In kleinern Gaben belebend

Anmerkungen zur Ambivalenz von Weinseligkeit und überhaupt jeden Rausches
"Gegen die Rippen tretend des Unseligen, / Riss sie heraus die Schulter ...". Lovis Corinth: "Bacchanale", 1896. Foto: akg-images
"Gegen die Rippen tretend des Unseligen, / Riss sie heraus die Schulter ...". Lovis Corinth: "Bacchanale", 1896. Foto: akg-images
Lässt man sich auf die kulturgeschichtliche Dimension gängiger Weinseligkeits-Euphemismen ein, stößt man nicht nur auf milde Heiterkeit und friedvolle Humanität.

Im April des Jahres 1731 bot sich den erstaunten Bürgern Potsdams ein bizarres Schauspiel: Ein kurioser Leichenzug bewegte sich durch die Stadt, ein Weinfass diente als Sarg. Der Verstorbene war zuvor, närrisch kostümiert, in diesem Fass ausgestellt worden. Man wusste, um wen es sich handelte, nämlich um den Hofhistoriker Jacob Paul Gundling, und man wusste: Diese Zeremonie hatte seine allergnädigste Majestät, König Friedrich Wilhelm I., genannt der Soldatenkönig, veranlasst. Für den verblichenen Gundling waren Jahre des Martyriums vorangegangen: Im wöchentlich stattfindenden Tabakskollegium war er regelmäßig unter Alkohol gesetzt worden, um als komische Figur dem fortwährenden Amüsement der Teilnehmer zu dienen. Einmal im Leben hatte er versucht, dem zu entkommen, er war ins "Ausland" zu geflohen, doch der König hatte Mittel und Wege gefunden, ihn gewaltsam zurückzuholen. Anschließend hatte er jahrelang neben dem bereits als Sarg vorbereiteten Fass schlafen müssen.

Besagter König, der berühmteste Choleriker der deutschen Geschichte, war ein Mann arbeitsamer Pflichterfüllung und bescheidenster Lebensführung, doch allem Musischen und Intellektuellen abhold, - nicht aber einem deftigen Spaß. Gundling war der Leidtragende. Wem zum kollektiven Vergnügen übel mitgespielt wird, hat die sprichwörtliche gute Miene zu machen, "versteht er keinen Spaß", verschlechtert das seine Lage; in dieser Hinsicht kennen Spaßvögel keinen Spaß.

Es kommt darauf an.

Die triste Aufführung dementiert die gern kolportierte Behauptung, Weingenuss fördere ganz allgemein die Humanität, inspiriere gar zu geistigen Aufschwüngen. Es sei denn, man will entschuldigend darauf verweisen, dass die Tabakskollegen sich auch große Quanten Biers zu Gemüte führten, jenes Getränks, dem Bacchus-Jünger bis auf den heutigen Tag vorwerfen, zu Dumpfheit und Brutalität zu motivieren.

Aber jenseits aller folkloristischen oder wissenschaftsgestützten differenzierenden Einschätzung "geistiger" Getränke bleibt die Erkenntnis: die Folgen jeden Alkoholgenusses sind unberechenbar, mag auch die gefällige Faustregel des Kleinen Brockhaus ihre Berechtigung haben: Geistige Getränke "wirken in kleinern Gaben erregend und belebend, in größern berauschend und betäubend". Es kommt eben darauf an - dieser Satz ist von makelloser Evidenz. Ohne Ausführungsbestimmungen taugt er freilich zu keiner Nutzanwendung.

Auch der alte Goethe wurde da nicht viel genauer: "Es liegen im Wein allerdings productivmachende Kräfte sehr bedeutender Art; aber es kommt dabei Alles auf Zustände und Zeit und Stunde an, und was dem Einen nützet, schadet dem Andern" (gegenüber Eckermann am 11. März 1828). Er musste es wissen, denn für ihn war der Wein im wahrsten Sinne des Wortes ein Lebenselixier: Bei seiner Geburt sei er schon schwarz angelaufen gewesen, man habe ihn zur erfolgreichen Belebung in eine Gefäß mit Wein getaucht. Folgerichtig also, dass er zu einem der großen Weintrinker der Geistesgeschichte wurde. Seinem Ideal gemäß hielt er hierin Maß, wenn auch, wie anders bei diesem großen Mann, dieses kein bescheidenes war, er rechnete mit zwei Litern zum eigenen Gebrauch pro Tag.

