Im Mai wäre Otl Aicher hundert Jahre alt geworden. Die Bundesrepublik Deutschland verdankt ihr modernes Erscheinungsbild zu einem guten Teil seinem Design. Er gestaltete unter anderem das Corporate Design von Lufthansa, ZDF, Braun und der Olympischen Spiele 1972 in München. Doch Aicher prägte auch gemeinsam mit seiner Frau ein anderes wichtiges Bild, nämlich das der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ rund um die Geschwister Scholl. Deren Biograf Robert M. Zoske beschreibt das Wirken des Künstlers.
Otto (Otl) Aicher wurde am 13. Mai 1922 als zweites Kind der Eheleute Anna Maria und Anton Richard Aicher (beide *1895) in Ulm-Söflingen geboren. Seine Schwester Hedwig war ein Jahr älter, der Bruder Georg ein Jahr jünger. Der Vater hatte sich nach der Volksschule in Abendkursen weitergebildet. 1923 bestand er die Meisterprüfung im Heizungsbau und machte sich 1932 selbstständig. Nach der Arbeit beschäftigte er sich mit Geld- und Genossenschaftstheorien, engagierte sich im Kolpingverein und lehnte als politisch denkender Mensch Hitler ab. Sein Sohn Otl allerdings zeichnete 1985 ein kleingeistiges Bild der Familie: „ich hatte keinen vater oder großvater, in dessen bücherregal ich einen liebknecht, einen kautsky, einen bernstein, einen rathenau oder stresemann hätte finden können.“
Unter dem Einfluss der antinationalsozialistischen katholischen Geistlichen Pfarrer Karl Weiß (1892 – 1985), Pater Adolf Eisele (1905 – 1978) und Kaplan Bruno Wüstenberg (1912 – 1984) entwickelte sich der Handwerkersohn zum Intellektuellen. Nach eingehender Nietzsche-Lektüre wandte er sich Thomas von Aquin und Augustinus von Hippo zu. Zu ehemaligen Mitgliedern der verbotenen katholischen Jugendorganisation „Quickborn“ hatte er Kontakt und setzte auf die christliche Philosophie als Bollwerk gegen den Nationalsozialismus. Als der 15-Jährige einen älteren Freund in Berlin besuchte, wurden sie verhaftet, angeblich, weil ihre „kleidung und haartracht freier aussah“ und die Gestapo sie der Homosexualität verdächtigte. Er sei „jeden tag zum verhör und zurück in seine zelle“ geführt worden. Da habe er „den staat von innen gesehen, von seinem innersten inneren.“ Beide wurden frei gelassen. Seinen Eltern, so Aicher, habe er „nichts erspart, was einen kultur- und generationenkonflikt zur hölle machen kann.“
Bündischer Lebensstil
Einer seiner Klassenkameraden war Werner Scholl, jüngster Sohn von MagdalenE und Robert Scholl. Durch ihn lernte er ab Herbst 1939 auch die anderen Geschwister Inge – seine spätere Ehefrau –, Hans, Elisabeth und Sophie kennen. „Er war viel bei den Scholls“, so seine Schwester, dort sei für ihn „alles gut und recht und schön“ gewesen. Weil er es ablehnte, Mitglied der Hitlerjugend (HJ) zu werden, wurde er im Frühjahr 1941 nicht zum Abitur zugelassen. Lieber klopfe er kilometerweit Steine, soll er gesagt haben, als in die HJ einzutreten. Im Hause Scholl begegnete Aicher auch Ernst Reden, einem jungen Schriftsteller aus Köln, der seit seiner Stationierung in Ulm 1935 ein Freund der Familie war. Reden und Hans Scholl waren eng verbunden mit der „deutschen autonomen jungenschaft (dj.1.11)“. Lange konnte sich in dieser exklusiven, bündischen Gruppierung ein Gegenmilieu zur Hitlerjugend halten. Reden bestätigte nicht nur Scholl in dessen elitärer, individualistischer Lebensweise, sondern beeinflusste auch Otl Aicher. In seinen Briefen an den acht Jahre Jüngeren vertrat er nachdrücklich die dj.1.11-Ideale weltoffener Wahrhaftigkeit und intellektueller Selbsterringung.
Als sich Aicher später – nicht ohne Pathos – als existenzialistischen Einzelgänger entwirft, ist das Echo der dj.1.11 deutlich: Naturerfahrungen bei Kohtenfahrten, Begeisterung für die Moderne, Technik und Ästhetik, Nähe zum Bauhaus, Russophilie und Kleinschreibung. Der bündische Lebensstil entsprach Aichers Neigungen: nicht zuletzt der Aufenthalt in der freien Natur, etwa gewagte Skitouren in den Bergen. Das waren Begegnungen, durch die sich ein enger Freundeskreis bildete, der ihn gegenüber dem totalitären Staat stärkte.
