Jeder für jeden gleich nackt

Die Post-Privacy-Welt braucht keinen Datenschutz
Foto: privat
Unseren Lippenbekenntnisse zur Privatsphäre steht unser überschäumendes Kommunikationsbedürfnis entgegen, das im Netz starke Ventile findet und deren Ausbau vorantreibt.

Soweit "Privatsphäre" das Vermögen bezeichnet, Kernbereiche unseres Lebens der Neugier Nicht-Vertrauter zu entziehen, soweit löst sie sich gerade auf. Dieser so genannte Post-Privacy-Trend wird durch die moderne Informationsgesellschaft und ihre Technologien angeheizt. Immer mehr, auch traditionell Intimes, tun wir über oder im Sog von Maschinen, die unablässig Daten über uns speichern, auswerten, vergleichen, verbreiten.

Die Webseiten, die wir als Informationsquelle oder zum Einkaufen nutzen, protokollieren und analysieren unser Verhalten ebenso wie unsere Handys, E-Book-Reader, Kredit- und Rabattkarten, Autos - und bald (wie die Google-Brille ankündigt) auch unsere Kleidung. Der Austausch zwischen diesen Diensten und Geräten führt zu immer tiefergreifenden Schlüssen über unsere Vorlieben, Sorgen, Krankheiten, Umfelder, Vergangenheiten und zu erwartenden Zukünfte. Aus dem wachsenden Datenwissen bedienen sich Unternehmen, Behörden, Hacker und viele mehr - oft mit einer Skrupellosigkeit weit über den allgemeinen Erwartungen.

Enthüllungen zu ge- heimdienstlichen Überwachungsprogrammen wie PRISM, Datenschutzvergehen von Facebook & Co. oder so genannte Leaks, also Lecks, vermeintlich sicherer Datenbanken von Staaten und Unternehmen werden Alltag. Viele Menschen empören sich darüber, aber nur wenige genug, um Lernzeit in Verschlüsselungstechniken zu stecken oder Facebook und Google aufzugeben. Immer mehr Menschen entblößen sich immer freizügiger im Netz. Unseren Lippenbekenntnisse zur Privatsphäre steht unser überschäumendes Kommunikationsbedürfnis entgegen, das im Netz starke Ventile findet und deren Ausbau vorantreibt. Post-Privacy rührt zu einem guten Teil aus unseren eigenen Neigungen und Interessen.

Bereicherungen

Datenschützer erklären die zunehmende Durchsichtigkeit unseres Lebens zum Verlust - von Freiheit, Menschenwürde und Individualität. Vieles am Post-Privacy-Trend kann aber auch Bereicherung genannt werden: die Teilhabe am Netz und seinen Diensten; die Steigerung der Kommunikation miteinander; die Verknüpfung unserer Denk-, Gedächtnis- und Entscheidungsvorgänge mit den Möglichkeiten künstlicher Intelligenzen und digitaler Gedächtnisse, in die die Daten von und über uns einfließen. Gerade bei Facebook & Co. organisieren sich weltweit Demokratisierungs-Bewegungen. Neue Wege, sich vor Weltpublikum Gehör zu verschaffen, stärken Nischengruppen, Rand-Identitäten, bringen eher mehr als weniger Vielfalt in die Öffentlichkeit. Unsere Post-Privacy-Welt könnte kaum verschiedener sein von dem repressiven Überwachungsstaat aus George Orwells oft warnend zitiertem Roman "1984", worin alle Verschiedenheit ausgelöscht und das Leben aufs Allerknappste und -primitivste niedergedrückt wird.

Vom Futuristen David Brin stammt ein Orwell-Gegenentwurf, an dem wir uns vielleicht eher orientieren sollten: die "Transparent Society". Auch hier ist Überwachungstechnik omnipräsent. Aber sie dient nicht einem einzelnen "Big Brother", sondern liegt in den Händen aller: Jeder ist für jeden gleich nackt. Auch Macht kann so nur noch transparent agieren, wird in ihren Anmaßungen kritischer beäugt und gehemmt. Jeder Überwachung folgt Gegen-Überwachung. Ansätze hierzu gibt es schon: die Dokumentation und Hinterfragung von Polizeigewalt über Handy-Videos auf YouTube; die Leaks von Manning und Snowden zur Außen-, Kriegs- und Geheimdienstpolitik der USA. Für Brin entsteht so eine vergleichsweise demokratische Machtbalance. Entwickeln wir uns zu einer Überwachungsgesellschaft, dann ist Brins Variante der von Orwell sicher vorzuziehen. Können wir unsere eigene Entblößung nicht verhindern, dann müssen wir wohl dafür kämpfen, dass die Entblößung allen gleichermaßen gilt.

Zwischenüberschrift

Mit einer Post-Privacy-Welt gehen viele neue Gefahren einher, und Zusammenbrüche vieler bisheriger Strategien für unser Lebenswohl. Aber mit den neuen Herausforderungen kommen auch neue Chancen. So kann eine besser informierte Gesellschaft auch eine aufgeklärtere werden und eine Steigerung der Kommunikation untereinander gegenseitiges Verständnis befördern. Eine solche positive Widmung des Wandels erfordert aber viel Arbeit - etwa für eine tolerantere Umwelt, die es aushält, dass vormals Tabuisiertes ans Tageslicht gerät. So werden wir gezwungen, ehrlicher und offener miteinander umzugehen - oder als Gesellschaft auseinanderzubrechen, weil wir unsere zu Tage tretenden Differenzen nicht ertragen. Können wir Post-Privacy nicht aufhalten, müssen wir alle Kraft einsetzen, um die Welt, in die sie eintritt, auf sie vorzubereiten.

Christian Heller ist Blogger und Autor des Buches "Post Privacy - Prima leben ohne Privatsphäre". C. H. Beck, München 2011, 174 Seiten, Euro 12,95.

Christian Heller

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