Die Zeichen der Zeit erkennen

Über christliche Verantwortungsethik und die Notwendigkeit, Möglichkeit und Wirksamkeit gewaltfreier Konfliktbewältigung
Blumen liegen vor einem Bild mit einer Friedenstaube vor der ukrainischen Botschaft (22. März 2022).
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Blumen liegen vor einem Bild mit einer Friedenstaube vor der ukrainischen Botschaft (22. März 2022).

Viel ist aufgrund des Krieges Russlands gegen die Ukraine von einer notwendigen Neujustierung der evangelischen Friedensethik die Rede – auch auf zeitzeichen.net. Ralf Becker, Koordinator der Initiative "Sicherheit neu denken" der Evangelischen Kirche in Baden, wirbt eindringlich für zivile Widerstandsmethoden und widerspricht entschieden der herrschenden Logik militärischer Eskalation.

Roger Mielke formulierte jüngst zu Recht „wirklichkeitsgesättigte Argumentation“ als zentrale Anforderung an eine evangelische Friedensethik nach dem 24. Februar 2022. Johannes Fischer fordert in gleicher Weise eine „wirklichkeitsgemäße“ Friedensethik als „Gegenteil von Realitätsverleugnung“.

Die weltweit drängendste Wirklichkeit ist auf lange Sicht die von Wissenschaftler*innen bei Nichterreichung des weltweiten Zwei-Grad-Ziels einhellig prognostizierte Unkontrollierbarkeit der zunehmenden globalen Erderwärmung, die das Leben unserer gesamten Menschheit bereits heute unwiederbringlich unsicherer macht.

Friedensethik kann und darf schon allein von dieser Wirklichkeit her nichts anderes sein als Verantwortungsethik. Auch weltweite Pandemien bestimmen zunehmend unsere Wirklichkeit - und erfordern ebenfalls eine klare Verantwortungsethik. Dazu kommt die weltweit zunehmende Gefährdung unserer freiheitlichen Demokratien von innen wie von außen. All diese systemisch miteinander und ineinander verzahnten Entwicklungen fordern die Friedensethik heraus, trotz all der damit verbundenen Dilemmata Orientierung anzubieten in einer zunehmend chaotischen Welt.

Otto Scharmer beschreibt die derzeitige Epochenschwelle als Wechsel einer bisherigen „Mentalität der Fragmentierung, Isolierung und Trennung“, eines binären Denkens, „das auf der Einteilung der Welt in Gut und Böse beruht“, zu einer zunehmenden „Fähigkeit, kollektives Handeln aus einem gemeinsamen Bewusstsein des Ganzen heraus zu initiieren (Collective Action from Shared Awareness, CASA)“.

NATO: Keine unverantwortliche Eskalation des Krieges

Die Macht kollektiven Handelns aus einem solchen geteilten Bewusstsein heraus zeigt sich in der aktuellen Krise unter anderem (1) im für Präsident Putin unerwarteten kollektiven Widerstandsgeist der Ukrainer*innen, (2) in der schnellen und entschlossenen Reaktion der EU und zahlreicher anderer Staaten, (3) in der eindeutigen Verurteilung des Überfalls durch die UN-Vollversammlung und (4) auch in der schnellen Ankündigung entschlossener militärischer Auf- und Ausrüstung der Bundeswehr durch Bundeskanzler Olaf Scholz.

Verantwortliches Handeln in kollektivem systemischem Bewusstsein zeigt sich dabei unter anderem in der Entscheidung der UN und der NATO, keine – gesinnungsethisch wünschenswerte – Flugverbotszone über der Ukraine auszurufen, da deren Durchsetzung eine unverantwortliche Eskalation des Krieges bis hin zu einem möglichen Atomkrieg bedeuten würde.

Zunehmendes kollektives Handeln aus einem gemeinsamen Bewusstsein des Ganzen heraus konnten wir auch bereits in der Reaktion auf das Coronavirus beobachten, als gesellschaftlich als notwendig erkannte Maßnahmen in einer Schnelligkeit und Konsequenz politisch umgesetzt wurden, die wir vor der Pandemie für unmöglich gehalten haben.

