Barmherzigkeit

Wer hilft den Menschen auf der Flucht?
Wenn über Flüchtlinge geredet wird, geht es oft um Zahlen. Dabei geht es immer auch um persönliche Schicksale.

Als Berliner Bischof hatte ich viele Begegnungen mit Flüchtlingen. Jedes Mal, wenn ich Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem Balkan begegnete, hieß die Frage, was in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo geschehen müsse, damit sie ohne Furcht in ihre Heimat zurückkehren könnten. Jedes Mal, wenn ich einer Gruppe von unbegleiteten Jugendlichen aus Afrika gegenübersaß, ging es darum, wann sie endlich in Deutschland mit einem gesicherten Aufenthaltsrecht eine Ausbildung durchlaufen und eine Arbeit aufnehmen dürften.

Alle Flüchtlinge über einen Kamm zu scheren, hat keinen Sinn. Auch die übliche Unterscheidung zwischen Asylbewerbern, die wegen der Verletzung ihrer Menschenrechte zu uns kommen, und Wirtschaftsflüchtlingen, die nur an unserem Wohlstand teilhaben wollen, trifft die Wirklichkeit häufig nicht. Ist Mohamed Doré, dessen hier veröffentlichter Lebensbericht einem die Tränen in die Augen treiben kann, ein Wirtschaftsflüchtling? Auf der Suche nach Arbeit hat er seinen Heimatort verlassen. Auf der Suche nach Brot schlief er unter Marktständen und Güterwaggons. Tagelang fehlte ihm sogar Wasser. Ein "Wirtschaftsflüchtling"? Der unbeugsame Lebenswille eines Jugendlichen lässt ihn den Strohhalm suchen, an dem er sich aufrichten kann.

Der barmherzige Samariter in diesem ergreifenden Bericht ist ein Marokkaner, der in einem Landcruiser durch die Wüste fährt. Unter die Räuber war Mohamed nicht gefallen; aber er war von marokkanischen Polizisten in der Wüste ausgesetzt worden. Wenn einer nichts zu essen hat und auch das Wasser zur Neige geht, kommt das auf das Gleiche hinaus. Hätte der barmherzige Marokkaner sich seiner nicht angenommen, wäre sein Weg in der Wüste qualvoll zu Ende gewesen. Auch eine solche Tat der Nächstenliebe sollte nicht vergessen werden, wenn wir fragen, wie Mohameds Weg weitergeht. Wenn es um Flüchtlinge geht, ist zumeist von Zahlen die Rede. Die mit diesen Zahlen verbundene Herausforderung ist groß; doch darf dabei nicht in Vergessenheit geraten, dass es sich um persönliche Schicksale handelt, um Lebenswege, die auf vielfältige Weise verstörend sein können.

Dass Gott selbst ein menschliches Antlitz annimmt und uns in einem individuellen menschlichen Schicksal begegnet, ist das weihnachtliche Wunder, auf das sich der christliche Glaube gründet. Unterwegs kommt dieses Kind zur Welt; nach der biblischen Legende muss seine Familie mit dem Neugeborenen fliehen, um sein Leben zu retten. Dieses weihnachtliche Wunder weckt unser Mitgefühl für das Schicksal von Menschen auf der Flucht. Das politische Bemühen in Kommunen, Ländern und dem Bund, der wachsenden Zahlen Herr zu werden, verdient genauso Respekt wie der Beitrag, den die Diakonie und andere Wohlfahrtsverbände zur Aufnahme von Flüchtlingen leisten. Dass die Justiz Missbrauch abwehren muss, um für die Menschlichkeit Raum zu schaffen, ist anzuerkennen. Aber auch vom Staat gilt, was Jesus vom Sabbat sagt: Er ist um des Menschen willen da, nicht umgekehrt. Wird die lange Irrfahrt von Mohamed Doré ein gutes Ende finden?

Wolfgang Huber war Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und Ratsvorsitzender der EKD. Er ist Herausgeber von zeitzeichen.

Wolfgang Huber

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