Um der Mobilmachung zu entgehen, ließ er sich Ende 1940 einen Heizkörper auf die linke Hand fallen – drei Finger blieben steif. Trotz dieses Handicaps wurde er im September 1941 zur Wehrmacht eingezogen. Zunächst war er in Frankreich stationiert, dann an der Ostfront. In den nächsten Jahren nutzte er jede Gelegenheit, auch durch selbstverursachte Krankheiten und Lazarettaufenthalte, dem Krieg zu entkommen. Als er im Frühjahr 1945 an der oberen Mosel stationiert war, desertierte er im März und versteckte sich im Schwarzwald, wo die Familie Scholl nach der Sippenhaft im abgelegenen „Bruderhof“ in der Wutachschlucht Zuflucht gefunden hatte. „Lieber krank daheim als gesund tot“ war seine Devise. Zweiundvierzig Jahre später überlegte er, wie ein Denkmal für den Soldaten des Zweiten Weltkriegs aussehen könnte: „gäbe es also ein heldendenkmal, es wäre das denkmal des deserteurs.“ Im Mai 1945 kehrte er in das von Amerikanern besetzte Ulm zurück. Der desertierte Gefreite war jetzt ein Befreiter. Damit unterschied er sich deutlich von den meisten Deutschen, die als Besiegte nur langsam erkannten, dass erst ihre Niederlage ihnen die Freiheit ermöglichte.
Fundamental katholisch
Vermutlich hatten die Söflinger Mentoren Pfarrer Weiß, Pater Eisele und Kaplan Wüstenberg den jungen Aicher auf Carl Muth (1867 – 1944) und Theodor Haecker (1879 – 1945) aufmerksam gemacht. „ich fahre nach münchen, allein, und diskutiere mit theodor haecker und mit carl muth“, erinnerte er sich in seinen 1985 erschienenen „innenseiten des kriegs“. Die Gelehrten gehörten zum „Renouveau Catholique“, einer konservativen Strömung innerhalb des Katholizismus, die den Rationalismus überwinden und zurück zu den religiösen Traditionen der Kirche wollte. Der 19-Jährige hatte Haecker und Muth seinen Aufsatz über Michelangelos Sonette gesandt und hoffte, er werde in der von Muth monatlich edierten Kulturzeitschrift „Hochland“ veröffentlicht. Das geschah nicht, aber die beiden Männer wurden für ihn zu intellektuellen Vaterfiguren. Unter ihrem Einfluss, und dem des Religionsphilosophen Romano Guardini, entwickelte sich Aicher zu einem Fundamentalkatholiken mit ausgeprägtem Sendungsbewusstsein, „um des Geistigen willen“. Seine Missionsobjekte waren vornehmlich die Scholls und Ernst Reden. Carl Muth sollte ihn bei seinen Bekehrungsversuchen unterstützen. Ihm schrieb er, es gebe nichts, was ihn leidenschaftlicher beschäftigen könne, als diese zum Übertritt zur katholischen Kirche zu bewegen.
In vielen Gesprächen, langen Briefen und gemeinsamen Lesungen versuchte er besonders Inge, Sophie und Ernst Reden religiös zu beeinflussen. Sie sollten erkennen, dass des Menschen Glück und Heil nur im Gott der katholischen Kirche zu finden sei. Mit Texten des Kirchenvaters Augustinus wollte er ihnen „den letzten Schliff“ geben. Sie würden schließlich „Freunde werden, die sich hassen, weil sie sich lieben mit einer Liebe, die in Gott ihren Angelpunkt hat.“
Seine Bemühungen hatten einigen Erfolg: Die drei intensivierten ihre religiösen Gedanken und vertieften ihr Glaubensleben deutlich. Dennoch wurde Aicher nicht zum entscheidenden Ideengeber des Widerstandskreises „Weiße Rose“, auch wenn er nach dem Krieg diesen Eindruck zu erwecken suchte. Sein Einfluss auf Hans Scholl, den Kopf der Freiheitskämpfer, der seit April 1939 in München studierte, und Alexander Schmorell, seinen Mitstreiter, war dafür zu peripher. Inge und Ernst Reden wussten nichts von den Aktionen und Sophie war nicht die Zentralfigur. Das eigentliche Ziel, die Konversion, gelang nur bei Inge. Am 22. Februar 1945, dem zweiten Todestag ihrer Geschwister Sophie und Hans, trat sie zur römisch-katholischen Kirche über, indem sie sich erneut taufen ließ. Die Scholls und Ernst Reden blieben Protestanten. Der Missionar Aicher war von der Macht seines Geistes überzeugt. Sein Freund Kaplan Wüstenberg hielt ihm deshalb vor, er sehe in den anderen „deine Kreaturen, die gar nicht eigen denken, sondern so wie Du jedesmal willst.“
Schemel für den Geist
Der 17-jährige Otl Aicher machte Eindruck auf den 25-jährigen Ernst Reden: „Ich bin ja wirklich im Tiefsten bestürzt, dass im Kopf eines jungen Menschen solche Gedanken gedacht werden“, bekannte er Inge Scholl. Einige seiner Überlegungen publizierte Aicher im „Windlicht“, dem Rundbrief des Schollschen Freundeskreises, der ihre Betrachtungen zu literarischen, religiösen und philosophischen Themen versammelte. Es erschienen mehrere hektografierte Hefte, die an etwa zehn Personen versandt wurden. Er schrieb aber auch ohne Publikationsmöglichkeit über Franz von Assisi, Politik, Kultur, Kosmologie, Armut, Griechentum, Pneumologie, Macht, Geologie, Christentum, Körperschönheit und Philosophie.