Auch die tektonischen Verschiebungen des Falls der Berliner Mauer, der relativ friedlichen Auflösung der Sowjetunion, des relativ friedlichen Endes der Apartheid in Südafrika, des ersten afroamerikanischen US-Präsidenten, der von Jugendlichen geführten weltweiten Klimaschutzbewegung und der systematischen Beleuchtung systemischen Rassismus‘ durch die Black-Lives-Matter-Bewegung sind Ausdruck dieser neuen kollektiven Kraft.

Eine verantwortliche christliche Friedensethik der Zukunft sollte aus dem Vertrauen auf den stets wirksamen Geist Gottes nicht nur (1) gleiches konsequentes und entschlossenes Handeln zur Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5 Grad einfordern, (2) die konsequente Freigabe von Impfstoff-Lizenzen zur weltweiten Eindämmung von Pandemien einfordern und (3) in weiteren Bereichen wie bisher Handlungsorientierung im Bewusstsein weltweiter systemischer Zusammenhänge anbieten, sondern zudem insbesondere den Aspekt gewaltfreier Konfliktbearbeitung betonen als notwendigen Bestandteil zur gemeinsamen Bewältigung der enormen weltweiten Herausforderungen, vor denen wir als Menschheit weltweit stehen.

Agieren aus dem Geist der Gewaltfreiheit

Gerade das Bewusstsein für die Notwendigkeit und nachhaltige Wirksamkeit konstruktiver gewaltfreier Konfliktbearbeitung kann und sollte ein, wenn nicht DER originäre/r christliche/r Beitrag im Rahmen der spannungsgeladenen Epochenwende zu einem neuen weltweiten Bewusstsein und Handeln sein.

Dass gewaltfreies Handeln gerade heute kein naives, sondern im Gegenteil verantwortliches Handeln ist, belegen immer mehr Erfahrungen und wissenschaftliche Studien. So hat die Menschheit viele der weltverändernden tektonischen Verschiebungen der letzten Jahrzehnte gerade deshalb konstruktiv bewältigen können, weil sie durch das bewusste Agieren aus dem Geist der Gewaltfreiheit friedlich bewältigt wurden. Insbesondere die Christ*innen in der DDR haben sich jahrelang in gewaltfreiem Handeln geübt – und konnten so 1989 konsequent gewaltvolle Reaktionen auf die Provokationen der Stasi und damit eine gewaltvolle Eskalation wirksam und erfolgreich verhindern.

Klimaschutz-Aktivist*innen lassen sich heute ebenso von christlich geprägten Organisationen wie der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion oder gewaltfrei handeln in Techniken gewaltfreien Widerstands ausbilden wie zahlreiche Widerstandsbewegungen in Lateinamerika und die Peoples Power Bewegung der Philippinen 1985, die dort den äußerst brutalen Diktator Marcos ebenso vertrieb wie zahlreiche andere gewaltfreie Bewegungen brutale Diktaturen in aller Welt.

Die Macht der Gewaltlosigkeit beschreibt dieser Tage sehr eindrücklich Benjamin Isaak-Krauß. Er stützt sich dabei auf die wissenschaftlichen Arbeiten von Gene Sharp („Von der Diktatur zur Demokratie“) wie auch Erica Chenoweth und Maria J. Stephan („Why civil resistance works“), die in betrachteten 323 Konflikten von Regime Change, Widerstand gegen Besatzer sowie Sezession im Zeitraum 1900 bis 2006 nachwiesen, dass gewaltfreie Methoden zur Erreichung dieser politischen Ziele fast doppelt so erfolgreich sind und sehr viel nachhaltiger wirken als gewaltsame Methoden.

Bewaffnete Widerstände dauern demnach im Durchschnitt dreimal so lange wie ihre gewaltlosen Pendants, sind mit sehr viel höheren menschlichen und infrastrukturellen Kosten verbunden und zerstören oder traumatisieren regelmäßig die Zivilgesellschaft.

