Was ist neu am neuen Atheismus?

Fundamentalisten und ihre Kritiker haben bisweilen viel gemein
Foto: privat
Die so genannten "neuen" Atheisten sehen es als Gebot der Stunde, nun endlich dem Gift der Religion eine Ende zu bereiten. Dabei zeigt sich eine erschreckende Neigung zu teilweise bornierten Simplifizierungen und emotionalisierenden Polarisierungen.

In auflagenstarken und auch umfänglichen Büchern machen sie von sich reden, die so genannten "neuen" Atheisten, und appellieren an das Gebot der Stunde, nun endlich dem Gift der Religion eine Ende zu bereiten. Glaubten die Atheisten des 19. Jahrhunderts daran, dass sich die Religion mit wachsender Aufklärung von selbst auflösen werde, so fühlen sich die heutigen von einer Renaissance der Religion provo­ziert, die alle gesellschaftlichen Errungenschaften der Moderne in Frage stelle. Unermüdlich wird die Unvereinbarkeit des modernen naturwissenschaftlichen Weltverständnisses mit einem in dieser Welt handelnden Gott statuiert.

Es wird sich schwerlich behaupten lassen, dass dies ein neues Argu­ment ist, und die Häufigkeit seiner Wiederholung macht es nicht evidenter. Auch der Rekurs auf die moderne Hirnforschung ist kein wirklich neues Argument, weil er methodisch den gleichen monistischen Wissenschaftsfundamentalismus bedient, wie er bereits von Ernst Haeckel um die Wende zum 20. Jahrhundert traktiert wurde. Auf der inhaltlichen Ebene ist das Neue des aktuellen Atheismus offenkundig nicht auszumachen, zumal die philosophische Bildung, welche die Vertreter des neuen Atheismus aus­weis­lich ihrer Lebensläufe durchlaufen haben, von erschreckend dürftiger Natur ist.

Apokalyptische Perspektiven

Neu ist allerdings ein offensiver und teilweise aggressiver Missionseifer, der sich als ein dringend gebotener alarmistischer Appell angesichts eines weit­hin leichtfertig hingenommenen Spiels mit dem Feuer neben einer Reihe offener Pulverfässer geriert. Gerade Sam Harris und Richard Dawkins beschwören apokalyptische Perspektiven, wenn dem wachsenden öffentlichen Anspruch der Religion nicht entschiedener entgegengetreten werde.

Insbe­sondere nach dem verheerenden Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 beklagen sie eine sich aufschaukelnde Dynamik fundamentalistischer Einstellungen, durch die nicht nur die aufge­klärte Zivilisation, sondern der Weltfriede insgesamt bedroht werde. Bis hin zur atomaren Erstschlagsoption reichen die ins Auge gefassten strategischen Maßnahmen, die dagegen in Erwägung gezogen und dem bedrängend umworbenen Publikum ans Herz gelegt werden. Es werden in populistischer Manier vor allem amerikanische Allmachtsphantasien reaktiviert, von denen wir uns durch die Misserfolge der Kriege im Irak und in Afghanistan endlich befreit glaubten.

Unschuld verloren

Die mit der Situation verbundene Dramatik drängt alle Differenzierungen in den Hintergrund. Es zeigt sich eine erschreckende Neigung zu teilweise bornierten Simplifizierungen und emotionalisierenden Polarisierungen. Damit steht der neue Atheismus seinerseits dem zu Recht angegriffenen religiösen Fundamentalismus mit seinen rigoris­ti­schen Entscheidungsoptionen in keiner Weise nach. Wer angesichts der Geschichte die Ambivalenz von monopolisierten weltanschaulichen Interpretationsansprüchen immer noch nicht wahrge­nom­men hat, disqualifiziert sich selbst gegenüber den Anforderungen eines weiterführenden Diskurses. Das gilt für die Religionen, aber gewiss in gleichem Maße auch für den Atheismus, denn beide haben längst ihre Unschuld verloren.

Michael Weinrich

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