Auf der Suche nach gerechtem Frieden
Als die Lehre vom „gerechten Frieden“ nach 1945 entstand, bedeutete sie eine wesentliche Zäsur in der Geschichte christlicher Friedensethik. Nach und nach setzten sich ihre Grundgedanken durch. Aber wer einen „gerechten Frieden“ herstellen will, darf nicht die Augen vor der Realität des Krieges verschließen. Ein Überblick über die Entwicklung der evangelischen Friedensethik von Eberhard Pausch, Studienleiter für Religion und Politik an der Evangelischen Akademie Frankfurt/Main.
Das „Dritte Reich“ und der Zweite Weltkrieg brachten zuvor unvorstellbares Leid über die Welt: das Grauen der Konzentrationslager und den Holocaust, den Atomtod in Hiroshima und Nagasaki, mehr als sechzig Millionen Tote. Unzählige Menschen standen vor den Trümmern ihres Lebens. Die evangelische Christenheit in Deutschland suchte nach einem Neuanfang – im Geist des Friedens.
Zwei Texte der Nachkriegszeit wurden in diesem Zusammenhang bedeutsam. Da war zum einen die Einsicht des Stuttgarter Schuldbekenntnisses (1945): „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden.“ Zum anderen gab es die Erklärung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) von Amsterdam (1948): „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.“ Ein Neuanfang, bei dem ausdrücklich auch das „Täter-Land“ Deutschland einbezogen wurde, war möglich, weil das Schuldbekenntnis in der ökumenischen Gemeinschaft der Kirchen auf Resonanz stieß.
Der friedensethische Aspekt des Neuanfangs bündelt sich in dem zitierten Sollen-Satz des ÖRK. Er öffnete den Weg zur Lehre vom gerechten Frieden, die sich in den folgenden Jahrzehnten allmählich entwickelte und sowohl in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) als auch für die römisch-katholische Kirche die bis dahin nahezu konkurrenzlos gültige Lehre vom gerechten Krieg ablösen sollte.
Mit der Gründung der Bundesrepublik begann aber sogleich auch eine heftige politische Debatte um die „Wiederbewaffnung“ und die zur Abschreckung gedachte Stationierung von Atomwaffen in Deutschland. In der EKD wurde kontrovers diskutiert, ob eine atomare Abschreckung ethisch zulässig sein könne. Es kam damals zu keinem Konsens. Die Synode von Spandau fand 1958 zur sogenannten Ohnmachtsformel. Die einzige Übereinstimmung der beiden zerstrittenen Lager bestand in dem Satz: „Wir bleiben unter dem Evangelium zusammen.“ Die Heidelberger Thesen von 1959 verwendeten die aus der Physik importierte Metapher der „Komplementarität“, um diese Aporie konstruktiv zu deuten. Der Weg aus der Aporie konnte nur über die Weiterentwicklung der Friedensethik führen.
Stellt man die fünf entscheidenden friedensethischen Paradigmen einander gegenüber, die teils seit dem Altertum existieren, so kann man sie näherungsweise durch einfache Formeln wiedergeben, die dann weiter erklärt und ausdifferenziert werden müssen:
Bellizismus: Der Krieg ist das „höchste Gut“. Menschen sollten danach streben, sich im Krieg zu bewähren.
Heiliger Krieg: Kriege müssen sein, wenn Gott es so will. Dann müssen Christenmenschen bereit sein, Kriege zu führen.
Radikaler Pazifismus: Krieg darf unter keinen Umständen sein, da er gegen Gottes Willen verstößt. Christenmenschen ist es nicht erlaubt, sich an Kriegsführung zu beteiligen.
Gerechter Krieg: Krieg darf nur dann geführt werden, wenn bestimmte Kriterien erfüllt sind (wie das Vorliegen eines gerechten Grundes, die Kriegsführung durch eine legitime Autorität, die Absicht, dadurch Frieden zu stiften). Die Kriterien müssen streng geprüft werden. Wenn sie etwa im Falle eines Verteidigungskrieges erfüllt sind, ist Kriegsführung (auch nach Gottes Willen) erlaubt.
Gerechter Friede: Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein. Christenmenschen sollten konsequent vom Frieden her denken und von ihm her und auf ihn hin handeln.
Eine Kriegsbegrenzungslehre
Betrachtet man die Geschichte christlicher Friedensethik insgesamt, dann dominierte spätestens seit Augustinus (354 – 430) bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges – also anderthalb Jahrtausende lang – das Paradigma des gerechten Krieges, verstanden als eine Kriegsbegrenzungslehre. Nicht unbeträchtlichen Einfluss hatte auch die Lehre vom Heiligen Krieg, etwa in der Epoche der Kreuzzüge. Eine zu allen Zeiten existierende Minderheitenposition war die des Pazifismus, die sich auf biblische Schlüsseltexte, etwa die Bergpredigt Jesu, berufen konnte. Als die Lehre vom gerechten Frieden nach 1945 entstand, bedeutete sie einen theologischen Neuanfang und eine wesentliche Zäsur in der Geschichte christlicher Friedensethik. Nach und nach setzten sich ihre Grundgedanken durch.