Die Griechen und der Wein

Das Streben nach dem rechten Maß bildete den Dreh- und Angelpunkt aller antiken und neuzeitlich-klassischen Welt- und Lebensmeisterungsstrategien. Für die deutschen Klassiker war die Reformulierung der Renaissance-Antikenverehrung nicht selbstverständlich, denn dazu musste die traditionelle Begrenzungsrhetorik gegenüber sündhaftem Laster durch die Einsicht ersetzt werden, dass man der rauschhaften Seite des Menschen nicht durch Unterdrückung Herr wird. Auf diesem Wege war man schon im 18. Jahrhundert vorangegangen, indem man die leichte, heitere Seite des Rausches gegen alle Sündenpredigt entdeckte: nämlich mit der Lyrikwelle der Anakreontik, auf der auch Goethe in seiner Jugendzeit dann und wann surfte. Wer immer das sonst noch tat, fühlte sich damit in der Nachfolge des altgriechischen Lyrikers (6. Jahrhundert v. Chr.) Anakreon, der mit seinen Wein-, Weib- und Gesang-Gedichten schon zu seiner Zeit zum Vorbild wurde.

Die Griechen und der Wein: Hier stoßen wir auf den Urgrund des Weinkults, Blicke in Abgründe inklusive: Die altgriechischen Feste zu Ehren des Weingotts Dionysos waren keine Schunkelveranstaltungen à la Rüdesheimer Drosselgasse, sondern handfeste Orgien. Schon die (auch in anderen Varianten erzählte) Geschichte des Dionysos klingt bedenklich: Er sei von Zeus mit einer Menschin gezeugt, von dessen Gattin Hera gehasst, auf deren Anstiftung von Titanen zerrissen, gekocht und verzehrt worden. Der erstaunlich zivilisatorisch anmutende Akt des Garens wurde im Kult bald aufgegeben. In ihm war eher die Erinnerung an einen allzu neugierigen König von Theben namens Pentheus gegenwärtig. Der habe sich ungebeten einem Dionysosfest von ekstatischen Frauen genähert, sei entdeckt worden und unter Anführung seiner eigenen Mutter getötet - "Gegen die Rippen tretend des Unseligen, / Riss sie heraus die Schulter ..." (Euripides) - und auf der Stelle roh verzehrt worden.

Die späteren Mänaden oder Bacchantinnen begnügten sich, wenn sie außer Rand und Band gerieten, ein Ziegenböcklein zu zerreißen und zu verschlingen, "dürstend nach / Blut des getöteten Böckleins, nach rohem Genusse", weshalb sie auch die Onophagen, Rohesser, genannt wurden, nicht zu verwechseln mit modernen Rohköstlern.

Dionysos war einer der chthonischen (= der Erde zugehörigen) Götter, verwandt mit Hades, dem Gott der Unterwelt. Zugleich war er ein Fruchtbarkeitsgott; die ihm gewidmeten Feiern standen auch im Zeichen sexueller Ausschweifung, und: die bestimmenden Akteure waren Frauen.

In die Arme des Rausches

Rund zwei Jahrtausende später, in der preußischen Soldatenrunde, waren Frauen nicht zugelassen. Von fruchtbarkeitsorientiertem Sex keine Spur. Man begnügte sich, männerritualistisch die Sau 'rauszulassen. Dennoch sei die These gewagt, jene preußischen Herrenbelustigungsabende, an denen der flüchtige historische Blick nur noch eine gewisse Dumpfbackigkeit zu erkennen vermag, ließen sich als ferne Verwandte jener antiker Feste identifizieren.

Zwar sind in ihnen die einstigen Bacchanalien kaum mehr wiederzuerkennen. Offenbar sind sie auf dem Weg von arkadischen Landschaften unter azurnem Himmel ins nördliche Nebelreich zu einer Form degeneriert, die, Bacchus sei's geklagt, wohl immer noch nicht ganz ausgestorben ist. Doch selbst in solchen Entstellungen lässt sich ein gemeinsamer Nenner erkennen: Er liegt in der unausrottbaren Neigung des Menschen, sich in die Arme des Rausches zu werfen und darin offenbar Erholung von der mühsamen Anspannung zu finden, nicht nur einfach Mensch, sondern Kulturmensch zu sein.