Doppelt so hohe Erfolgsquote

Anders als vielfach behauptet, ist das Ziel gewaltfreien Widerstands nicht, das Mitgefühl von Diktatoren zu wecken. Aktiver gewaltfreier Widerstand zielt vielmehr darauf ab, die Macht des Gegners durch eine Abfolge flexibel gestalteter und strategisch koordinierter Aktionen zu schwächen, sodass dieser keinen Schaden mehr anrichten kann. Dazu analysiert man, auf welchen Säulen seine Macht ruht, identifiziert Schwachstellen und entwickelt Strategien, um diese auszunutzen und bestimmte Säulen zum Einsturz zu bringen (. Aktiver gewaltfreier Widerstand versucht gezielt, interne Konflikte auf der Seite gewalttägiger Angreifer zu verschärfen und einzelne Gruppen zur offenen oder verdeckten Non-Kooperation zu bewegen.

Christine Schweitzer zeigt in der differenzierten Betrachtung der Forschungsergebnisse von Chenoweth/Stephan zum Ziel des Regime Change in 192 Fällen eine mehr als doppelt so hohe Erfolgs- und Teilerfolgsquote gewaltfreien Widerstands (sowie eine um fast ¾ niedrigere Misserfolgsquote) und für das Ziel des Anti-Besatzungskampfes in 76 Fällen eine gleich hohe Erfolgs- und vierfach höhere Teilerfolgsquote gewaltfreien Widerstands (sowie eine um über 50 % geringere Misserfolgsquote).

Der faktische Erfolg gewaltfreien Widerstands beruht Chenoweth/Stephan zufolge insbesondere auf folgenden drei Faktoren:

  1. Breite Beteiligung diverser Gruppen,
  2. Wechselnde Taktiken, die Druck aufbauen und gleichzeitig Repressionen minimieren,
  3. Loyalitätsverschiebungen innerhalb wichtiger Säulen der Macht des Gegners.

Eindrucksvolle Beispiele wirksamen gewaltfreien Widerstands lieferte im aktuellen Konflikt u.a. Marina Owsjannikowa, die mit lauten Rufen und einem Plakat gegen den Ukrainekrieg für die Unterbrechung der Hauptnachrichtensendung in Russlands Staatsfernsehen sorgte. Wir sehen in diesen Tagen auch Bilder gewaltfreien Widerstands in der Ukraine: Unbewaffnete Menschen, stellen sich wirksam Panzern und anderen Militärfahrzeugen in den Weg und versetzen richtungsweisende Straßenschilder.

All diese Aktionen sind – sofern sie strategisch ebenso professionell vorbereitet und koordiniert sind wie militärische Verteidigung – in Kombination mit inklusiven Sicherheitsstrukturen, gegenseitig kontrollierter Abrüstung und dem Aufbau internationaler Rechtssysteme ernstzunehmende Alternativen zur militärischen Aufrüstung.

Umfrage belegt Offenheit für gewaltfreien Widerstand 

Weltweit sind inzwischen hunderte Beispiele wirksamen gewaltfreien Widerstands wie zum Beispiel in Prag 1968 und in den baltischen Staaten 1990/91 vielfältig wissenschaftlich dokumentiert und belegt. Diese wissenschaftlichen Forschungen hat neben der evangelischen Friedensethik 2016 unter anderem der Päpstliche Rat für Gerechtigkeit und Frieden in Rom auf einer internationalen Konferenz zu Gewaltfreiheit und Gerechtem Frieden wahrgenommen, die 2017 zur Papst-Botschaft „Gewaltfreiheit: Stil einer Politik für den Frieden“ führte.

Eine repräsentative landesweite Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS) aus dem Jahr 2015 belegt auch die grundsätzliche Offenheit der Ukrainer*innen für gewaltfreien Widerstand im Falle einer ausländischen bewaffneten Invasion und Besetzung ihres Landes. Die Umfrage fand nach der Annektion der Krim und nach der von Russland 2014 unterstützten Separation der Ostukraine statt.

Chenoweth und Stephan haben 2019 auch Forschungen veröffentlicht, warum die Wirksamkeit gewaltfreien Widerstands seit ihrer Forschungsveröffentlichung im Jahr 2011 z.B. im Rahmen der sogenannten Arabellion um die Hälfte zurückgegangen ist – was unter anderem an der mangelnden Flexibilität in der Wahl der angewandten Widerstandsmethoden und an den wirksameren Gegenaktionen von Diktatoren lag.

