August Engelhardt, der Protagonist in Christian Krachts Roman, ist eine historische Gestalt, ein Sonderling und Eigenbrötler, geboren 1875, ein Anhänger der Lebensreformbewegung, ein Vegetarier und Nudist, der glaubte in der deutschen Kolonie Neu-Guinea, das Paradies gefunden zu haben; seine Botschaft, die er aus der Ferne in Deutschland zu verbreiten wusste, lautete, die Kokosnuss sei eine göttliche Speise, sie reiche nicht nur hin, den Menschen zu ernähren, sondern vergeistige ihn zu einem höheren Wesen. Das war 1902; eine kurze Zeit lang versammelte er eine Schar von Anhängern um sich, die ihn bald wieder verließ, später verwirrten sich die Ideen in seinem Kopf zu Wahnideen, 1919 starb er.
Kracht schildert sein Leben, nicht historisch getreu (so etwa stirbt Engelhardt bei ihm bedeutungsschwanger erst 1945), sondern verdichtet zu einer Parabel über deutsches Sein und Wesen, unvermeidlich auch Vorgeschichte und, so will es der Autor, er winkt da des öfteren mit dem Zaunpfahl -, zu einem Seitenstück zum Nationalsozialismus: Engelhardts Bruder im Geiste ist Adolf Hitler, auch er ein Sonderling und Vegetarier, dem es aber gegeben war, sehr viel mehr Anhänger um sich zu scharen.
Engelhardt war Zeitgenosse von Thomas Mann, Hermann Hesse, Franz Kafka. Diese drei tauchen am Rande der Handlung auf, Mann und Kafka im Zusammenhang mit dem Thema Homosexualität, auch so ein deutsches Trauma: Thomas Mann meldet in übertriebener Erregung den am ansonsten einsamen Strand nackt hingelagerten Engelhardt der Polizei und erkennt im Nachhinein seine eigene unterdrückte Veranlagung. Kafka muss sich als junger Mann des sexuellen Übergriffs eines Mannes namens Aueckens erwehren und hat dabei die Empfindung, mit dessen Hand krieche - hört, hört! - ein haariges Insekt über seine Hose. Der historische Aueckens war als Engelhardt-Verehrer auf die Insel gekommen und dort nach sechs Wochen aus ungeklärten Ursachen gestorben.
Kracht benutzt das zu einer Paraphrase auf die Röhm-Affäre: Aueckens vergewaltigt einen Eingeborenenjungen und wird von Engelhardt erschlagen, der vielleicht ein Sexphobiker ist (was uns wieder an Bruder Hitler erinnert). Inwieweit diese Überblendung stimmig oder auch nur erlaubt, treffend oder eher degoutant ist, darüber lässt sich streiten - was nicht als Einwand gemeint ist.
Krachts Roman löste, kaum dass er erschienen war, eine Kontroverse aus - gleichsam ein im Treibhaus simuliertes tropisches Feuilletongewitter: Im Spiegel erschien ein vierseitiger Artikel über ihn, in dem Georg Diez, der möglicherweise ein nicht aus Lektüre geschlüpftes Hühnchen mit dem Autor zu rupfen hatte, behauptet, der Roman sei "durchdrungen von einer rassistischen Weltsicht", und überhaupt verbreite Kracht rechtes Gedankengut der dumpfen Art. Wie aber Diez dabei die Erzählebenen durcheinanderwirft und planmäßig aber zielstrebig missversteht, ist peinlich, am allermeisten für ihn selbst.
Die Nachgewitter zur Affäre folgten erwartungsgemäß: Schriftsteller protestieren. In der Zeit erschien eine enthusiastische Besprechung, und Krachts Verleger durfte im Spiegel erwidern - mit einem Wort: beste Publicity, dabei keine Gefahr, Kracht könne zum Sarrazin der deutschen Literatur gemacht werden.
Ob er allerdings der erste Anwärter auf den Platz zur Rechten TMs im Literatenhimmel ist, muss nach diesem Buch offen bleiben. Von Thomas Mann hat sich Kracht in diesem Roman die Haltung des allwissenden Erzählers abgeschaut. Er parodiert dessen Art etwas mehr, als zur Erkennung der Absicht nötig - ob auch kunstvoll, darüber lässt sich streiten. Jedenfalls ist ihm sein Protagonist immer wieder "unser Freund".
Öfter wechselt er die Perspektive des auktorialen Erzählers: Mal ist er der ironische Kommentator, der seiner Gestalt nur wenig voraus ist und, ihr gleichsam über die Schulter schauend, seinen Senf zum Geschehen hinzu gibt, mal ist er derjenige, der aus dem Off belehrend räsoniert ("Die Moderne war nämlich angebrochen ...") oder der sich vulgär-völkerpsychologisch über Deutsche und Franzosen auslässt. Nicht immer ist zu erkennen, welchen Standort dieser Erzähler einnimmt, insoweit hatte Diez schon Recht. Aber nationalistische Tücke steckt nicht dahinter; man kann es als schriftstellerisches Manko schelten oder als modernes Spiel mit verschiedenen Ausdrucksebenen goutieren, etwa wenn der Autor alle Masken fallen zu lassen scheint und über "unseren Freund" schlicht äußert: "Ich glaube nicht, dass er je einen Menschen wirklich geliebt hat", oder wenn er gar plötzlich einen Einblick in dessen Seele gewährt: Der habe sich im Grunde seines Herzens für einen "verklemmten Gernegroß" gehalten. Dass Hitler immer mit gemeint ist, wissen wir nun.
Ach ja, die Sprache. Wäre sie nicht so prätentiös und zuweilen preziös, würde der Rezensent die nicht ganz seltenen Schnitzer umstandslos dem Lektorat anlasten: sprachliche Ungenauigkeiten (Polizisten sind "beflissentliche Deutsche") und Exaltationen (der "kathartische, crescendohafte Biss" - nicht Stich - einer Mücke) oder onkelhafte Gravitäten, bei denen es schwer fällt, sie als gewollte Ironien zu nehmen (der "leicht unenthusiasmierte Blick" eines Redakteurs) ... und so fort. Aber das lässt sich ausbügeln.
Imperium ist ein unterhaltsames Buch, das es nicht nötig hat, um das zweifelhafte Epitheton "verstörend" zu buhlen, und zudem eines, das dazu verlockt, in so manche Hyphen des Myzels (um im Stil Krachts auch die Nachschlagefreunde zu ihrem Recht kommen zu lassen) deutscher Geschichte einzudringen. Das ist schon was, das macht ein gutes Buch aus, ganz abgesehen von anderen Qualitäten: den in knappen Strichen, aber eindringlich gezeichneten Nebengestalten, dem Reiz des Exotischen, den für uns Nachgeborene schon das Eintauchen in die Historie haben kann, und dem erst recht schwer zu widerstehen ist, wenn dabei Inseln unter dem Kreuz des Südens in den Blick geraten, mögen sie sich auch einmal mehr als "traurige Tropen" erweisen.
Christian Kracht: Imperium. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2012, 242 Seiten, Euro 18,99.
Helmut Kremers
Helmut Kremers
war bis 2014 Chefredakteur der "Zeitzeichen". Er lebt in Düsseldorf. Weitere Informationen unter www.helmut-kremers.de .