Wenn alle nackt sind

Das Private ist ohnehin schon ziemlich öffentlich - also Schleusen auf?
Prima leben ohne Privatsphäre? Foto: dpa/ Berliner Verlag/Steinach
Prima leben ohne Privatsphäre? Foto: dpa/ Berliner Verlag/Steinach
Die einen versprechen sich von der ungehemmten Veröffentlichung aller, auch der intimsten, Daten mehr Freiheit und sehen darin gar eine Waffe gegen staatlichen Überwachungswahn. Die anderen verweisen darauf, dass gerade in den vergangenen Jahren sich im Netz so ziemlich das Gegenteil einer toleranten Gesellschaft zu formieren scheint. Meike Laaff, Redakteurin der taz, über das umstrittene Konzept, den Gedanken an Privatheit aufzugeben.

Was wäre, wenn wir die Idee von einer Privatsphäre einfach hinter uns ließen? Wenn Chefs einfach über ihre Erbkrankheiten bloggen, eine Freundin auf einer Datingseite en détail über ihre sadomasochistischen Neigungen Auskunft gäbe, Konkurrenten sich auf Facebook austauschen, wie viel Honorar sie für ihre letzten Aufträge kassiert haben? Was also wäre wenn? Diese Frage stellen die Vertreter des Konzepts von Post-Privacy - der Vorstellung von einer Epoche, die ohne Privatsphäre und Datenschutz auskommen will.

Die Grundidee der Post-Privacy-Verfechter: Wenn wir sensible Informationen, die über uns im Netz frei flottieren, schon nicht mehr kontrollieren können, dann sollten wir sie freiwillig und kontrolliert preisgeben. Wenn alle nackt sind, wird niemand mehr mit dem Finger auf den anderen zeigen - und den Mächtigen, die uns ausspähen, wäre damit Wind aus den Segeln genommen, weil sie nicht mehr über exklusives Wissen über uns verfügen, mit dem sie uns bloßstellen können.

Das Konzept von Post-Privacy ist nicht hundertprozentig fest umrissen, eher ein theoretisches Konstrukt, an dem ein loser Kreis von Bloggern und Netzdenkern, die die aktuellen Entwicklungen rund um Privatsphäre und Datenschutz kritisch sehen und zum Beispiel unter dem ironischen Titel spackeria.org an Alternativen herumdenken.

Es wäre zu einfach, ihre Ideen als extrem und spinnert abzutun. Tatsächlich aber analysieren die Vertreter der Post-Privacy-Idee den heutigen Ist-Zustand von Privatsphäre und Datenschutz treffend genug, um damit zumindest einige interessante Fragen aufzuwerfen.

Die Privatsphäre ist eine lebende Tote, sagen Post-Privacy-Vertreter - und ganz falsch liegen sie damit nicht. Gerade in Deutschland beschwören wir die Privatsphäre und ihren Schutz zwar gern (besonders, wenn es gegen große böse Internetkonzerne geht), doch bei den meisten von uns geht das über Lippenbekenntnisse nicht hinaus. Bereitwillig posten wir auf Instagram Fotos, breiten auf Facebook allerlei Intimes aus und übermitteln über unsere Smartphones kontinuierlich unsere Positionsdaten. Mit Verschlüsselungstechnologien beschäftigen sich die wenigsten. Und selbst wenn man auf all die Vernetzungsmöglichkeiten des Netzes verzichtet, kann man sich nicht sicher sein, dass Informationen über einen nicht ins Netz gelangen - weil im Zweifelsfall auch unachtsame Freunde allerlei über uns digital ausplaudern können.

Viele Alltagsgeräte vom Auto bis zum Stromzähler sind mit internetfähigen Sensoren ausgestattet, die unzählige Informationen sammeln - und aus denen sich jede Menge darüber erfahren lässt, wann wir uns wo aufhalten, was wir tun und wie wir leben. Und immer mächtigere Algorithmen stückeln aus scheinbar nichtssagenden Informationsschnipseln erschreckend treffend zusammen, was wir vielleicht lieber für uns behalten hätten.

