Das Lächeln

Mystagogen aus Island
Bild
INNI ist eigentlich Kunstwerk und Kinoempfehlung für sich - und doch nur Beigabe zum gleichnamigen Album mit dem grandiosen Auftritt. Die Band auf der Höhe ihres Schaffens.

Eigenartig. Faszinierend. Sphärisch, außerweltlich, aber seltsam mittendrin: also eher magmatisch, mystisch? Aus der geheimnisvollen Mitte jedenfalls. Postrock, Ambient und Shoegazing werden oft als Koordinaten bemüht. Sie sind mitunter auch schwelgerisch, doch von Breitwandgitarrenmelancholie à la "The Twilight Sad" aus Glasgow etwa so weit weg wie Schottland von Island. Bei den 1994 in Reykjavik gegründeten Sigur Rós ist so vieles anders. Den Namen "Siegesrose" gaben sie sich nach der an demselben Tag geborenen Schwester von Sänger Jón Thór Birgisson (Jónsi), der die E-Gitarre mit dem Cellobogen streicht und präzis Soundgewitter erzeugt, die wichtig für die Dramatik ihrer zwischen Poesie und Bombast oszillierenden Stücke sind.

Drummer Orri Páll D´yrason ist Kraftwerk und Schlegelmagier, Georg Hólm am Bass markiert hypnotisch die umkreisten Stellen oder spielt das Xylophon, Kjartan Sveinsson (Kjarri) spielt neben den Keyboards, Gitarre und Piano auch Flöte. Glockenspiel, eine Pumporgel und Streicher (live früher immer mit dem Quartett "Amiina") runden das Klangbild ab. Prägend ist jedoch vor allem Jónsis engelhafter Falsett-Gesang, den nicht mal die 300 000 Isländer durchweg verstehen.

Außer in der Muttersprache singt er nämlich in "Hopelandic", einer Phantasiesprache, die er beim Erarbeiten der Songs nutzt. Entsprechend variabel, laut- und klangorientiert ist sie. "Texte" entstehen dem Hörer insofern aus Sound, Struktur, Dramaturgie und Dynamik der symphonisch wirkenden Stücke. Rock sind an ihnen nur die Ausbrüche, es überwiegt akustisch verdichtete Konzentration nach innen. Über die Nähe von Herkunft und Ausdruck, schroffen Landschaften, Klima, Schönheit, Mitte und Mentalität spekuliert der Film Heima (Heimat), der sie bei Gratiskonzerten in kleinsten Orten Islands zeigt, nachdem sie 2007 von einer langen Welttournee zurück waren. Rund macht diesen Bogen jetzt der Schwarzweiß-Konzertfilm INNI (Regie: Vincent Morisset), der Sigur Rós’ bislang letzten Auftritt zeigt, 2008 im Alexandra Palace in London. Ganz auf die Band konzentriert, im Stil expressionistisch - als habe "Das Cabinet des Dr. Caligari" dabei Pate gestanden. INNI ist eigentlich Kunstwerk und Kinoempfehlung für sich - und doch nur Beigabe zum gleichnamigen Album mit dem grandiosen Auftritt. Die Band auf der Höhe ihres Schaffens, ob traumwandlerisch bei schwerem Wetter, mystagogisch in Höhlen oder vor Vulkangletschern. Welt und Seele verschmelzen passend zum Titeltrack: "Inní mér syngur vitleysingur - In mir singt ein Narr." Und den dürfen wir uns wie Yorick aus Shakespeares Hamlet vorstellen: "A fellow of infinite jest, of most excellent fancy" - ein Kerl von unendlichem Spaß und packendster Erzählkraft. Als Lächeln nach dem Orkantief. Sigur Rós: INNI. Doppel-CD plus DVD, im Papp-Schuber mit vier Fotografien; Krank/PIAS 2011.

Udo Feist

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kultur"