Vom Leiden zum Leiten

Warum wir in der Kirche neu durchbuchstabieren müssen, was geistliche Leitung sein kann
Foto: Christian Lademann

Erst ein halbes Jahr im Gemeindepfarramt und schon werde ich fromm. Das stellte ich erstaunt nach einem Zoom-Meeting kürzlich fest. Mit einer Reihe von katholischen und evangelischen Akteuren hatten wir uns darüber verständigt, was die zukünftigen Finanzentwicklungen perspektivisch für den kirchlichen Baubestand bedeuten könnten. Man muss keine Hellseherin sein, um zu vermuten, dass in den Kacheln eher Sorgenfalten als knallende Sektkorken sichtbar wurden. Als die Sitzung sich dem Ende neigte und plötzlich Stille im digitalen Raum war, spürte ich den starken Wunsch in mir, dass jetzt Jemand betet oder zumindest irgendetwas Geistliches sagt oder tut. Keiner tat es. Ich selbst auch nicht. Winken in die Kamera, Meeting verlassen.

Mir ist dieser Impuls, den ich da gespürt habe, nachgegangen. Ich frage mich, was sich darin eigentlich zeigt. Wohl die ganz grundlegende Frage nach dem, was eigentlich geistliches Leiten bedeuten kann im Hinblick auf die umfassenden Transformationsbewegungen, die in den kommenden Jahren vor uns liegen. Kirchliches Leitungshandeln, welches sich dem Paradigma des Wachstums verschreibt, scheint leichter im Sinne einer Vollzugsform des Geistes denkbar zu sein als ein kirchliches Leitungshandeln, welches im Kontext institutioneller Schrumpfungsprozesse geschieht. Dass institutionelles Wachstum aber keineswegs der Normalfall ist und gegenwärtig eine theologische Blickeinstellung auf das Kleiner-Werden notwendig ist, hat Peter Scherle kürzlich in seinem zeitzeichen-Beitrag eindrucksvoll gezeigt.

Ich spüre gegenwärtig, wie ich selbst um ein Verständnis geistlichen Leitens ringe, welches Operationalisierbares genauso wie Nicht-Operationalisierbares integriert und mich sowohl handlungsfähig im Hinblick auf das Aufspüren strategischer Lösungen als auch resilient im Hinblick auf Erfahrungen fehlender Machbarkeiten macht. Ich glaube, dass es zur Beantwortung der Frage nach dem, was gegenwärtig geistliches Leiten in unseren Kirchen bedeuten kann, kollektive Verständigungsprozesse braucht. Irgendwie gehört Leiten ja immer schon zu den eher unliebsamen Aufgaben in der Kirche und auch von der Idee einer geistlichen Qualität des Leitens ist hier und da nicht viel mehr geblieben als die hingehuschte Drei-Minuten-Andacht zu Beginn der Kirchenvorstandssitzung. 

Die Sache Aller

Ich habe keinen Fahrplan dafür, wie eine den komplexen Anforderungen der Gegenwart gewachsene theologische Ausformulierung geistlichen Leitens gelingen kann. Mal wieder Schleiermacher zu lesen, hat meine Gedanken aber zumindest hier und da in Bewegung gebracht. In seiner „Kurzen Darstellung des theologischen Studiums“ beschreibt er Kirchenleitung als Sache aller in der Kirche nicht bloß als Sache von Pfarrpersonen. Transparenz ist in diesem Sinne nicht bloß eine strategische, sondern ebenso eine geistliche Qualität von Leitungshandeln. Für die gegenwärtige Situation bedeutet dies, schonungslos die Karten auf den Tisch zu legen, was die zukünftigen Finanzentwicklungen betrifft  - und auch die damit einhergehenden Reduktion des Gebäudebestandes. Wenn der Kollege Steffen Bauer in Stuttgart an eine Kirche ein Banner hängt mit der Aufschrift „Wie haben eine Kirche! Haben Sie eine Idee?“, dann ist das nicht bloß eine mutige, innovative Idee. Es ist geistliches Leitungshandeln, welches die grundlegenden Fragen zur zukünftigen Gestalt von Kirche nicht allein zur Sache weniger Eingeweihter macht, sondern zur Sache Aller.