Interessant und wichtig ist jedoch die zeitgleiche Erkenntnis, dass im gleichen Zeitraum auch die Wirksamkeit gewaltsamen Widerstands um die Hälfte gesunken ist. Das heißt im Durchschnitt ist gewaltfreier Widerstand zur Erreichung politischer Ziele auch 2019 immer noch doppelt so wirksam wie gewaltsamer Widerstand.

Christen wie Dieudonné Kardinal Nzapalainga, Erzbischof der Diözese Bangui in der Zentralafrikanischen Republik (ZAR), Träger des Aachener Friedenspreises, ausgezeichnet beim Human Rights Film Festival 2021 in Berlin und Unterstützer der Initiative Sicherheit neu denken auf dem afrikanischen Kontinent, beweisen, wie auch zahlreiche Frauen, die Wirksamkeit christlicher Gewaltfreiheit täglich gemeinsam mit Imamen in ihrem Bürgerkriegsland, indem sie ohne Todesfurcht bewaffneten Warlords Widerstand leisten und auf diese Weise einen nachhaltigen Frieden aufbauen.

Wolfgang Heinrich, Experte der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung, ehemaliger Mitarbeiter von Brot für die Welt und langjähriges Mitglied im Lenkungsausschuss von FriEnt (der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung des BMZ, der Friedens- und Konfliktforschung und zivilgesellschaftlicher Organisationen) belegt eindrücklich die nachhaltige Wirksamkeit ziviler Kriseninterventionen in hoch eskalierten Konflikten wie Somalia.

Höchst aktiver gewaltfreier sozialer Widerstand

So konnten in Nordsomalia nach der erfolglosen internationalen Militärintervention seit 1990 durch von Brot für die Welt und skandinavische Kirchen unterstützte gewaltfreie AkteurInnen stabile demokratische Verhältnisse geschaffen werden - mit wiederholten gewaltfreien Regierungswechseln und hoher allgemeiner Sicherheit für die Bevölkerung.

All diese Aspekte sind der weltweiten Christenheit nicht neu – und in der Umsetzung entsprechender Selbstverpflichtungen aus Vancouver (1983), Seoul (1990) und Busan (2013) in Deutschland in die Konzepte „Gerechter Frieden“ der Deutschen Bischofskonferenz (2000) als auch in die EKD-Denkschrift 2007 und die Kundgebung der EKD-Synode 2019 eingeflossen.

Die mögliche Alternative der Ukrainer*innen zu einer gewaltsamen Verteidigung wäre nicht ein Verzicht auf Selbstverteidigung, sondern ein höchst aktiver, auf den Schultern aller Betroffenen beruhender gewaltfreier sozialer Widerstand. Wie eindrücklich wäre es, wenn wir als Kirchen der Ukraine und anderen Staaten rechtzeitig vor dem Ausbruch von Kriegen und Gewalt Beraterstäbe zur gewaltfreien Krisenintervention zur Verfügung stellen könnten. Die katholischen Hilfswerke Misereor und Missio unterstützen ganz in diesem Sinne bereits seit 20 Jahren die Ausbildung afrikanischer Friedensfachkräfte im Rahmen der Afrikanischen Friedensuniversität, deren Absolvent*innen-Netzwerk in Afrika auf lokaler und regionaler Ebene als schnelle und aktive gewaltfreie Konfliktinterventionskräfte (INO-VAR) wirken.

Dieses Innovations-Projekt wurde 2020 zusammen mit der ZAR-Verteidigungsministerin Marie-Noëlle Koyara (zugleich Vorsitzende des Nationalen Rats für Aktive Gewaltfreiheit) und dem Vorsitzenden des Interreligiösen Rates für Frieden und Versöhnung der ZAR auf Einladung der Münchner Sicherheitskonferenz vorgestellt.

Hubert Heindl, Co-Direktor der Afrikanischen Friedensuniversität, hat die Wirkweise von INOVAR bei der Internationalen Friedenskonferenz von Missio, der Katholischen Hochschule NRW, Agiamondo, des Bistums Aachen, des BMZ-Programms Engagement Global und pax christi 2020 sowie auf einer Akademietagung der Evangelischen Landeskirche in Baden 2021 überzeugend beschrieben.

