Heidelberg reloaded
In den vergangenen Jahrzehnten galt es in weiten Teil der EKD als ausgemacht, dass Deutschland dem Atomwaffenverbotsvertrag beitreten solle. Der Krieg Russlands hat diese Position erschwert, meint der Wiener Systematiker Ulrich H.J. Körtner. Er plädiert im Sinne der Heidelberger Thesen der EKD von 1959 für das Prinzip der Komplementarität.
Der Ukrainekrieg nötigt die Kirchen dazu, ihre bisherigen friedensethischen Positionen zu überdenken. Das schließt die Haltung der Kirchen zur Abschreckung mit Kernwaffen ein. Heute herrscht weitgehend ökumenischer Konsens, dass nicht erst der Einsatz von Kernwaffen, sondern schon die Abschreckung mit ihnen aus christlicher Haltung abzulehnen ist.
In diese Richtung hat sich die friedensethische Position der evangelischen Kirchen in Deutschland nach dem Fall des Eisernen Vorhangs entwickelt. 2019 forderte die EKD-Synode in Dresden die deutsche Bundesregierung auf, Gespräche mit den NATO-Partnern, auf EU-Ebene und in der OSZE mit dem Ziel zu führen, den Atomwaffenverbotsvertrag aus dem Jahr 2017 zu unterzeichnen. Ein solcher Schritt würde im Ergebnis wohl auf den Austritt Deutschlands aus der NATO hinauslaufen.
In diese Richtung marschieren auch jene Landeskirchen, die zu einer „Kirche des gerechten Friedens“ werden wollen, allen voran die Evangelische Landeskirche in Baden, die davon träumt, die Bundeswehr bis 2040 in eine Organisation ziviler Sicherheitspolitik umzuwandeln und aus dem Verteidigungsministerium ein Ministerium für zivile Krisenprävention zu machen.
In weite Ferne
Die Aussicht auf eine kernwaffenfreie Welt ist mit dem Angriffskrieg Russlands, der letztlich auf die Zerschlagung der Ukraine und die Bestreitung des Existenzrechts des ukrainischen Volkes zielt, jedenfalls in weite Ferne gerückt. Putin hat schon in einer frühen Phase des Krieges mit seinem Atomwaffenarsenal gedroht. Eine Sicherheitsordnung ohne atomare Abschreckung ist gegenwärtig kaum denkbar. Das ist kein Plädoyer für eine unkritische Fortschreibung nuklearer Strategien, sondern im Gegenteil für ein besonnenes Handeln, um den Beginn einer neuen Eskalationsspirale zu verhindern.
Im Zuge dessen ist auch die Abkehr, welche die EKD von den Heidelberger Thesen aus dem Jahr 1959 zur Atombewaffnung in ihrer friedensethischen Denkschrift 2007 vollzogen hat, zu problematisieren. Auf dem Höhepunkt der Kontroversen um den NATO-Doppelbeschluss von 1979 hatte sich die EKD noch ausdrücklich an den Heidelberger Thesen festgehalten und im Anhang der Denkschrift „Frieden wahren, fördern und erneuern“ (1981) abgedruckt. Während beispielsweise das Moderamen des Reformierten Bundes die atomare Abrüstung zur Bekenntnisfrage erklärte, urteilte die EKD, die Kirche müsse im Sinne der Heidelberger These VIII „die Beteiligung am Versuch, einen Frieden in Freiheit durch Atomwaffen zu sichern, weiterhin als eine für Christen noch mögliche Handlungsweise anerkennen“.
Im Gegensatz dazu vertritt die Friedensdenkschrift aus dem Jahr 2007 – unter dem Eindruck einer nach 1989 veränderten historischen und weltpolitischen Lage – die Auffassung, „die Drohung mit dem Einsatz nuklearer Waffen sei in der Gegenwart friedensethisch nicht mehr zu rechtfertigen.“ In diesem Punkt waren sich die Kammer für Öffentliche Verantwortung und der Rat der EKD einig. Uneinigkeit herrschte lediglich darüber, welche friedenspolitischen Folgerungen aus dieser Aussage zu ziehen seien.
