Die Details des Bösen

Für eine politische Bewertung von Gewalt reicht Empathie nicht aus
Foto: privat

Eines meiner schönsten Ehrenämter ist die Mitgliedschaft in der Evangelischen Filmjury. Die Umstände sind zwar etwas mühsam - einmal im Monat müssen wir uns auf den beengten Klappsitzen eines Frankfurter Programmkinos drei meist sozialkritisch anstrengende Arthouse-Filme anschauen. Aber insgesamt ist es natürlich toll und eine Ehre: Einmal im Monat darf ich mir drei neue Kinofilme anschauen, Wochen bevor sie ins Kino kommen!

Letztes Mal war ich allerdings kurz versucht, die Sitzung zu schwänzen. Denn auf dem Programm standen nur besonders „schwere“ Problemfilme, und einer davon klang ganz besonders bedrückend: „Die Ermittlung“, eine Adaption des gleichnamigen Theaterstücks von Peter Weiss, basierend auf Aufzeichnungen, Zeitungsartikeln und Protokollen des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses. Gesamtlänge des Films: 250 Minuten! 

Sollte ich mir wirklich an einem sonnigen Montag über vier Stunden Schilderungen über Folter, Demütigung, Grausamkeit antun? Weiß ich denn nicht schon alles über die Nazis und ihre Konzentrationslager? Mein Pflichtgefühl gewann jedoch die Oberhand, und was soll ich sagen - es ist einer der besten Filme, die ich in letzter Zeit gesehen habe. Für uns als Jury klar der „Film des Monats“ Juli. 

Zur rechten Zeit

Beim Auschwitz-Prozess in Frankfurt, von 1963 bis 1965, waren 22 Männer angeklagt, persönlich an den Morden im Konzentrationslager beteiligt gewesen zu sein. Die Anklageschrift umfasste 700 Seiten, 252 Zeugen und Zeuginnen wurden berufen, 75 Aktenbände mit Beweismaterial vorgelegt. Die Beweisführung war schwierig, denn nach damaliger Rechtsauffassung konnten Beschuldigte nur zur Rechenschaft gezogen werden, wenn ihre Taten auch schon im Nationalsozialismus strafbar gewesen waren. 

Der Dramatiker Peter Weiss hat den Prozess damals selbst im Gerichtssaal verfolgt und aus dem Geschehen ein Theaterstück destilliert. Bereits 1965 kam sein „Oratorium in 11 Gesängen“ auf die Bühne. Jetzt, fast sechzig Jahre später, hat Regisseur RP (Rolf Peter) Kahl daraus einen Film gemacht. Und, so muss man leider sagen, er kommt genau zur rechten Zeit.

Denn die Singularität des Holocaust wird zunehmend in Zweifel gezogen. Die Zeitzeug*innen von damals sind inzwischen fast alle tot, gleichzeitig herrscht auf der Welt noch immer so viel Leid, Tod und Verzweiflung, dass insbesondere Jüngere sich fragen, was ausgerechnet am Gemetzel der deutschen Nazis so speziell gewesen sein soll. Zum Beispiel werden im Zusammenhang mit dem aktuellen Krieg in Gaza werden immer wieder Parallelen gezogen zwischen dem Vorgehen des israelischen Militärs gegen Palästinenser*innen und dem, was Jüdinnen und Juden in Nazi-Deutschland erlitten haben. 

Angemessene Kriterien

Zu erklären, warum der Holocaust schlimmer war als andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit, hat immer einen schalen Beigeschmack. Es klingt, als wollte man das Leid anderer relativieren, nach „Whataboutism“, also dem Versuch, mit dem Verweis auf Auschwitz andere Gewalttaten zu rechtfertigen. Zu Recht tendiert unser spontaner menschlicher Impuls zu Empathie, und da ist jedes tote Kind eines zu viel. Das lässt sich nicht ins Verhältnis setzen. Jeder Verlust eines Menschenlebens ist unermesslich schlimm, und wenn jemand unter den Trümmern eines bombardierten Hauses stirbt, ist es für die Angehörigen überhaupt kein Trost, zu wissen, dass andere Menschen vor ihrer Ermordung auch noch gefoltert, entwürdigt und gedemütigt worden sind.