Im Raum der EKD vollzog sich die gedankliche Entwicklung vor allem durch Denkschriften, die immer auch auf konkrete Herausforderungen der jeweiligen Gegenwart bezogen waren. Auch wenn sie nicht so hieß, war die sogenannte Ost-Denkschrift der EKD von 1965 im Grunde die erste „Friedensdenkschrift“. Denn ihre zentrale Botschaft war die Versöhnung Deutschlands mit seinen östlichen Nachbarstaaten. Die bedeutsamen Folgen und Auswirkungen dieser Schrift reichten über die Entspannungspolitik der 1970er-Jahre bis hin zur deutschen Wiedervereinigung 1990.
Bis heute liegen zwei „Friedensdenkschriften“ im engeren Sinne des Wortes vor: „Frieden wahren, fördern und erneuern“ (1981), entstanden in einer Spannungsphase des Kalten Krieges vor dem Hintergrund des damaligen, in der bundesdeutschen Öffentlichkeit höchst umstrittenen NATO-Doppelbeschlusses. Sodann: „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ (2007), eine anderthalb Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Krieges erarbeitete systematische Entfaltung der Lehre vom gerechten Frieden, die auch eine Reaktion auf die Huntington-These vom „Kampf der Kulturen“ und die Terroranschläge vom 11. September 2001 mit den anschließenden kriegerischen Auseinandersetzungen in Afghanistan und im Irak darstellte.
Dazwischen erschienen 1994 und 2001 weitere EKD-Texte, die ebenfalls schon den Begriff des gerechten Friedens benutzten, um die Überwindung der Lehre vom gerechten Krieg semantisch anzuzeigen. Zweierlei ist daran bemerkenswert: Die Lehre vom gerechten Frieden wurde im Medium der „Denkschrift“ ausgestaltet, also in argumentativer Form. Und sie wurde und wird stufenweise entwickelt – im Blick auf die immer wieder neu durch Gewaltakte und militärische Konflikte erschütterte globalisierte Weltwirklichkeit des dritten Jahrtausends. Wer einen gerechten Frieden herstellen will, der darf daher nicht die Augen vor der Realität des Krieges und der Gewalt verschließen und sollte sich auch über die Natur der Menschen nicht täuschen, die immer auch Sünderinnen und Sünder sind, wie es die Bibel sagt. Der Mensch mag nicht notwendig des Menschen Wolf sein, wie Thomas Hobbes meinte, aber daraus folgt noch nicht, dass diese Welt ein Streichelzoo (der Sozialethiker Johannes Fischer sprach äquivalent von einer „Zuckerwattewelt“) wäre.
Was besagt nun die Lehre vom gerechten Frieden? Dazu fünf Thesen:
Erstens: Die Lehre vom gerechten Frieden stellt eine normative Basisgrammatik für die Friedenspolitik dar. Schon ihr Name ist wichtig. Denn eine Friedensethik, deren Grundbegriff „Krieg“ heißt, liegt auf einer schiefen Ebene („slippery slope“), weil sie ihr eigentliches Ziel und ihren Leitgedanken nicht im Blick hat. Hierin besteht somit eine wesentliche (nicht nur semantische) Differenz zur Lehre vom gerechten Krieg.
Zweitens: Die Lehre enthält einen Grundgedanken und zwei wichtige Prinzipien. Der Grundgedanke lautet: Frieden ist seinem Wesen nach zutiefst verbunden mit Recht (im Sinne des internationalen Völkerrechts) und mit Gerechtigkeit (im Sinne einer materiellen und sozialen Grundversorgung für alle Menschen, die Nahrung, ein Dach über dem Kopf und Bildungsmöglichkeiten umfasst). Die zwei Prinzipien besagen: a) Prävention und proaktives Handeln haben Vorrang vor Intervention(en) aller Art. b) Ziviles Handeln (im Sinne von Politik, Diplomatie, Entwicklungszusammenarbeit, zivilen Friedensengagements) hat Vorrang vor dem militärischen Handeln.
Drittens: Die Lehre vom gerechten Frieden ist kein normativ starres, stabiles Gebäude, sondern ein lebendiger Lernprozess, grundlegend für konkrete Friedenspolitik, die aus Kunst- und Anwendungsregeln besteht. Um diese auf die jeweils gegebene Weltwirklichkeit anzuwenden, bedarf das „weltliche Regiment“, also die Politikerinnen, Politiker und die politisch engagierte Zivilgesellschaft, einer ungeschönten, realistischen Weltwahrnehmung. Zu unterscheiden sind also drei Ebenen: Friedensethik als Basisgrammatik, Friedenspolitik als Set von Kunst- und Anwendungsregeln und das praktische Handeln in der konkreten Weltwirklichkeit.