Darüber hinaus wird sich ein gegenwartssensibles geistliches Leitungshandeln darin einüben mit einem sich immer wieder neu im Laufe der Zeit in unterschiedlichen Formen aktualisierenden Wesen des Christentums zu rechnen. Schleiermachers Gedanke, dass sich die Entwicklung dessen was Kirche ist, im dauernden Scheiden heterodoxer und orthodoxer Elemente, je und je neu zeigt, kann Leitungshandeln vom Machbarkeitswahn befreien. Nicht wir zementieren mit unseren Leitungsentscheidungen die zukünftige Gestalt von Kirche. Welche Gestalten die zukünftig tragfähigen sind, wird sich erweisen. Diese Einsicht kann den Mut zum Experimentieren beflügeln. Wenn Menschen an ihren kirchlichen Orten die Entscheidung treffen, eine Zeit lang zugunsten neuer Formen auf Gottesdienste sonntagsmorgens im Kirchenraum zu verzichten, werden sie nicht in der Gefahr stehen, gottesdienstliche Kultur nachhaltig zu beschädigen. Denn sollten die neu gefundenen Formen keine tragfähigen Formen dessen sein, wie in der Zukunft das Wesen des Christentums zur Darstellung kommt, werden diese neuen Formen wieder zu einem Ende kommen und Menschen werden neu am Sonntagmorgen mit agendarischen Gottesdiensten beginnen.

Gegenwartssensible geistliche Leitung wird sich in diesem Sinne einschwingen auf die Unverfügbarkeit des Geistes, der nicht aufhört formproduktiv wirksam zu sein, nur weil die Kirche eine bestimmte Mitgliederzahl unterschreitet oder Gebäudebestand reduziert. Gegenwartssensible geistliche Leitung wird mit dieser Vitalität des Geistes ebenso in einer kleineren Kirche rechnen und dabei darauf vertrauen können, dass diese ständige Formproduktivität in der Zukunft zu Gestalten kirchlichen Lebens führen wird, die wir uns aktuell noch nicht auszumalen imstande sind.

Echokammern abbauen

Zuletzt wird ein gegenwartssensibles geistliches Leiten neu lernen mit dem Gedanken der Vorläufigkeit der Kirche umzugehen und diesen Gedanken konsequent ernst zu nehmen. Das bedeutet schonungslos kirchliche Echokammern, die einzig dem Selbsterhalt der gegenwärtigen Gestalt der Institution dienen, als solche zu identifizieren und sie konsequent abzubauen.

Ein Gedanke bewegt mich aktuell im Hinblick auf die Vorläufigkeit der Kirche besonders und ich frage mich, was er eigentlich an Kräften freisetzen kann, wenn wir nicht vor ihm zurückschrecken, sondern uns erlauben ihn in seiner ganzen Radikalität zuzulassen: Die Säkularisierung, die eine wesentliche Grundbedingung der aktuellen Umbildungsprozesse darstellt, ist keine reine Gegenkraft zur Kirche. Säkularisierung war in gewisser Hinsicht immer schon ein genuin protestantisches Projekt, versteht man sie als die Auflösung eines heiligen Kosmos des Mittelalters zugunsten einer funktionalen Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche, innerhalb derer Religion ein Teilbereich neben anderen wie Politik oder Kunst darstellt. Man könnte also letztlich fragen, ob die Schrumpfungsprozesse, in die wir gegenwärtig hineingeraten, gerade nicht der Störfall von Kirchenentwicklung sind, sondern letztlich eine Folge intrinsischer Dynamiken des Protestantismus selbst.

Ich gebe zu, dieser Gedanke ist radikal und er führt letztlich wohl auch in Aporien.  Aber mir hilft es gegenwärtig ihn hin und wieder mal als Gedankenspiel zuzulassen. Denn für mich als kirchlich Aktive ist eine Frage von besonderer Relevanz: Gelingt es, zu einer inneren Haltung zu finden, die es mir ermöglicht, die zukünftige kleinere Gestalt von Kirche nicht bloß zu erleiden, sondern sie zu bejahen?  

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Foto: Christian Lademann

Katharina Scholl

Dr. Katharina Scholl ist Studienleiterin am Evangelischen Studienseminar Hofgeismar. Zuvor war sie Gemeindepfarrerin in Hanau-Großauheim.


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