Schimmelfaktor

Das Schicksal der Lipizzaner
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Ein Pferdebuch diesseits von Flicka und Fury, aber mit Sympathie für sie, toll geschrieben und recherchiert.

Wer etwas über Menschen erfahren will, betrachte ihr Verhältnis zu Tieren. Der für seine literarischen Reportagen gerühmte Holländer Frank Westerman tut das am Beispiel der Lipizzaner. Kraftvolle, elegante, gelehrige Schimmel, die für die Kaiser der Donaumonarchie seit 1580 gezüchtet wurden. Ihre Artistik ist in der Wiener Hofreitschule bis heute zu bestaunen, obwohl die Zeit der Habsburger 1918 ablief. Die Faszination jedoch blieb, denn Lipizzaner stehen für Reinheit und Charakteradel.

Westerman war noch ein Kind, als er den ersten jener Schimmel traf, den Hengst Conversano Primula. Wer einen Lipizzaner berührt, berührt Geschichte, sagte der Besitzer. In "Das Schicksal der weißen Pferde. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts" teilt er das mit uns. Informativ, mitunter auch bestürzend, wie der Originaltitel das andeutet: Dier, Bovendier - "Tier, Übertier". Es geht um das Schaffen von Arten, Perfektion, die reine Rasse.

Ein Pferdebuch diesseits von Flicka und Fury, aber mit Sympathie für sie, toll geschrieben und recherchiert. Der gelernte Agraringenieur ist in Geschichte, Biologie und Literatur gut bewandert und versteht das journalistische Handwerk. In den Neunzigerjahren war er Kriegskorrespondent in Jugoslawien. Spuren der Lipizzaner fand er auch da, liegen doch die Zuchtgestüte Lipica im heutigen Slowenien und Lipik im damals von Serben attackierten Kroatien - alles einstmals k. u. k.-Gebiet. Die Pferde blieben auch nach 1918 ein Mythos. Aus ihrer Evakuierung vor den Russen durch eine US-Panzereinheit machte Walt Disneys Film "Die Flucht der weißen Hengste" (mit Lilli Palmer) ein Rührstück. Westermans Buch geht anders vor: Es spürt den auf sie gerichteten Begehrlichkeiten im 20. Jahrhundert nach und zeigt, wie die Stränge, die es zeichneten, darin zusammenlaufen.

Im Buch begleiten wir ihn auf Reisen in Archive, zu Gestüten und vielen Gesprächen. Sie führen etwa zu einem Hengstdepot nahe bei Auschwitz, dessen Zuchtregeln grotesk den Besamungsvorgaben für SS-Männer und blonde Bräute ähneln. Wir lernen den Sohn des Depotleiters kennen, der auf der Flucht nach Westen die Eltern und dann die Pferde verlor, die Erinnerung an Experimente von Hitlers Reichsoberstallmeister Gustav Rau aber sicher bis zu uns bringt. Wir treffen den Biographen des böhmischen Mönches Gregor Mendel, dessen Vererbungsforschung das Jahrhundert der Eugenik einleitete, und verstehen, wie Conversano Primulas Urvater Rappe sein konnte: schwarz "mendelt aus", der Schimmelfaktor ist dominant. Bei den Lipizzanern ein Zuchterfolg, im Wissen um NS-Rassenwahn, von Sowjetideologie diktierte Abhärtungslandwirtschaft (auch in Gestalt der DDR-"Rinderoffenställe") sowie Klonforschung und Selektion mit Pränataldiagnostik wird einem aber mulmig. Unsere ethische Konstitution scheint dem kaum gewachsen. Glänzend, wie Westerman solche Bögen schlägt, jedoch nie doziert, sondern bloß Geschichten um weiße Pferde sammelt und erzählt.

Auch in der Zeit der Jugoslawienkriege, wo eine Lipizzanerherde spurlos im Granathagel verschwand und Jahre später als Elendsbild von abgemagerten Schindmähren im Internet eine gemeinsame Rettungsaktion durch verfeindete Kroaten und Serben auslöste. Glanz und Grauen, Sehnsucht nach Reinheit, Zuchtwahn, Vertreibung, Kalter Krieg und Ränkespiele um den Besitz von Lipizzanern, aber auch Irritation, wenn wir an unser Mitgefühl für geschundene Tiere denken und daran, dass uns zugleich menschliche Opferzahlen oft abstrakt bleiben: Westermans Pferde-Geschichte erzählt packend viel über uns, nicht nur im 20. Jahrhundert.

Frank Westerman: Das Schicksal der weißen Pferde. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts. Verlag C. H. Beck, München 2012, 287 Seiten, Euro 19,95.

Udo Feist

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