Fragilität der Infrastruktur verbietet Kriege

Entsprechend eindrücklich plädiert Egon Spiegel für eine Wende zur Gewaltlosigkeit und die Nutzung der Expertise der Friedens- und Konfliktforschung. Die Zeit, Kriege zu führen, ist vorbei. Nicht nur aus ethischen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen. Die Fragilität unserer Infrastruktur erlaubt uns nicht mehr, Kriege zu führen.

Die zunehmende weltweite Vernetzung, weltweit betriebene Atomkraftwerke, die allseitige Abhängigkeit von einer funktionierenden Stromversorgung und vieles anderes mehr lassen die Drohung mit und Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele zunehmend anachronistisch wirken.

Die Zeit ist reif, Krieg als ein untaugliches Mittel der Konfliktlösung global zu ächten, ja, in einer Weise und für immer zu tabuisieren, wie es der Menschheit mit etwa der Sklaverei gelungen ist. Bezeichnenderweise bekommen wir auf dem europäischen Territorium des Ersten und Zweiten Weltkrieges ein hoffentlich letztes Mal überzeugend demonstriert, wie "aus der Welt", ja irrsinnig der Versuch ist, Konflikte militärisch lösen zu wollen.

Auch die traumatisierenden Folgen von Kriegshandlungen kommen immer mehr ins Bewusstsein. So begründete Joe Biden den Abzug der US-Soldat*innen im Sommer letzten Jahres aus Afghanistan mit einer schockierenden Zahl: 130.000 US-Soldat*innen haben sich nach ihrer Rückkehr aus den Kriegseinsätzen in Afghanistan und im Irak seit 2001 in den USA selbst getötet. Die Wirklichkeit ist, dass menschliche Seelen an militärischer Konfliktlösung zerbrechen, selbst wenn sie nicht im Krieg getötet werden.

Aus der Zeit gefallen wirkt insofern eher der Rekurs auf die Wahrung eigener Interessen und Bedürfnisse durch Gewalt und Abschreckung als eine auf gewaltfreie Konflikttransformation, Diplomatie und die Stärkung inklusiver Sicherheitsordnungen und internationalen Rechts bedachte christliche Friedensethik.

Anachronistisches binäres Freund-Feind-Denkparadigma

Es ist leider zu fragen: Wenn es so klar war, dass Präsident Putin plante, in die Ukraine einzumarschieren (wie es die US-Geheimdienste seit vielen Monaten vorausgesagt hatten), und wenn es ebenso klar war, dass die NATO niemals direkt eingreifen kann (ohne einen Atomkrieg zu riskieren): Warum war es dann für den Westen so unmöglich, Putins oft wiederholter Hauptforderung einfach zuzustimmen: einer Garantie, dass die Ukraine nicht der NATO beitreten wird (genau wie Finnland, Schweden, Österreich und Irland, die alle Mitglieder der EU, aber nicht der NATO sind)?

Nach Otto Scharmer hinderte ein anachronistisches binäres Freund-Feind-Denkparadigma, das auf der Einteilung der Welt in Gut und Böse beruht, verschiedene US-Administrationen daran, nach 1990 in Europa ein zukunftsfähiges inklusives Sicherheitssystem mit Russland aufzubauen und eine andere Antwort auf den 11. September 2001 zu finden als einen Krieg gegen den Terror – und eine andere Rolle für die Ukraine zum Beispiel als blühende Brücke zwischen der EU und Russland ohne Mitgliedschaft in einem Militärbündnis (ebenso wie Finnland, Schweden, Österreich und Irland). Es war George Bush, der das KSE-Anpassungsabkommen zur Begrenzung konventioneller Streitkräfte in Europa – und damit einen wesentlichen Pfeiler der europäischen Sicherheitspolitik - blockierte, obwohl Russland es 2004 ratifiziert hatte.