Hinzu kommt: Einmal ins Netz eingespeist, ist es so gut wie unmöglich, das Kopieren, Weiterverarbeiten und Kombinieren von Daten über uns zu verhindern. "Kontrollverlust" nennt das der Berliner Blogger und Autor Michael Seemann. Wie will man in einer solchen Welt noch ernsthaft unterscheiden, was private Daten sind und was nicht?

Totale Transparenz

All das macht Datenschutz zu einem Papiertiger, der über immer weniger Werkzeuge verfügt, um Kernbereiche unseres Lebens vor den neugierigen Blicken Fremder zu schützen, so Christian Heller (vergl. zeitzeichen 9/2013), Blogger und Autor des Buches "Post-Privacy - Prima leben ohne Privatsphäre". Oft vom Staat gewährt und überwacht, hinke der Datenschutz meist meilenweit hinter dem her, was Unternehmen längst praktizieren - und sei bei staatlichen Datensammlungen oft nicht mehr als ein Feigenblatt, das Überwachungsmaßnahmen mit geringen Einschnitten rechtfertige. Letzteres bestätigt auch die Informatikerin und Privacy-Forscherin Seda Gürses von der Universität New York - und verweist auf die Debatte um Körperscanner, die nach Einwänden von Datenschützern auf die Darstellung von Genitalien verzichten.

"Heute schlägt sich Datenschutz in seiner Front gegen das Netz eindeutig auf die Seite des Staates - im Kampf gegen das, was sich der Macht des Staates entzieht", kritisiert Heller weiter. Um den Status Quo der alten Freiheiten zu halten, würden Datenschutzgesetze und Persönlichkeitsrechte immer mehr Druck auf neue Freiheiten ausüben - nämlich auf die Möglichkeiten der Datenwelt. Beispiel hierfür sei das in der deutschen Politik diskutierte "Recht auf Vergessen", ein Verfallsdatum für digitale Daten.

Post-Privacy-Vertreter wie Seemann und Heller gehen bereits heute mit positivem Beispiel voran: Hellers Terminkalender ist über sein Blog einsehbar, Seemann macht seinen Aufenthaltsort über Locationdienste transparent.

Wie viele Vertreter der Post-Privacy-Bewegung werden auch Seemann und Heller nicht müde, die positiven Aspekte von freizügigem Umgang mit Daten und Informationen über sich im Netz zu betonen. Ähnlich sieht das der New Yorker Professor und Autor Jeff Jarvis, der sich - weit vom deutschen Datenschutzdiskurs entfernt - mit seinem Buch "Private Parts" in die Debatte eingeklinkt hat. Darin berichtet er unter anderem über seine positiven Erfahrungen, nachdem er seine Prostatakrebs-Erkrankung im Netz öffentlich besprach.

Seemann geht in seinem digitalen Optimismus sogar noch einen Schritt weiter: Transparenz und Vernetzung über das Netz würde die Zivilgesellschaft immens stärken. Große Hoffnungen setzt Seemann auch in Big Data, also die computergestützte Auswertung großer Datenmengen. Aktivisten könnten mit Hilfe dieser Möglichkeiten zum Beispiel Regierungen kontrollieren und so eine Art Gegengewicht zur staatlichen Überwachung und Kontrolle darstellen.