Den Griechen galt das Dionysische nicht etwa als der Urgrund der Kultur, sondern als das, was im Keller darunter west und alle Kultur bedroht. Das kulturschaffende, kulturtragende Element war das immer anzustrebende Ideal des Maßes, einer glücklich eingehaltenen Mitte. Vorgestellt wurde es durch den Gott Apoll, im obsessiven Kult des schönen Körpers wurde es symbolisiert und vor Augen gestellt.

Nietzsche und das Appollinische

Ausschweifend-orgiastische Feste waren keine griechische Spezialität, sie fanden sich in allen alten Kulturen. Das Griechisch-Eigene war gerade das Gegenteil: Das Apollinische. Nur für die Griechen, so stellte es Friedrich Nietzsche in seiner frühen Schrift "Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik" (1872) dar, münde das periodisch auftretende Hochkochen der chthonischen Neigungen des Menschen in einem Kampf mit den Idealen des Apoll; nur in dem immer wieder zu erringenden Ausgleich zwischen beiden sei die höhere Kultur der Griechen begründet - und, so die Folgerung, alle höhere Kultur.

Die von Nietzsche behauptete duale Struktur der Kultur zu untermauern, fällt nicht schwer, eher schon, sie zu leugnen. Da, wo Nietzsche herkam, aus einem evangelischen Pfarrhaus, bürgerlich-protestantisches Milieu der sächsischen Provinz, hieß die diskrete Lizenz, an Rauschzuständen wenigstens zu nippen: "Ein Gläschen in Ehren". Gesellschaftliche Tugendpflicht gebot, unabhängig von der tatsächlichen Zahl genossener Gläschen, die Maske der Nüchternheit nicht verrutschen zu lassen. Geistliche beider Konfessionen lagen in ständigem Kampf gegen die dunklen dionysischen Kräfte alias Sünde, sie waren die Deichgrafen, die gegen die stets zu fürchtende Überflutung für die Instandhaltung der Dämme zu sorgen hatten.

Im Fin de siècle hatte man gerade in Künstler-, Intellektuellen- und Schriftstellerkreisen die alten Tugendpredigten und Wohlanständigkeitszwänge gründlich satt. Nietzsche kam da gerade recht. Das Dionysische, so verstanden sie seine Botschaft, bedeutet nicht nur Wiedereinsetzung der Sinnlichkeit in ihr Recht, sondern auch die Kraft, abzuräumen, was menschlicher Kunst-, Ordnungs- und Disziplinierungswille an abgestorbenem Kulturschutt angehäuft hatte.

Die Brüder Mann

Nietzsches Wirkung auf die Literatur und die bildende Kunst seiner Zeit war durchschlagend, sie ist einer der Schlüssel zum Geistesleben bis weit ins Zwanzigste Jahrhunderts. Genannt seien die Brüder Mann als zwei Beispiele von ungezählten: Heinrich Mann schuf, noch bevor er seine zeitkritischen Bücher schrieb, Romane zum Ruhme des als Typus begriffenen Renaissancemenschen; in Thomas Manns Werk trat jene Dualität als das unaufhebbar Tragische auf (in dessen Rahmen sich wohl auch sein eigener unausgelebter Konflikt mit der eigenen Homosexualität introspektiv bewältigen ließ).

Natürlich wäre Thomas Mann nicht er selbst, hätte er nicht immer wieder das Tragische solcher Konflikte auf die Schippe seiner Ironie genommen: etwa wenn der pompös auftretende Mynheer Peeperkorn (alias Gerhart Hauptmann) im Zauberberg nach reichlichem Genuss "flüssigen Brotes" - vulgo Schnaps - endlich bei seiner Lebensbeichte gegenüber dem jungen Adepten Hans Castorp, in der er dem von den Qualen jener Dualität in eigener Brust berichtet, mit "wirklichem Durst" Rotwein in sich hineinstürzt.