Die 25-seitige Betrachtung über die Sonette Michelangelo Buonarottis (1475 – 1564) ist seine längste Arbeit. Aicher interpretiert hier einige Verse der insgesamt 302 Sonette Michelangelos. Er sieht in ihnen seine These bestätigt, dass der Mensch seine Vollendung nur in Gott finde. Alles Existierende sei nur zu diesem einen Zwecke da: „Es ist ja doch die Welt und auch unser Leib nur da als ein Schemel für unsern Geist.“ Alles sei „lächerlicher Kram, wenn nicht die Glut der Gottesliebe dabei ist.“ In den Sonetten sieht er den Weg von der Lust zur Liebe, vom Vergänglichen zum Ewigen, vom Menschen zu Gott poetisch gespiegelt. Philosophierend war Aicher ein Asket, der leibfeindlich alles der „Gottesliebe“ unterordnete. Sophie Scholl hat das fasziniert, denn sie fragte ihren Freund Fritz Hartnagel, ob er nicht glaube, das „Geschlecht könnte vom Geiste überwunden werden“.
Otl Aicher war ein zwiespältiger, widerspruchsvoller Charakter. Eigenartig war sein Verhältnis zu Emotionen: Voller Gefühl war er gegen Gefühlsmenschen; er wollte allein die göttliche Liebe gelten lassen und manipulierte doch Menschen und Erinnerungen; er glaubte innig, verstand sich aber nur als Denker. Hätte der knapp 20-Jährige immer noch hymnisch von Michelangelo geschwärmt, wenn er bemerkt hätte, dass viele Sonette homoerotische Lyrik sind? Aicher erfuhr Homoerotik – anders als Hans Scholl und Ernst Reden – wohl nur latent in der Begegnung mit Bruno Wüstenberg.
Ein halbes Jahr nach der Hinrichtung der Geschwister Scholl, so berichtete Aicher einem Freund, „habe sich wohl entschieden“, dass er Bildhauer werde. Die bildnerische Begabung teilte er besonders mit Sophie Scholl, zu der er sich hingezogen fühlte. In seinen „innenseiten des kriegs“, seiner literarischen Selbstdarstellung vierzig Jahre nach diesen Ereignissen, entwarf er ein Bild von Sophie und sich: „für uns bedeuteten aristoteles und thomas von aquin und auch augustinus sehr viel. die auseinandersetzung mit ihnen hat unser denken geschärft und zu einer autonomie geführt, die es uns erlaubte, gegen eine ganze welt zu stehen, wenn wir uns im einklang mit uns selbst fühlten, im einklang mit unserem trainierten kopf und seinen perspektiven.“ Dem hingegen bekundete Sophie mehrfach, welche Mühe es ihr bereitete, die Bekenntnisse des Augustinus oder deren Interpretation zu lesen, Aristoteles und Thomas von Aquin sind ungleich anspruchsvoller. Doch in seinen Erinnerungen gestaltete Aicher sie zur politisch-philosophischen Denkerin und sich zum geistig-moralischen Mentor. Diese Rolle steht in eigenartigem Kontrast zum wirklichen Geschehen, war er doch zu keinem Zeitpunkt in die Aktivitäten der Münchner Gruppe eingebunden. Richtig ist, dass er tragisch in den Tod der Geschwister „verflochten“ war, weil er am Tag vor ihrer Verhaftung eine Warnung an sie nicht rechtzeitig weitergab.
Diese Verflochtenheit ließ ihn zeitlebens nicht los. Kurz vor seinem Unfalltod 1991 zog sich Otl Aicher in sein Atelier in Rotis zurück. Jetzt entwarf er Büsten von Hans und Sophie. Vorausgegangen war ein anderes Porträt: sein eigenes.
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Der Artikel steht mit Anmerkungen auch auf www.otlaicher.de.