Es geht um die Wahrnehmung auch eigener Konfliktanteile, um den berühmten Balken im eigenen Auge. Kein geringerer als der langjährige Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, betonte nach Gesprächen mit unserer Initiative am 14. Februar 2022 in der Bundespressekonferenz: „Der Westen hat gute Gründe, über eigene gemachte Fehler nachzudenken. Warum man 2007 nicht ernster genommen hat, was damals von Wladimir Putin vorgetragen wurde. Warum man 2008 den Vorstoß der amerikanischen Regierung [zur Eröffnung einer NATO-Beitrittsperspektive für die Ukraine und Georgien] nicht noch viel vehementer zurückgewiesen hat, nämlich – aus russischer Sicht – das Überschreiten einer roten Linie.“

Bereits George Kennan, der Hauptarchitekt der westlichen Eindämmungsstrategie gegen die Sowjetunion im Kalten Krieg, warnte 1997 in einem Interview mit der New York Times nach der ersten Runde der NATO-Erweiterung, dass er einen solchen Schritt als “den Beginn eines neuen Kalten Krieges” ansehe. Diese und andere Aspekte des aktuellen Kriegs und daraus resultierende mögliche Wege zu seiner Beendigung beleuchtet unter anderem der NDR-Podcast Streitkräfte und Strategien vom 10. März 2022.

Positivszenario eines Paradigmenwechsels

Im Impulspapier für eine entschlossene und besonnene Reaktion auf Putins Krieg und im Rethinking Security Report 2022 Turning the Perspective - Overcoming Helplessness beschreibt die Initiative Sicherheit neu denken diese und andere Fakten zum wirklichkeitsgemäßen Verständnis des aktuellen Krieges sowie daraus abgeleitete denkbare zivile Lösungswege zu dessen möglichst schneller Beendigung.

Das der Initiative zugrundeliegende 2018 von der Evangelischen Landeskirche in Baden veröffentlichte Szenario Sicherheit neu denken beschreibt neben einem Trend- und dem aktuell stattfindenden Negativszenario ein Positivszenario eines möglichen Paradigmenwechsels von militärischer zu ziviler Sicherheitspolitik bis zum Jahr 2040.

Die Ost-Denkschrift der EKD aus dem Jahr 1965 sowie die Kultur der Gewaltfreiheit der Evangelischen Kirche in der DDR waren wesentliche Wegbereiterinnen für die friedliche Überwindung des Kalten Krieges 1989. Ebenso sollte und könnte Evangelische Friedensethik auch heute mit Perspektiven entschlossener und gewaltfreier Lösungswege über das wieder aufkommende binäre Freund-Feind-Denken hinausweisen.

Es geht um die Frage, ob wir als Christ*innen in Deutschland auf Dauer mit über 70 Milliarden Euro im Jahr die drittgrößten nationalen Militärausgaben der Welt (noch vor Russland) verantworten können und wollen. Es geht um den Kern unserer christlichen Botschaft: die Überwindung des Freund-Feind-Denkens zugunsten eines nachhaltigen systemischen Bewusstseins und inklusiven Handelns - inklusive der Übernahme der Verantwortung für eigene Konfliktanteile.

Verantwortliche christliche Friedensethik kann und muss insofern über gewaltvolle Realpolitik hinausweisen und sich nachhaltig für eine zivile und friedliche Transformation von Konflikten einsetzen.

 

Ralf Becker koordiniert im Auftrag der Evangelischen Landeskirche in Baden die Initiative Sicherheit neu denken. Von 2012 bis 2019 koordinierte er den gewaltfrei handeln e.V., der seit 1992 entsprechend der 1990 von der ÖRK-Vollversammlung in Seoul formulierten Selbstverpflichtung in Deutschland die Ausbildung von Fachkräften für Friedensarbeit als Projekt der EKD umsetzt. Zuvor wirkte Becker u.a. als Referent für die Studie Zukunftsfähiges Deutschland bei Misereor und war Mitinitiator der ökumenisch-zivilgesellschaftlichen Kampagne erlassjahr.de, die 1999 beim G8-Gipfel in Köln die Entschuldung von 20 höchst verschuldeten Ländern des globalen Südens erreichte.

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Ralf Becker koordiniert im Auftrag der Evangelischen Landeskirche in Baden die Initiative Sicherheit neu denken. Zuvor koordinierte er den gewaltfrei handeln e.V., der seit 1992 in Deutschland Fachkräfte für Friedensarbeit ausbildet.


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