Die Poppers sind keine ganz gewöhnliche Familie. Weit verzweigt ist sie und reich an verschrobenen Charakteren. Seit längerem ist man in Paris ansässig, doch die Vorfahren lebten in Österreich und Ungarn. Viele von ihnen wurden in den KZs der Nationalsozialisten ermordet, weil sie Juden waren. Vater Edgar Popper, schon eine Weile tot, hatte deshalb ein besonderes Verhältnis zu Israel, doch Mutter Marta blieb distanziert. Über die toten Verwandten und den Völkermord hat sie geschwiegen, weshalb ihre drei Kinder, inzwischen um die sechzig, kein differenziertes Verhältnis zu ihren jüdischen Wurzeln haben.
Als Yasmina Rezas Roman Serge einsetzt, ist Marta gerade gestorben. Die Ausführungen über ihre letzten Tage zeigen, dass die französische Autorin hier eine makaber-groteske Form der Komik aufbietet. Man könnte der Einfachheit halber von jüdischem Humor sprechen, immerhin entstammt Reza selbst einer weit verzweigten jüdischen Familie.
Familie Popper ist ein Ort des Chaos; abgebrochene Karrieren sind die Regel, aber leidlich erfolgreich schlagen sich dennoch alle durchs Leben. Im Zentrum des temporeichen Romans stehen die drei Geschwister: Ich-Erzähler Jean, die jüngere Nana und der ältere Serge, die Titelfigur. Er ist der Komplexeste, Schwierigste, ein neurotisches Schlitzohr, das einen Schlag bei Frauen hat. Seine Tochter Joséphine überrascht am Tag von Oma Martas Beerdigung mit der Idee, gemeinsam Auschwitz zu besuchen, um sich mit der Familienhistorie zu beschäftigen. Die Geschwister, die der Erzähler „geschichtsvergessen“ nennt, stimmen schließlich zu. Bis man dort ist, ist fast die Hälfte des Buches vorbei, die Jean großteils mit Anekdoten über sich und die Seinen füllt. Witzig und unterhaltsam ist das vorgetragen, ironisch, pointiert und mit jener zeitgeistbewussten Menschenkenntnis, die auch Rezas Erfolgsstücke Kunst oder Der Gott des Gemetzels auszeichnet.
Mit der Ankunft in Polen ändert sich der Ton, wird (noch) abgründiger. Und wohl zwangsläufig anders wird das Verhältnis des Lesers zum Geschehen, das einem nun noch näher geht angesichts des historischen Ortes und des auch befremdlichen Gedenktourismus dort. Nana und Joséphine reagieren betroffen auf das Erlebte. Jean wirkt wie immer eher neutral. Und Serge hält alles von sich fern, nörgelt über mangelnden Komfort und meint sinngemäß, die Erinnerung an das Menschheitsverbrechen könne nur ratlos machen. Nichts sei daraus zu lernen. Ein entfernter Verwandter sagt später, er sei nach seinem Besuch in Auschwitz „wie verwandelt“ gewesen. Und Serge fragt spitz: „In was?“ – worauf er keine Antwort erhält.
Auf knappem Umfang enthält dieser Roman sehr viel, Menschlich-Allzumenschliches und viele Zwischentöne. Mehr und mehr werden die Geschwister in ihrer Verletzlichkeit und Einsamkeit erfahrbar, wozu die historische Dimension des Geschehens stark beiträgt. Das erst bewirkt die Geschlossenheit von Rezas Familienbild und unterstreicht ihre das Absurde streifende Kunst. Als der Erzähler sich erinnert, wie er die Schwester Nana in Auschwitz-Birkenau erlebte, formuliert er knapp: „Ganz klar erkenne ich (…) unser geringes Gewicht, unser Garnichts.“
Yasmina Reza gelingt, was zunächst als (zu) gewagte Mischung erscheint: Sie schreibt ihren spitzzüngigen Familienroman in die Tradition der Holocaust-Literatur ein. In einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit hat die Autorin gesagt, dass sie zur Auffassung der Figur des Serge tendiere. Das Holocaust-Gedenken in seiner bekannten Form sei überholt. Mit ihrem Roman zieht Yasmina Reza daraus eine Konsequenz. Sie schreibt Erinnerungsliteratur einer neuen, etwas anderen Art.
Thomas Groß
Thomas Groß ist Kulturredakteur des Mannheimer Morgen.