was peinlich wirken könnte, hat im Gottesdienst nichts zu suchen
Foto: privat
Eine 500 Jahre alte liturgische Tradition sollte nicht gedankenlos geopfert werden, meint Benjamin Lassiwe.

Es war vor einigen Jahren - in einer Kirchengemeinde in Hoyerswerda. Drei ältere Damen, darunter eine Ordensschwester, probten für den Gottesdienst zum traditionellen Weltgebetstag der Frauen. In dem Gemeindesaal mit Parkettfußboden, Stapelstühlen und typisch evangelischer Tristesse stellten sie sich in einer Reihe auf. Jede legte die Hände auf die Schultern ihrer Vorderfrau. Dann hoppelten sie im Reigen durch den Raum. Zwei Schritte vor, ein Schritt zurück. Vor und zurück. Immer weiter. Der bis dahin redselige Fotograf fing an zu schweigen. Ich bat ihn dennoch um Fotos von den Damen. "Benjamin, Du hast meine Kamera vergewaltigt", sagte er schließlich im Zug nach Berlin. Szenenwechsel. Der Berliner Dom, die prächtigste Kirche der Bundeshauptstadt. Golden glänzt der Altar. Ein Fernsehgottesdienst, aus welchem Anlass auch immer. Eine Bibelstelle wird gelesen. Dann tritt eine Frau in weißem Gewand vor den Altar. Sie beginnt, weiße Tücher zu schwenken. Was macht sie da? Ausdruckstanz, steht im Programm. Offenbar meditiert sie mit vollem Körpereinsatz über eine Bibelstelle. Was hat das mit mir, dem Gottesdienstbesucher, zu tun? Keine Ahnung. Ich verstehe es schlicht nicht.

Beklemmung gefühlt

Zwei Beispiele für missglückte Tanzaktionen in Sakralräumen. Aktionen, wie sie immer häufiger in Gottesdiensten vorkommen: In der Furcht davor, dass die herkömmliche Liturgie den modernen Menschen langweilen könnte, bemühen sich Kirchen und Pfarrer um Ergänzungen. Es gibt Anspiele, Tänze, manchmal sogar Videoclips. Und im Einzelfall hat das auch seine Berechtigung: Zum Beispiel im Familiengottesdienst, den Eltern und Großeltern mit Kindern und Enkeln besuchen. Es ist klar, dass hier eine herkömmliche Predigt ermüdend wirkt. Es ist klar, dass das Evangelium auf andere Weise erfahrbar gemacht werden muss, als nur durch das Wort des Predigers. Und auch ein Fernsehgottesdienst steht stets vor der Herausforderung, das Zeremoniell in der Kirche für den Zuschauer zu Hause am Bildschirm erlebbar zu machen. Individuelle Zeugnisse von Gemeindegliedern und kleine Theaterstücke werden für so etwas gern genutzt. Und eben auch Tänze. Doch es gibt da Unterschiede: Zeugnisse und Theaterstücke sind meist verständlich. Denn wie bei einer Predigt enthalten sie Worte. Aber was nehme ich wahr, wenn eine Dame im mittleren Alter mit Tüchern vor dem Altar herumhampelt? Nichts. Ich fühle höchstens Beklemmungen ob der neuerlichen Selbstinfantilisierung meiner Kirche. Wer nicht gerade zu den Fans von klassischem Ballett gehört - und die Zahl der verkauften Eintrittskarten der staatlich hoch subventionierten Berliner Opernhäuser gibt einen ungefähren Eindruck über deren real existierende Zahl -, kann mit Tänzen in der Kirche kaum etwas anfangen. Und mich persönlich beschleicht oft das Gefühl, dass die erlebte Darbietung nur der Selbstinszenierung des oder der Tanzenden dient - und zwar auf Kosten des Gottesdienstes als Ganzem und der spirituellen Erfahrung aller übrigen Besucher.

Und es geht noch schlimmer. Wieder zwei kleine Szenen: Die Landessynode der früheren Evangelisch-Lutherischen Kirche in Mecklenburg. Man tagte im Hotel Klüschenberg in Plau am See. In den vier Ecken des Saals standen Tische, darauf lagen Blätter, Sand, Äste, Muscheln. Musik spielte, die Christenmenschen zogen durch den Raum. Dann: Stille. Die Menschen blieben an den Tischen stehen, nahmen Blätter und Äste in die Hand. Die Aufgabenstellung: Denken Sie über das nach, was Sie da in den Händen haben. Es war die Morgenandacht der Synode, und eine ganze Reihe von Menschen hatte zu diesem Zeitpunkt bereits den Saal ins benachbarte Frühstückscafé verlassen. "Das ist doch hier nicht die Reise nach Jerusalem", war einer der harmloseren Kommentare. Einige Monate später, im Lübecker Dom: Ein Posaunenchor spielt ein Kinderlied. "Wir wollen aufstehen, aufeinander zugehen, voneinander lernen, miteinander umzugehen." Die Gottesdienstbesucher sind aufgefordert, bei den Worten "aufeinander zugehen" aufeinander zuzugehen. Also stehen sie auf, drehen sich nach rechts, gehen auf den Banknachbarn zu. Beim zweiten Mal dann nach links. Und beim dritten Mal? Tja, da ist dann die Kirchenbank im Weg. Also wieder rechts. Dumm gelaufen. Und für Außenstehende mit Sicherheit ein Ritual, das eher an den morgendlichen Stuhlkreis eines Kindergartens als an einen Gottesdienst mit Wortverkündigung und Gebet erinnert.

Siegfried Macht: Gotteslob und Emanzipation

Benjamin Lassiwe

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