Viertens: Wer Frieden stiften will, muss vier wesentliche Dimensionen im Blick haben: (a) Schutz vor (physischer oder psychischer) Gewalt, (b) Förderung von Freiheit im Sinne der Gewährleistung von demokratischen Grundrechten und staatsbürgerlichen Beteiligungsmöglichkeiten, (c) Abbau von materieller/sozialer Not wie Hunger, Durst, Obdachlosigkeit und so weiter, (d) Anerkennung kultureller Vielfalt. Diese vier Dimensionen fungieren als Prüfinstanzen dafür, ob ein Friedensprozess sich in einem bestimmten gesellschaftlichen und staatlichen Rahmen verwirklicht.
Fünftens: „Gerechter Friede“ bedeutet aber – trotz aller sachlichen Nähe – nicht: „radikaler Pazifismus“. Dessen Kurzformel lautet ja: „Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein“, die des gerechten Friedens aber: „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.“ Das heißt: Als „rechtserhaltende“ oder „rechtserzwingende“ Gewalt kann militärisches Handeln notwendig sein. Man spricht dann von der „ultima ratio“ (dem äußersten Mittel).
Ob ein Einsatz militärischer Mittel erfolgen muss, ist gemäß der Denkschrift von 2007 zu prüfen an den allgemeinen Kriterien einer Ethik rechtserhaltender Gewalt, die in Kontinuität mit den Kriterien des „gerechten Krieges“ formuliert werden. Es geht in ihnen daher um den moralischen Erlaubnisgrund, die völkerrechtliche Autorisierung, die richtige Absicht (nämlich die Wiederherstellung des Friedens), die Verhältnismäßigkeit der Mittel und der Folgen des Einsatzes militärischer Mittel und – ganz wesentlich – um die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilpersonen. Dabei gilt als strenge Bedingung: „Nach herkömmlicher Auffassung der Ethik müssen für den Gebrauch von legitimer Gegengewalt alle diese Kriterien erfüllt sein.“
Sogar die „Ohnmachtsformel“ im Blick auf die atomare Abschreckung wurde in der Denkschrift von 2007 verabschiedet: „Die Tauglichkeit der Strategie der nuklearen Abschreckung ist jedoch in der Gegenwart überhaupt fraglich geworden. Aus der Sicht evangelischer Friedensethik kann die Drohung mit Nuklearwaffen heute nicht mehr als Mittel legitimer Selbstverteidigung betrachtet werden.“ Nur zwei Interpretationslinien dieses Satzes markierten 2007 noch eine Differenz innerhalb des Friedensparadigmas. Einig war man sich hingegen darin, dass es einen Primat des Zivilen im Blick auf die Stiftung des Friedens geben müsse und dass künftig daher den zivilen Friedens- und Entwicklungsdiensten eine noch größere Bedeutung zukommen solle.
Fünf bleibende Dissense
Allerdings: Die Wirklichkeit des andauernden Afghanistankrieges, der 2021 mit der Rückkehr der Taliban an die Macht enden sollte, führte erneut zu Differenzen und Rissen innerhalb des gemeinsam vertretenen Paradigmas. Dies belegt bereits der EKD-Text von 2014 „Selig sind die Friedfertigen“. Er zeigte fünf bleibende Dissense bezüglich: der Frage, ob auch in der Gegenwart (also: 2013/14) der militärische Einsatz in Afghanistan völkerrechtlich noch mit dem Selbstverteidigungsrecht begründet werden könne; der Frage, ob die Fortsetzung der Intervention immer neu begründet werden müsse; der Frage, welcher friedensethische Stellenwert der Bündnissolidarität zuzumessen sei; der Frage, ob es eine institutionalisierte Praxis der Tötung nicht-staatlicher Gewaltakteure gebe; der Frage, ob die Prinzipien und Kriterien der Friedensdenkschrift durch die Situation in Afghanistan bestätigt worden seien oder nicht.
Die Denkschrift von 2007 war somit kein Endpunkt der Diskussion. Das konnte sie auch nicht sein. Denn Denkschriften wollen Diskussionen anregen, indem sie sich an der Suche nach klugen Argumenten und tragfähigen Lösungen beteiligen. Das setzt immer voraus, die jeweilige Weltwirklichkeit realistisch wahrzunehmen. Ohne solchen Realismus gelangt man nicht zu friedenspolitisch geeigneten Anwendungsregeln.
Im Licht des Realismus ist zu fragen: Welche zivilen und militärischen Fähigkeiten brauchen wir heute? Und wie gelangen wir zu einer funktionierenden internationalen Rechtsordnung und zu kooperativen Strukturen, die künftigen Frieden ermöglichen? Eine bleibende Aporie stellt das Problem der Selbstblockade des Weltsicherheitsrates in Konfliktsituationen (Stichwort „Vetorecht“) dar. Auch wer also das Paradigma bejaht, hat den gerechten Frieden noch lange nicht gefunden. Das zeigt in den Frühlingstagen des Jahres 2022 auf erschreckende Weise der Krieg in der Ukraine.
Eberhard Pausch
Eberhard Pausch ist Pastor und Referatsleiter im hessischen
Sozialministerium in Wiesbaden.