Mit allen Sinnen und vielen Geistern

Vielfalt prägt auch die religiöse Landschaft Brasiliens
Candomblé-Prozession zu Ehren Yemanj, der Gottheit des Meeres. Foto: dpa/ Jan Sochor
Candomblé-Prozession zu Ehren Yemanj, der Gottheit des Meeres. Foto: dpa/ Jan Sochor
Die religiöse Vielfalt Brasiliens entspricht dem Charakter des Landes als Schmelztiegel unterschiedlicher Ethnien. Es ist durchaus üblich, dass Anhänger afro-brasilianischer Religionen an christlichen Gottesdiensten teilnehmen oder praktizierende Katholiken sich einem spiritistischen Heilungsritual unterziehen. Franz Höllinger, Soziologieprofessor an der Universität Graz mit dem Arbeitsschwerpunkt Religionssoziologie, beschreibt die bunte religiöse Landschaft.

Lateinamerika ist im Bewusstsein der Europäer ein katholischer Kontinent. Die Begeisterung der Lateinamerikaner über die Wahl des ersten Papstes aus ihrem Kontinent hat diesen Eindruck erneut bestätigt. In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Hegemonie der katholischen Kirche jedoch in vielen Ländern Lateinamerikas in zunehmendem Maße in Frage gestellt. Dies gilt in besonderer Weise auch für Brasilien. Bei der Volkszählung 1960 deklarierten sich noch 93 Prozent der Brasilianer als Katholiken, 1990 war dieser Anteil bereits auf 83 Prozent zurückgegangen, 2010 lag er bei nur mehr 65 Prozent. Der Rückgang des Katholizismus ist in erster Linie auf die starke Ausbreitung pentecostalischer Kirchen, also der so genannten Pfingstbewegung, zurückzuführen, deren Anteil zusammen mit den so genannten historischen protestantischen Kirchen wie Lutheranern, Baptisten oder Adventisten mittlerweile bei deutlich über 20 Prozent liegt. Ein weiteres wichtiges Segment des religiösen Feldes in Brasilien sind die afro-brasilianischen Religionen Candomblé und Umbanda sowie die Spiritisten. Diese Religionen erreichen zwar nur eine relativ geringe Mitgliederzahl, zusammen etwa 2,5 Prozent der Bevölkerung. Die Zahl der Brasilianer und Brasilianerinnen, die die religiösen Angebote, vor allem die spirituellen Heilungsrituale dieser religiösen Gemeinschaften, bei Bedarf in Anspruch nehmen, liegt jedoch bei weitem höher.

Um den Wandel der religiösen Landschaft zu verstehen, hilft ein Blick auf die historische Entwicklung Brasiliens. Die religiösen Glaubensvorstellungen und Praktiken entwickelten sich aus einer Synthese der kulturellen Lebensformen der drei ethnischen Gruppen, aus denen sich die Kolonialgesellschaft zusammensetzte: den indianischen Ureinwohnern, den portugiesischen Kolonialherrn und den aus Afrika importierten Sklaven, die bis etwa 1840 den mit Abstand größten Teil der Bevölkerung ausmachten. Die militärische, ökonomische und politische Machtstellung erlaubte es den portugiesischen Kolonisatoren, den Katholizismus in den Rang einer Staatsreligion zu erheben und den Indios und afrikanischen Sklaven das Christentum zu oktroyieren. Angesichts der im Verhältnis zur Größe des Landes äußerst geringen Zahl an katholischen Priestern und Ordensleuten war es der Kirche jedoch nicht möglich, ihre christlichen Glaubensvorstellungen und Werte in der Bevölkerung zu vertiefen. Indios und Sklaven praktizierten unter der Oberfläche der offiziellen katholischen Religiosität, zum Teil auch an geheimen Plätzen abseits der Öffentlichkeit, weiterhin ihre ursprünglichen religiösen Rituale.

Synkretismus

Die synkretistische Vermischung zwischen Katholizismus, indianischer und afrikanischer Religiosität wurde auch dadurch gefördert, dass die Portugiesen in Brasilien - im Unterschied zu den britischen Kolonisten in Nordamerika - enge soziale Beziehungen und zahlreiche sexuelle Verbindungen mit den Indios und Schwarzen eingingen. Auf diese Weise entstand eine Volksreligiosität, in deren Mittelpunkt gemeinschaftliche Feste und die Verehrung wundertätiger katholischer Heiliger standen, in der jedoch magisch-spiritistische Glaubensvorstellungen und Praktiken indianischer und afrikanischer Herkunft gleichermaßen stark verankert waren.

