Das rechte Maß

Wachstum garantiert kein Lebensglück
Foto: Dominik Butzmann
Wir brauchen einen neuen, alternativen Indikator, der gesellschaftlichen Fortschritt misst.

"Du sollst es einmal besser haben!" Dieser Wunsch wird weitergegeben von Generation zu Generation. Wir wollen, dass unsere Kinder besser oder wenigstens genauso gut leben werden wie wir. Doch können wir dieses Versprechen heute noch halten? Es ist absehbar, dass der weltweite Ressourcen- und Energieverbrauch so nicht weitergehen kann. In Zeiten der dreifachen Krise - Wirtschaft, Finanzen und Klima - mehren sich Zweifel an der Logik des "höher, schneller, weiter". Vielmehr stellen wir fest: Wir werden in Zukunft mit weniger auskommen müssen - auch wenn dieses Weniger im globalen Maßstab immer noch sehr viel sein wird.

Was heißt das? Wie gut wird es uns gehen? Ich bin sicher, ein gutes Leben ist nicht einfach an das Wirtschaftswachstum gebunden. Immer nur mehr (in der Tasche) zu haben, macht auf Dauer nicht glücklich. Für das Wohlbefinden scheinen mir ganz andere Dinge eine Rolle zu spielen: Freizeit, Zeit zum Beispiel für Freunde und Hobbys, Teilhabe an Kultur und Genuss. Arbeitsverdichtung und Druck am Arbeitsplatz, welche oft mit Wachstumszwängen begründet werden, stehen dem entgegen. Und viele Menschen sind nicht mehr bereit, für noch mehr ökonomischen Erfolg diese Momente eines zufriedenen Lebens zu opfern.

Der Maßstab des Wirtschaftswachstums anhand des Bruttoinlandproduktes sagt überhaupt nichts darüber aus, wie lebenswert oder zukunftsfähig eine Gesellschaft ist. Wir brauchen einen neuen, alternativen Indikator, der gesellschaftlichen Fortschritt misst.

Spannend ist zum Beispiel das Ergebnis, wenn in Schleswig-Holstein der regionale Wohlfahrtsindex erhoben wird. In dem nach herkömmlichen Maßstäben "strukturschwachen" Bundesland sind die Menschen überdurchschnittlich glücklich! Das Wirtschaftswachstum mag gering sein, aber der Wohlfahrtsindex ist hoch. Denn hierbei werden auch der Umfang des ehrenamtlichen Engagements, öffentliche Ausgaben für die ökologische Transformation der Wirtschaft, aber auch die Verschmutzung von Wasser, Boden und Luft gemessen.

Das Themenjahr der Lutherdekade 2014, das am kommenden Reformationstag eröffnet wird, steht unter der Überschrift "Reformation und Politik". Eine gute Gelegenheit, sich auch mit den Fragen von Wachstum, dem rechten Maß, mit dem, was wirklich wichtig und was gerecht ist zu beschäftigen. Die Frage der Verteilung knapper werdender Güter steht ganz oben auf der Agenda, wenn wir über Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit sprechen. Wir müssen über unsere eigene Verantwortung nachdenken. Über unseren Fleischkonsum, der Lebensräume zerstört am anderen Ende der Welt. Über die Klamotten in unserem Schrank, für die wir nicht genug bezahlt haben, um der Näherin in Bangladesch fairen Lohn zu sichern. Wir müssen im Kleinen und vor Ort beginnen, aber auch auf das große Ganze schauen. Gemeinsam müssen wir in der Gesellschaft beginnen, neu zu denken und Neues zu denken. Ja, wir brauchen visionären Überschuss auf dem neuen Weg hin zu einem guten Leben für uns und für die, die es einmal genauso gut haben sollen wie wir.

Katrin Göring-Eckardt ist Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages.

Katrin Göring-Eckardt

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