Für die gemeinsam geteilte friedensethische Grundposition in der Frage der Nuklearbewaffnung stützt sich die Denkschrift von 2007 auf ein Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag aus dem Jahr 1996, wonach nicht erst der Einsatz von Kernwaffen, sondern bereits die Drohung mit ihnen völkerrechtswidrig sei, sieht man vom Extremfall ab, in dem das Überleben eines Staates auf dem Spiel steht. Alle Versuche, die Verbreitung von Kernwaffen durch ein völkerrechtliches Regelwerk zu unterbinden, seien gescheitert. Die Produktion und Einlagerung von Massenvernichtungswaffen in Risikostaaten ließe sich auch durch die Drohung mit Atomwaffen nicht verhindern. Anders als während des Kalten Krieges könne man heute auch nicht mehr „mit einem zu rationalem Kalkül geneigten Gegner rechnen. Vor diesem Hintergrund haben die Gründe für die Kritik an der Abschreckungsstrategie deutlich an Gewicht gewonnen.“
Keine Komplementarität
Während nun eine in der Friedensdenkschrift zu Wort kommende Argumentationslinie die vollständige atomare Abrüstung fordert, lautet eine andere Position, die atomare Abschreckung bleibe – unbeschadet intensiver Abrüstungsbemühungen – weiterhin „gültiges Prinzip“, da man sich, „auch ohne jemandem explizit zu drohen, mit potentiellen Bedrohungen“ auseinandersetzen müsse, die nicht zuletzt von der wachsenden Zahl von Staaten, die Kernwaffen besitzen und von Terrorgruppen ausgehen, die sich Massenvernichtungswaffen beschaffen könnten. Wie die zweite Argumentationslinie mit der angeblich konsensuellen Abkehr von der Heidelberger These VIII widerspruchsfrei in Einklang bringen lässt, ist nicht ersichtlich.
Hier zeigt sich nun, dass die Denkschrift von 2007 sich nicht nur von der achten der Heidelberger Thesen distanziert, sondern auch vom Komplementaritätsgedanken abrückt, der die tragende Denkfigur der Thesen von 1959 ist. Heidelberger These VI lautet: „Wir müssen versuchen, die verschiedenen im Dilemma der Atomwaffen getroffenen Gewissensentscheidungen als komplementäres Handeln zu verstehen.“ Erst im Rahmen dieses Komplementaritätsgedankens wird These VIII verständlich, wonach die Kirche „die Beteiligung an dem Versuch, durch das Dasein von Atomwaffen einen Frieden in Freiheit zu sichern, als eine heute noch mögliche christliche Handlungsweise anerkennen“ müsse. Notabene: müsse, nicht etwa nur könne! In der Friedensdenkschrift 2007 fehlt der Begriff der Komplementarität völlig.
Es war der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker, der den friedensethischen Begriff der Komplementarität maßgeblich prägte. Ursprünglich stammt er aus der Quantenphysik. Dort besagt er, dass ein und derselbe Vorgang methodisch auf zwei verschiedene Weisen beobachtet und beschrieben werden kann, die einander ausschließen, gleichwohl zusammengehören und einander ergänzen, ohne in einer dritten Beobachterperspektive aufgehoben werden zu können.
Wehe den Leichtfertigen
In analoger Weise sprechen die Heidelberger Thesen von der Komplementarität zweier gegensätzlicher Positionen in der Friedensethik. Nach der einen muss die Kirche den Waffenverzicht als christliche Handlungsweise anerkennen, nach der entgegengesetzten die Beteiligung an dem Versuch der Friedenssicherung durch atomare Abschreckung. Dabei ist nicht nur Heidelberger These IX in Erinnerung zu rufen: „Für den Soldaten einer atomar bewaffneten Armee gilt: Wer A gesagt hat, muss damit rechnen, B sagen zu müssen; aber wehe den Leichtfertigen!“
Für das Komplementaritätsverständnis der Heidelberger Thesen ist der Kommentar zu These XI entscheidend: „Faktisch stützt heute jede der beiden Haltungen, die wir angedeutet haben, die andere. Die atomare Bewaffnung hält auf eine äußerst fragwürdige Weise immerhin den Raum offen, innerhalb dessen solche Leute wie die Verweigerer der Rüstung, die staatsbürgerliche Freiheit genießen, ungestraft ihrer Überzeugung nach zu leben. Diese aber halten, so glauben wir, in einer verborgenen Weise mit den geistlichen Raum offen, in dem neue Entscheidungen vielleicht möglich werden“. In der Denkschrift von 2007 fehlt dieser Gedanke, weshalb die beiden Argumentationslinien pro und contra Fortsetzung atomarer Abschreckung unverbunden nebeneinanderstehen.
Man kann die Argumentationsfigur der Heidelberger Thesen als eine verantwortungsethisch begründete Ethik des Kompromisses bezeichnen. In Anbetracht der neuen Weltlage, die mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine entstanden ist, gewinnt diese Ethik neu an Aktualität. Jetzt, wo die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, dem Zerfall und schließlich offiziellen Auflösung der Sowjetunion entstandene neue Sicherheitsordnung unwiderruflich zerstört ist, zeigt sich, dass der vermeintliche friedensethische Fortschritt der Denkschrift von 2007 und der Kundgebung von 2019 gegenüber der Denkschrift von 1981 und den Heidelberger Thesen von 1959 in Wahrheit ein Rückschritt ist.