Ganz neu sind diese Ideen nicht. Bereits Ende der Neunzigerjahre entwarf der amerikanische Wissenschaftler und Science-Fiction-Autor David Brin in seinem Buch "The Transparent Society" die Idee der totalen Transparenz: Einst war Überwachung aus finanziellen und technischen Gründen dem Staat vorbehalten - doch wenn Überwachungstechnologien immer preiswerter und einfacher zu handhaben werden, könnte man doch einfach zurücküberwachen. Bürger könnten die Überwacher überwachen und sich untereinander gegenseitig. So brächte man die Privatsphäre zum Einsturz - aber eben auch das Gewaltmonopol des Staates

Die "Filtersouveränität"

Auch wenn Heller betont, dass Post-Privacy nicht zwangsläufig derart radikal aussehen muss, glaubt er, dass Brins Entwurf folgend Transparenz in einer vielfältigen Gesellschaft zum Druckmittel gegen Intoleranz und Diskriminierung werden könnte. Auch wenn er einräumt, dass eine damit einhergehende Diktatur der Masse in einer gleichförmigen Gesellschaft Gleichförmigkeit fördern könnte.

Vor diesem theoretischen Hintergrund ist die Forderung der Post-Privacy-Vertreter im Grunde höchst pragmatisch: Wer seine Daten hinausbläst, statt sie in den Schubladen von Unternehmen und Staaten zu verstecken, fügt sich in eine Realität, in der das Privatsphären-Konzept der prädigitalen Ära nicht mehr funktioniert. Statt sich darüber zu ärgern, dass man über das Gegenüber mehr erfährt, als man möchte, könne man die Möglichkeiten des Netzes nutzen, um diese Informationen einfach auszublenden, postuliert Post-Privacy-Autor Seemann und nennt das "Filtersouveränität".

Doch wird Gewöhnung dazu führen, dass man für den offenen Umgang mit pikanten Informationen über sich nicht mehr verbal geschlachtet wird?

Zunächst einmal: Es gibt auch weiterhin gute Gründe, mit einigen Informationen über sich hinterm Berg zu halten. Wer an einer seltenen Erbkrankheit leidet, kann zwar davon profitieren, wenn er sich mit anderen Betroffenen übers Netz austauscht. Aber will er wirklich ausprobieren, wie tolerant ein potenzieller künftiger Arbeitgeber oder Versicherer das Wissen darum nimmt?

Überhaupt zeichnet sich derzeit nicht ab, dass die digitale Öffentlichkeit - an Normabweichungen und unkonventionelle Bekenntnisse gewöhnt - immer liberaler wird. Im Gegenteil. Gerade in den vergangenen Jahren scheint sich im Netz so ziemlich das Gegenteil einer toleranten Gesellschaft zu formieren. Jede noch so nebensächliche, vielleicht sogar aus dem Zusammenhang gerissene Äußerung kann einen Shitstorm auslösen - gegen Prominente, Politiker, Unternehmen oder auch Individuen.

Gegenseitige Dauerbeobachtung

So verlor im vergangenen Jahr ein US-Programmierer seinen Job, weil er auf einer Fachkonferenz seinem Sitznachbarn einen anzüglichen Spruch zugeflüstert hatte: Eine Frau in der Reihe vor ihm hatte mitgehört, die Äußerung als frauenfeindlich empfunden, sie gemeinsam mit einem Foto das Programmierers getwittert und damit einen Sturm der Entrüstung entfacht, auf den der Arbeitgeber reagierte. Ein New Yorker Universitätsprofessor, der sich in einem Tweet abfällig über Übergewichtige äußerte, wurde nach jeder Menge digitalem Wirbel von seiner Universität lediglich abgemahnt.

So geschmacklos diese Normabweichungen sein können, zeigen sie doch, wie heftig und unmittelbar die digitalen Reaktionen und die Auswirkungen sein können. Weil Kameras allgegenwärtig sind, jeder Mitschnitt geleakt, jeder Facebook-Post und Tweet wieder aus Archiven hervorgekramt werden kann, stehen wir schon heute unter ständiger gegenseitiger Dauerbeobachtung. Lebt man aber in ständiger Antizipation eines digitalen Entrüstungssturms, kann Transparenz eben auch das Gegenteil von Meinungsvielfalt befördern. Menschen könnten beginnen, ihre Äußerungen im Netz selbst zu zensieren - lieber dem Mainstream das Wort reden, als von seiner Meinungsfreiheit Gebrauch zu machen. "Hyperzivilisierung durch maximale soziale Kontrolle" nennt das der Forscher Patrick Breitenbach. Griffe die im Bereich politischer Positionen und Aktionen um sich, könnte die Zivilgesellschaft einpacken.

