Zeichen der Zeit

Ein Punktum
Und plötzlich ist auch er wieder da: Unübersehbar ragt der immergrüne Vorweihnachtsbaum auf dem Platz zwischen den Kaufhäusern. Noch farbenprächtiger als der Herbst seine Wälder schmückt.

Im Vorübergehen eine verblüffende Begegnung: Das Graffiti auf einem Elektrokasten zeigt einen Sprayer als Rollstuhlfahrer. Jetzt ist der demographische Wandel schon bei den jungen Wilden angekommen, denke ich. Und merkwürdig, wohin ich unterwegs auch schaue, anonyme Gesichter, die sich hinter Sonnenbrillen wie schwarze Balken verstecken. Ganze Kolonnen entfremdeter Wesen flanieren so. Glaubt man den Zeichen-Experten, dass die Wahl einer Brille der Selbstdarstellung eines bestimmten Charakters dient, dann bleibt es ein Geheimzeichen im öffentlichen Raum, dessen Rätsel ich nicht lösen kann.

Neben mir in der Straßenbahn gibt ein Pärchen das nächste Rätsel auf. Er mit Glatze, also ein Skinhead, denke ich. Von Domestos gebleichte Hosen, dazu schwarze Springerstiefel, also rechtsradikal. Aber die junge Frau trägt für alle sichtbar am Revers einen Button, auf dem die Initialen NPD durchgestrichen sind. Das Zeichenrätsel muss ich bis nach Hause tragen. Zwei Stunden Internetrecherche führen zu keinem Ergebnis. Sollten Zeichen nicht Orientierung geben, die einfachste Form der Kommunikation sein? Doch die Zeichensprache des jungen Pärchens scheint mir widersprüchlich.

Da lobe ich mir den Drogeriemarkt, an dem ich täglich vorbeifahre. Sein himmelblaues Band färbt die Stadt, steht überall im Stadtbild für Haushaltsreiniger und Nagellackentferner. Oder das leckere Quadrat, das mich mit seinen vielen bunten Tafeln bei der Einfahrt in den Bahnhof empfängt. Seine Versuchung will mir einfach nicht mehr aus dem Sinn, bleibt quadratisch, praktisch, gut.

Und plötzlich ist auch er wieder da: Unübersehbar ragt der immergrüne Vorweihnachtsbaum auf dem Platz zwischen den Kaufhäusern. Noch farbenprächtiger als der Herbst seine Wälder schmückt, erinnert er daran: Der nächste Weihnachtsrummel kommt bestimmt, kaum dass ich mich über die erste Kastanie des Herbstes in meiner Manteltasche freuen konnte, geschenkt von einem lieben Menschen. Ein Glückszeichen, das nichts gekostet hat.

Am Morgen bemerke ich, dass der Frost dem auf der gegenüber liegenden Seite der Straße wild angelegten Stadtgärtchen rund um den Alleebaum den Garaus bereitet hat. Seine Botschaft war: Hier gibt es aufrechte Guerillagärtner, die ein Stück Brache zwischen den Tretminen besetzt halten. Dann fallen mir die Ampelmännchen ins Auge, erst ein Grünes, dann ein Rotes. Aufgeregtes Hupen reißt mich aus meinen Gedanken. Dieses Zeichen kam Gottseidank noch rechtzeitig.

Kathrin Jütte

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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