Die Unabhängigkeit Brasiliens von Portugal, die Aufhebung der Sklaverei und der Übergang von der Kolonialwirtschaft zum modernen Agrar- und Industriekapitalismus schufen Ende des 19. Jahrhunderts Voraussetzungen für die schrittweise Entwicklung neuer Formen des religiösen Lebens. Mit der Ausrufung der Republik im Jahr 1889 wurde die enge Verbindung zwischen katholischer Kirche und Staat aufgelöst und die Ausübung anderer Religionen allmählich toleriert. Im Zuge der großen Einwanderungswellen aus verschiedenen Ländern Europas im Zeitraum von 1870 bis 1920 kam es zur Gründung einer Reihe von protestantischen Kirchen. Anfang des 20. Jahrhunderts entstand in den USA aus der Verbindung zwischen einer evangelikalen Erweckungsbewegung und der afro-amerikanischen Spiritualität der bereits erwähnte Pentecostalismus. Bereits wenige Jahre später brachten nordeuropäische und amerikanische Missionare diese Religion nach Brasilien, wo sie zunächst jedoch nur eine geringe Verbreitung fand.

Im selben Zeitraum entwickelte sich aus der Lehre des französischen Spiritisten Alain Allan Kardec die neue Religion der Spiritisten (Espíritas), die auch als "Kardecisten" bezeichnet werden. Die spiritistischen Gemeinschaften rekrutieren ihre Mitglieder vor allem aus der gebildeten weißen Mittelschicht und bieten auf dem Hintergrund des christlichen Ideals der Nächstenliebe spiritistische Heilungsrituale und sozial-karitative Dienste für ärmere Bevölkerungsgruppen an. Aus einer Synthese zwischen dem "weißen" Spiritismus, der afro-brasilianischen Spiritualität des Candomblé und Elementen des Christentums entstand schließlich um 1920 die neue Religion Umbanda.

Sprituelle Entitäten

Ab den Sechzigerjahren gingen aus den ursprünglichen Pfingstkirchen zahlreiche neo-pentecostalische Kirchen hervor, die durchwegs von Brasilianern gegründet wurden und sich stärker als ihre Vorgänger an den religiösen, sozialen und kulturellen Bedürfnissen der brasilianischen Bevölkerung orientieren. Die Pfingstkirchen sprechen vor allem jene Bevölkerungsschichten an, die infolge der rapiden Urbanisierung in den neuen Großstädten in prekären Verhältnissen leben und in den spirituellen Heilungsritualen und strikten Moralvorschriften dieser Kirchen Hilfestellungen zur Bewältigung ihres Alltags finden. Es gibt Anzeichen dafür, dass der Pentecostalismus in Lateinamerika die Entwicklung einer disziplinierten Lebensweise und eines "kapitalistischen Geistes" in ähnlicher Weise begünstigt, wie das nach Ansicht Max Webers bei den protestantischen Kirchen in Europa und den USA der Fall war.

Die mangelnde Fähigkeit und Bereitschaft der katholischen Kirchenhierarchie, auf die sozialen und religiösen Bedürfnisse der neuen städtischen Bevölkerungsschichten einzugehen, hat auch innerhalb der katholischen Kirche zwei bedeutende Reformbewegungen auf den Plan gerufen: Zum einen die katholische Befreiungstheologie und die kirchlichen Basisgemeinden, deren sozialer Aktivismus in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle für die Überwindung der Militärdiktatur, die Demokratisierung der Gesellschaft und die Verbesserung der Lebensbedingungen der verarmten Unterschichten spielte; zum anderen die katholische charismatische Erneuerungsbewegung, die die Expansion der Pfingstkirchen durch ähnlich geartete religiöse Angebote einzudämmen versucht, sich aber stärker an die städtischen Mittelschichten wendet. Während die Zahl der Aktivisten der kirchlichen Basisgemeinden seit dem Ende der Militärdiktatur stark zurückgegangen ist, finden die ekstatische Religiosität und die Heilungsrituale der charismatischen Erneuerungsbewegung bei einem erheblichen Teil der Katholiken nach wie vor großen Anklang.

Das religiöse Leben in Brasilien weist einige Merkmale auf, die sich - mit Ausnahme der kleinen Minderheit der europäisch ausgerichteten protestantischen Kirchen und der katholischen Basisgemeinden - in allen Bereichen des breitgefächerten religiösen Spektrums auffinden lassen. Das erste Merkmal ist der Glaube, dass es außer Gott eine Reihe weiterer spiritueller Entitäten gibt, die auf das Leben der Menschen einen positiven oder negativen Einfluss haben können. Im Bereich des Katholizismus sind dies die Heilige Maria und die Volksheiligen, aber auch ein spiritueller Kosmos von Engeln, Dämonen und anderen Geistwesen. Beim Candomblé sind es die afrikanischen Gottheiten (Orixás), in der Umbanda-Religion die Geister von verstorbenen Indios und afrikanischen Priestern, bei den Spiritisten die Geister von spirituell hochentwickelten Persönlichkeiten und ehemaligen Wunderheilern. In den Pfingstkirchen und in der katholischen charismatischen Erneuerung glaubt man insbesondere an die Kraft des Heiligen Geistes, aber auch an Dämonen und andere Geister, die in Opposition zu den göttlichen Mächten stehen.