Zynisch wird die Idee einer Post-Privacy-Gesellschaft, wenn sie sich in autoritären Systemen vorstellt. Zwar verweisen Post-Privacy-Anhänger darauf, dass Datenschutz Bürger in solchen Systemen auch nicht zu schützen vermag. Doch ein syrischer oder iranischer Blogger, der im Netz offen Kritik an der Regierung äußert, kann froh sein, wenn er dafür nicht mit seinem Leben bezahlen muss. Auch einem homosexuellen Mann in Uganda kann man ein Outing unter Klarnamen nicht empfehlen.

Doch auch in demokratischeren Systemen ist Post-Privacy ein riskantes Experiment: So stumpf Datenschutz als Schwert gegen die Mächtigen sein mag - vielleicht taugt es doch noch besser, als sich mit bloßen Händen gegen staatliche Überwachung und Kontrolle wehren zu müssen. Recht hat Michael Seemann mit dem Hinweis, dass die Zivilgesellschaft auch neue Strategien entwickeln muss, etwa aktivistische Big-Data-Analysen, um Regierungen und Dienste zurück zu überwachen. Aber ist es nicht besser, in diesem asymmetrischen Kampf alle möglichen Mittel zu nutzen, die zur Verfügung stehen - also auch den Datenschutz mit all seinen Schwächen?

Der Blogger John F. Nebel bezeichnet das Ende der Privatsphäre, wie wir es gerade erleben, als "totale Niederlage": "Wir haben die Privatsphäre verloren, ohne dass sich an Hierarchien, Herrschaft und Kontrolle etwas verändert hätte." Nichts führt uns das klarer vor Augen als die nsa-Enthüllungen.

Lässig von der Leine

Post-Privacy fordert das Individuum auf, toleranter zu reagieren, wenn man an Bekannten und Freunden durch deren Post-Privacy-Verhalten Seiten entdeckt, die einem unsympathisch sind. Oder anders gesagt: Der Einzelne soll das Wegsehen lernen. Warum kann man genau das aber nicht auch von Unternehmen und Staaten verlangen?

Die Privatwirtschaft lassen Post-Privacy-Verfechter meist recht lässig von der Leine: Natürlich haben Diensteanbieter den Zugang auch zu den Daten, die vorsichtige Nutzer hinter Datenschutzeinstellungen versteckt haben. Aber warum gibt es dann keine Debatte über die Design-Entscheidung dieser Dienste - angetrieben von einer kritischen Nutzerschaft?

Ist es völlig undenkbar, dass sich Konventionen etablieren, die eben doch so etwas wie einen privaten Kernbereich schützen können? Völlig unvorstellbar, über eine Algorithmen-Ethik nachzudenken, die die Kombination bestimmter Datensätze eben nicht ermöglicht? Sollten international vernetzte Bürger und Nutzer nicht in der Lage sein, Kontrolle über ihre Daten wieder einzufordern, statt vom NSA-Skandal und der Macht großer Internetdienstleister überwältigt in eine Schockstarre zu verfallen? Zumindest einmal den Versuch zu starten, ein internationales Abkommen zu verhandeln, das auch die Zivilgesellschaft mit einbezieht und dennoch nicht umgehend alle Chancen des Internets auf einmal killt?

Natürlich stehen die Chancen schlecht, dass sich Privatsphäre so wiederbeleben lässt. Versuchen sollte man es - denn die Risiken eines Post-Privacy-Freilandexperiments sind einfach zu hoch. Im Netz unbeobachtet und schwer identifizierbar agieren zu können, das ist eine gesellschaftliche Aufgabe, für die gestritten werden sollte.

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Meike Laaff

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