Ein Missverständnis wäre es, diese Schilderung nur als eine Bosheit gegenüber dem sich als "Goethe redivivus" gerierenden Kollegen zu verstehen. Vielmehr demonstrierte Mann hier das "in vino veritas" als die Einsicht, dass das, was die gelöste Zunge verlauten lässt, interpretationsbedürftig ist. Auch im wahren Wort bleibt die Wahrheit verborgen, wer wüsste das besser als wir Christen.

Der Rausch der Masse

Etwas anders liegen die Dinge beim großen Kollektivrausch. Der massenhafte Zusammenschluss wirkt selbst als Rauschmittel. Was im Kleinen beginnt, steigert sich mit der Erhöhung der Dosis - bis zu dem Punkt, wo das Kollektiv sich anschickt, mit den Normen zu brechen, die bisher eine schlechte Normalität sicherten. Keine Revolution ohne Rausch: Diese Erkenntnis liegt vor aller weltanschaulichen oder moralischen Wertung. Verglichen mit noch so orgiastischen dionysischen Festen mit ihrem apollinischen Widerlager ("es kommt dabei Alles auf Zustände und Zeit und Stunde an, " - Goethe) potenzieren sich im revolutionären Massenrausch die Chancen für einen gesellschaftlichen Neuanfang ebenso wie die zu nicht kontrollierbaren Gewaltexzessen ("da werden Weiber zu Hyänen" - Schiller).

Überhaupt sind kollektive politische Räusche nicht selten solche der üblen Art - siehe Deutschland zur Zeit des Nationalsozialismus. In ihnen wird das Dionysische als Generaldispens von jeder Verpflichtung zur Wahrung der Humanität propagiert und weidlich genutzt. Die Folge: das Tohuwabohu (das "Wüste und Wirre") - auch dies eine Rückkehr zu den Ursprüngen, wenn auch eine blasphemische.

Die Moral: Das Dionysische, der menschliche Hang zu Rausch und Ekstase, bleibt auch da, wo der Wein und seine Konkurrenten von Haschisch bis Ecstasy aus dem Spiel sind. Rauschmittel sind Fahrzeuge zu den Inseln des Rauschs, nicht diese Inseln selbst.

Inseln des Rausches? Hebt da die Metaphorik nicht ab? Was ist mit den schlichten gemütlichen-geselligen Seiten des Weingenusses? "Rotwein ist für alte Knaben eine von den besten Gaben", wusste schon Wilhelm Busch. Der von Tugend- und Anstandsregeln eingehegten Spießbürgerlichkeit konnte der Wein als Rausch im chthonischen Sinne nicht mehr gefährlich werden. Seine abgemilderte Wirkung lag in der Sorgenbesänftigung, in milder Heiterkeit, im besten Falle in poetischer Inspiration.

Weinkenntnis als Statussymbol

Heute, in postspießbürgerlichen Zeiten, müssen sich auch junge Erfolgsmenschen mit Wein auskennen. Damit es schnell geht, gibt es Weinseminare. Standardisierte Weinkenntnis ist ein Statussymbol, nie gab es mehr Weinkenner als heute. Doch was über das von lustvollem Fachsimpeln begleitete Verkosten hinausgeht, gefährdet die sorgfältig bewachte Grenze, mit der all die anderen ausgesperrt werden, an deren Ende diejenigen stehen oder vielmehr liegen, die ihren Wein im Tetra-Pak mitbringen. Die Gefahr des Zuviels bleibt standesunabhängig allgegenwärtig, denn: "was dem Einen nützet, schadet dem Andern".

Was aber ist mit den Jugendlichen, die sich bewusst "die Kante geben", heißt: ins Koma saufen? Erliegen sie nicht dem ewigen Sog des Dionysischen, sind sie dem alten Gott des Weines (auch wenn sie realiter Cola mit Schnaps trinken) nicht näher als der dynamische Geschäftsmann auf Weinprobe? Und dies trotz oder gerade wegen juveniler Selbstberauschungsautomatismen?

Ein weites Feld, ein allzu weites Feld. Überlassen wir es zu guter Letzt Goethe, der Buschs Weisheit schon präzisiert hatte: "Jugend ist Trunkenheit ohne Wein; / Trinkt sich das Alter wieder zu Jugend, / So ist es wundervolle Tugend. / Für Sorgen sorgt das liebe Leben, / Und Sorgenbrecher sind die Reben." (West-östlicher Divan)

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Helmut Kremers

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