Für eine politische Bewertung und Verurteilung des „Bösen“ aber reicht Empathie nicht aus. Da ist  das genaue Hinsehen im Detail wichtig. Auschwitz ist keineswegs prinzipiell einzigartig, es ist gut möglich, dass so etwas wieder passiert, und auch nicht ausgeschlossen, dass dergleichen bereits passiert ist oder auch heute passiert, nur von uns unbemerkt. Bei der Rede von der „Singularität Auschwitz“ geht es nicht darum, dass man den Holocaust nicht vergleichen darf oder soll. Sondern es geht um die angemessenen Kriterien: Wie vergleicht und unterscheidet man verschiedene Arten von Grausamkeit? Welches Böse ist „holocaustmäßig“ böse, und welches nur „normal“ böse? Wie viele Schattierungen von Bösem sollten wir kategorial unterscheiden, was gehört in einen Topf und was nicht? Oder ist bereits eine solche Fragestellung zynisch?

Dass das nüchterne Herausarbeiten von verschiedenen Formen der Grausamkeit ganz und gar nicht zynisch ist, sondern notwendig, um Rassismus, Antisemitismus, Gewaltherrschaft und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zu analysieren, wird im Film „Die Ermittlung“ vorgeführt. Anders als ein empathischer Umgang mit Leid und Gewalt, bei dem die Perspektive des Opfers im Zentrum steht, erzwingt eine juristische Ermittlung sachlich, nüchternes Hinschauen, das ausschließlich auf die beweisbaren Fakten achtet. 

Grundlos getötet

Gerade weil sich „die Ermittlung“ jeder moralischen Bewertung verweigert, ist sie so eindrucksvoll: Wo genau haben Sie gestanden, als Sie die Selektionen an der Rampe beobachteten? Können Sie bezeugen, dass der Angeklagte persönlich die Foltergeräte bedient hat? Wo genau standen die Dosen mit Zyklon B? War es möglich, dass einige der Häftlinge nach zwei Tagen im Stehbunker noch am Leben waren?

Faschismus, so eine Definition des Historikers Robert Paxton, ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass es sich um eine Ideologie handelt, die Gewaltanwendung nicht rationalisieren muss, sondern zum Zweck an sich erklärt. Die Toten, die eine faschistische Ideologie produziert, sind nicht Kollateralschäden, die für ein höheres Ziel in Kauf genommen werden. Sie sind nicht einmal Opfer einer menschenverachtenden politischen Strategie wie bei einem Genozid. Sondern es sind Menschen, die letztlich grundlos getötet werden, und zwar auf brutalstmögliche Art und Weise. Einfach weil man es kann.

Überfordernde Zahlen

Das ist es, was die Singularität von Auschwitz ausmacht. Im Sommer 1944 haben die Nationalsozialisten allein in Auschwitz jeden Tag 20.000 Menschen vergast. Insgesamt sind allein an diesem Ort 1,1 bis 1,2 Millionen Menschen getötet worden, davon 950.000 Jüdinnen und Juden. Europaweit hat der Holocaust sechs Millionen jüdische Menschen das Leben gekostet, insgesamt sind in den von Deutschland besetzen Gebieten zehn Millionen Zivilist*innen ums Leben gekommen.

Diese Zahlen übersteigen die menschliche Vorstellungskraft. Erst recht übersteigt die Art und Weise ihrer Todesqualen die Grenzen normaler Empathiefähigkeit. 

Deshalb ist es wichtig, dass wir die Sache im Detail anschauen. Egal, wie viel wir glauben, darüber schon zu wissen. Schauen Sie sich also „Die Ermittlung“ an. Lassen Sie sich von den vier Stunden nicht abschrecken. Der Film kommt am 25. Juli ins Kino.

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