Magische Rituale

Der Glaube an spirituelle Geistwesen ist aufs Engste mit einem zweiten Merkmal der brasilianischen Religiosität verbunden, der zentralen Bedeutung von magischen und Tranceritualen, durch die die Gläubigen eine Verbindung zur spirituellen Welt herstellen. Am direktesten ist diese Verbindung bei den afro-brasilianischen Religionen, da die Gläubigen hier im Zustand der Trance die Empfindung haben, von einer Gottheit oder von einem Geistwesen "besessen" zu sein. Dies beginnt meist mit konvulsiven Bewegungen, die in rituelle Tänze und symbolische Gesten übergehen, in denen die "Besessenen" die charakteristischen Attribute des spirituellen Wesens nachahmen, von denen sie in Besitz genommen wurden. Aber auch bei den Tranceritualen der Spiritisten, der Pfingstkirchen und der Charismatischen Erneuerung erleben Gläubige die Präsenz von Geistern und Dämonen und die überwältigende Kraft des Heiligen Geistes als unmittelbar körperlich wahrnehmbare Erfahrung.

Sowohl die magischen Rituale der Volksreligiosität als auch die spirituellen Trancerituale werden in Brasilien sehr häufig für die Behandlung körperlicher und psychischer Krankheiten und als Hilfestellung zur Bewältigung persönlicher Probleme wie Arbeitslosigkeit, Alkoholismus und familiäre Konflikte eingesetzt. In Brasilien gibt es nach wie vor eine große Zahl an Spezialisten für magische und spirituelle Praktiken, die sowohl in den religiösen Institutionen als auch außerhalb dieser als spirituelle Meister, Medien und Wunderheiler ihre Dienste anbieten. Durch die wechselseitige Verstärkung zwischen dem Charisma der Heilenden und dem Glauben der Klienten an die Existenz spiritueller Wesen und Heilkräfte haben viele Menschen die Empfindung, dass das Heilungsritual tatsächlich eine Besserung ihres körperlichen und psychischen Zustands bewirkt.

Mit der Empfindung, selbst von einer Krankheit geheilt oder Zeuge einer Heilung geworden zu sein, findet der Zyklus aus Glaube, Erwartung, Erfüllung und Bestätigung des Glaubens seine Fortsetzung. Die Fähigkeit vieler Brasilianer und Brasilianerinnen, spirituelle Phänomene körperlich-sinnlich wahrzunehmen, ist sicherlich einer der wesentlichen Gründe dafür, warum die Religiosität in Brasilien trotz der voranschreitenden Modernisierung des Landes und der damit verbundenen Verbesserung der Lebensbedingungen unvermindert stark bleibt. Nach den Ergebnissen einer Befragung des International Social Survey Programms aus dem Jahr 1998 beten etwa drei Viertel der Brasilianer täglich. Sogar die Hälfte derer, die keiner Religionsgemeinschaft angehören, gab an, täglich zu beten.

Multiple religiöse Identität

Ein letztes Merkmal der religiösen Kultur Brasiliens, das hier hervorgehoben werden soll, ist die multiple religiöse Identität. Infolge der mehrere Jahrhunderte lang andauernden Prägung der brasilianischen Kultur durch den Katholizismus fühlen sich die meisten Brasilianer auch heute noch bestimmten Glaubensvorstellungen und Grundwerten des Christentums in mehr oder minder starkem Maße verbunden. So wie in der Zeit der Kolonialherrschaft glauben aber auch heute noch viele Menschen nicht nur an den christlichen Gott, sondern auch an eine Vielzahl anderer spiritueller Entitäten, seien es die katholischen Volksheiligen, Orixás, Engel, Dämonen und andere Geistwesen, die den Menschen zum Teil wohlwollend, zum Teil feindlich gesinnt sind. Dementsprechend ist es in Brasilien durchaus üblich, dass Mitglieder einer Candomblé- oder Umbanda-Gemeinschaft auch an katholischen Gottesdiensten und Festen teilnehmen; noch viel häufiger kommt es vor, dass sich praktizierende Katholiken einem afro-brasilianischen oder spiritistischen Heilungsritual unterziehen.

Auch die Pfingstkirchen greifen die traditionellen Glaubensvorstellungen und Heilungsrituale in ihren Gottesdiensten auf; allerdings fordern sie ihre Mitglieder dazu auf, die alte Welt der afrikanischen "Dämonen" und des katholischen Heiligenkults hinter sich zu lassen, ausschließlich den christlichen Gott zu verehren und ihr Leben im Sinne der protestantischen Moralvorschriften zu führen. Die "Brasilianisierung" des Pentecostalismus und das Vorhandensein zahlreicher religiöser Anbieter, die oft auf engstem Raum um Mitglieder konkurrieren, führen aber dazu, dass auch die Pfingstkirchen in das System des "religiösen Wanderns" einbezogen werden, das in Ostasien schon immer sehr verbreitet war und im esoterisch-spirituellen Milieu nun auch in Europa üblich wird.

Literatur

Andrew Chesnut: Competitive Spirits. Latin America's New Religious Economy. Oxford University Press, New York 2007, US$ 32, 44.

Franz Höllinger: Religiöse Kultur in Brasiliens. Zwischen traditionellem Volksglauben und modernen Erweckungsbewegungen. Campas Verlag, Frankfurt/Main 2007, Euro 32,90.

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Franz Höllinger

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