Lehren aus der Ukraine
Aus dem bisherigen Verlauf des Ukrainekrieges lassen sich zumindest die folgenden beiden Lehren ziehen:
1. Es stimmt nicht, dass man gegen eine Atommacht keine Kriege gewinnen kann. Beispiel: Afghanistan, wo sowohl die Sowjetunion (1979 –1989) als auch die NATO (2001–2021) letztlich im Kampf gegen die Mudschahedin und die Taliban gescheitert sind. Die Aufforderung an die Ukraine, schnell einen Verhandlungsfrieden zu suchen, also im Klartext: sich zu ergeben, ist ethisch falsch und auch pragmatisch unbegründet.
2. Der Besitz von Kernwaffen bedeutet zwar nicht notwendigerweise, in jeder kriegerischen Auseinandersetzung dem Gegner überlegen zu sein, wohl aber eine erhöhte Sicherheit vor einem Angriffskrieg. Die Ukraine hat – gegen entsprechende Sicherheitsgarantien, die aber letztlich keinen Bestand hatten – 1994 auf ihr Kernwaffenarsenal aus der Zeit der Sowjetunion verzichtet, über das sie allerdings keine operative Kontrolle hatte. Der Verlauf der Ereignisse seit 2008 in der Ukraine, die Annexion der Krim 2014 und schließlich der groß angelegte Angriff 2022 werden Staaten in ihrer Haltung bestärken, keinesfalls auf vorhandene Atomwaffen zu verzichten beziehungsweise ihre Anstrengungen zu intensivieren, in den Besitz von Atomwaffen zu gelangen.
In Anbetracht dieser Lage ist die Annahme, der Verzicht auf Kernwaffen würde den Weltfrieden fördern, zumindest zweifelhaft. Daher ist auch die Forderung der EKD problematisch, Deutschland solle dem Atomwaffenverbotsvertrag von 2017 beitreten. Dieser stellt gegenüber dem Atomwaffensperrvertrag aus dem Jahr 1970 und dem seither entstandenen Regelwerk keine Verbesserung dar, auch wenn dieses in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend durchlöchert wurde.
Im Unterschied zum Atomwaffensperrvertrag ist keine der Atommächte dem Atomwaffenverbotsvertrag von 2017 beigetreten. Von den NATO-Staaten haben einzig die Niederlande an den Verhandlungen teilgenommen, in der UN-Vollversammlung am Ende aber gegen den Vertrag gestimmt. Schweden war zunächst für den Vertrag, hat ihn dann aber doch nicht unterzeichnet, um sich die Option für einen NATO-Beitritt offenzuhalten. 2022 hat das Land ebenso wie Finnland unter dem Eindruck des Überfalls Russlands auf die Ukraine nun den Antrag auf Mitgliedschaft in der NATO gestellt. Eine atomwaffenfreie NATO ist ebenso eine Illusion wie eine internationale Sicherheitsordnung ohne NATO. Ein Ziel muss aber eine eigenständige europäische Strategie der atomaren Abschreckung sein.
Nur noch gegen Russland
Die an der FEST in Heidelberg tätige Politologin Ines-Jacqueline Werkner hat dafür plädiert, die Heidelberger Thesen in Richtung auf ein Konzept nuklearer Abrüstung durch gemeinsame Sicherheit weiterzudenken. Das war allerdings noch vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine. In seiner Folge findet ein sicherheitspolitischer Paradigmenwechsel statt, den der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Michael Roth (SPD), auf folgende Formel bringt: „Sicherheit kann es in Europa nur noch gegen, nicht mit Russland geben.“
Was diese Doktrin auch für die Frage der atomaren Abschreckung bedeutet, inwieweit selbst dann, wenn Russland als Gegner und nicht als Partner des Westens einzustufen ist, noch wechselseitig mit rationalem Kalkül zu rechnen ist, dass beide Seiten vom Einsatz nuklearer Waffen abhalten kann, ist eine offene, abgründige Frage. In dieser Lage gewinnen die friedensethischen Heidelberger Thesen aus dem Jahr 1959 neue Aktualität. Dabei gilt es die schon in der friedensethischen Denkschrift der EKD von 1981 formulierte Erkenntnis auszuhalten, „daß es für einen Frieden in Freiheit weder durch atomare Rüstung noch durch den Verzicht auf sie eine Garantie gibt.“
Aushalten lässt sich diese Erkenntnis wohl nur auf dem Boden einer Verantwortungsethik, die mit Dietrich Bonhoeffer darauf vertraut, „daß Gott kein zeitloses Fatum ist, sondern daß er auf aufrichtige Gebet und verantwortliche Taten wartet und antwortet“.
Ulrich H. J. Körtner
Dr. Ulrich Körtner ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Wien.