"Als Frau gern Seichtes"

Ist geistige Anspruchslosigkeit wirklich "in"?
Foto: pixelio/Andrea Damm
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Wie ist es dahin gekommen, dass es uns in der Öffentlichkeit scheinbar leichter fällt, zu erklären, wir läsen gern etwas Seichtes, als zu erklären, wir läsen gern Anspruchsvolles?

Einige Wochen, nachdem Herta Müller vor anderthalb Jahren den Literaturnobelpreis bekommen hatte, ereignete sich in einer brandenburgischen Stadt folgendes: Zu einer Buchpremiere, auf der ein Kriminalroman vorgestellt wurde, der in dieser Stadt spielt, waren ungefähr hundert Gäste gekommen, um zu hören, was fünf Diskutanten, darunter die Oberbürgermeisterin, auf dem Podium zu sagen hatten. Und die Oberbürgermeisterin hatte Beachtliches zu sagen. Auf ihren Lesestoff befragt, bekannte sie, "als Frau gern Seichtes" und Orchideen-Bücher zu lesen.

Heißt das, als Mann läse sie eher Anspruchsvolles? Und die neue Literaturnobelpreisträgerin kenne sie nur vom Nachnamen Müller her, "aber nicht in Verbindung mit Hertha", womit sie die Berliner Fußballmannschaft Hertha BSC meinte. Die Veranstaltung fand nicht am Tag der Bekanntgabe der Nobelpreisträgerin statt, sondern wie gesagt eine gan­ze Weile später, so dass auch die Oberbürgermeisterin Zeit und Gelegenheit gehabt hätte, in einer Zeitung das wichtigste über Herta Müller zu erfahren. Vielleicht hätte sie das als Mann getan. Aber die Probe aufs Exempel ist (leider?) nicht möglich.

Verbreitete geistige Ignoranz

Nun hat eine Oberbürgermeisterin viel zu tun; und zum Lesen, auch zum Lesen seichter Bücher, werden wenig Zeit und Kraft bleiben. Niemand wird ihr verübeln, dass sie Herta Müller nicht kannte und nichts von ihr gelesen hatte. Das Schockierende an ihren Äußerungen für mich ist, und deshalb gehen sie mir die ganze Zeit über nicht aus dem Kopf, dass sie mit ihrem Nicht-Wissen und ihrem Literaturgeschmack kokettierte, offenbar ohne auf den Gedanken zu kommen, sie könne sich selbst disqualifizieren.

Es geht mir nicht um die Oberbürgermeisterin, die ich gar nicht kenne, ich habe von der Veranstaltung aus der Zeitung erfahren, sondern es geht mir um eine verbreitete geistige Ignoranz und vor allem um das fast prahlerische, sich anbiedernde Zurschaustellen von Nicht-Wissen und geistiger Anspruchslosigkeit. Wie ist es dahin gekommen, dass es uns in der Öffentlichkeit scheinbar leichter fällt, zu erklären, wir läsen gern etwas Seichtes, als zu erklären, wir läsen gern Anspruchsvolles?

Selbstverständlich gibt es Gruppen, wo man sich auch heute noch die neuesten Essay- und Romantitel zuwirft und mit seiner Bildung protzt. Selbstverständlich gibt es auch heute Kreise, in denen über "Uschife" (Unterschichtenfernsehen) gespottet wird. Und selbstverständlich, das sollten wir nicht vergessen, haben sich zu allen Zeiten nur wenige Menschen tatsächlich mit Kunst auseinandergesetzt. Christian August Vulpius’ Roman Rinaldo Rinaldini, der Räuberhauptmann wur­de seinerzeit mehr gelesen als alle Romane seines Schwagers Goethe zusammengenommen.

Sind Männer anspruchsvoller?

Neu scheint mir aber zu sein, dass sich jemand öffentlich seiner Unbildung rühmt – und auf Zustimmung rechnet. Der Schriftsteller Wolfgang Hegewald, Jahrgang 1952, schreibt, Literatur, die "mit Einschaltquoten statt Lesern" rechne, spekuliere "auf die Ersetzbarkeit der beteiligten Protagonisten, Leser und Autoren". Wir ergänzen: Wer sich mit der Banalität seines Kunstgeschmacks brüstet, erklärt Kunst und geistige Auseinandersetzung, gedankliche Anstrengung mit ihr für überflüssig und sinnlos. Und das in aller Öffentlichkeit. Als Frau gern Seichtes. Sind Männer wirklich anspruchsvoller? Vielleicht soll es ja heißen: Männer verzichten lieber ganz.

Jürgen Israel

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