Klangrede von Gott

Ein Plädoyer für die gottesdienstliche Integration religiös inspirierter Popmusik
Herbert Grönemeyer bei einem Konzert 2021. Sein Lied „Der Weg“ zählt zu den beliebtesten bei Trauerfeiern.
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Herbert Grönemeyer bei einem Konzert 2021. Sein Lied „Der Weg“ zählt zu den beliebtesten bei Trauerfeiern.

Musik ist zentral als spiritueller Ausdruck des Seins und religiöser Erfahrung. Aber wird sie auch in diesem Sinne in evangelischen Gottesdiensten ernst genommen? Der Jazzmusiker Uwe Steinmetz, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Praktische Theologie der Universität Leipzig, hat da seine Zweifel und plädiert für mehr Popmusik im  Gottesdienst.

Mode, Kunst, politische, kulinarische oder sexuelle Orientierung mögen für eine manchmal scheinbar spirituell bis religiös anmutende Expressivität des Einzelnen in unserer Gegenwart stehen. Doch es ist die Musik, die diesen Schein von allen am besten aufzuheben vermag und in ihrem Wesen als Medium der Klangrede von religiöser Vorstellung und Erfahrung überstrahlt: Wenn sie andächtig ausgeführt wird – wie es Johann Sebastian Bach als Möglichkeit der Gottesgegenwart betonte – und wenn sie uns ergreift und mitreißt. Zum Beispiel beim befreiten, ja schamlosen ekstatischen Singen, ob in der Badewanne, im Gottesdienst, bei der Matthäuspassion, im Flashmob oder im Stadion.

Die andächtige Ausführung der Musik liegt bei den Musiker:innen, während das Ergriffenwerden bei allen Hörenden geschehen kann: den Interpret:innen und den Zuhörer:innen. Während das andächtige Ausführen der Musik Spiritualität als Inspiration impliziert, kann die Musik selbst durch die ihr innewohnenden Qualitäten spirituelle Erfahrungen kontextunabhängig auslösen.

Das Zusammenspiel von religiöser Inspiration und das Erleben von Musik als spirituelles Ereignis muss daher besonders im Gottesdienst zusammenkommen. Unsere christliche Identität, unser Selbstverständnis als Christen hängt entscheidend davon ab, wie wir unseren Glauben an Gott feiern und wo wir spirituelle und religiöse Erlebnisse erfahren, in Gottesdiensten, Andachten, aber sicherlich auch in Konzerten. Jede gottesdienstliche Musik eröffnet und verschließt Möglichkeiten für die Gestaltung unseres Menschseins und gestaltet unsere christliche Identität kontextuell immer wieder neu, genauso wie die gottesdienstliche Sprache und der Einsatz unserer Körper in der Liturgie. Musik fordert uns heraus, indem sie uns zu einer bewussten und intensiven Teilnahme an den ästhetischen Aspekten unseres Menschseins bringt. Sie stimuliert unsere physischen, emotionalen und imaginativen Fähigkeiten und hilft dabei, unserer Spiritualität im Alltag Ausdruck zu verleihen.

Musik ist in diesem Sinne zentral als spiritueller Ausdruck des Seins und von individueller religiöser Erfahrung zu verstehen – diese Zuschreibungen finden sich in der Musikgeschichte aller Weltkulturen durch alle Epochen wieder. Aber werden sie auch in evangelischen Gottesdiensten ernst genommen? Wird Musik andächtig im Gottesdienst musiziert und kann sie kraftvoll spirituelle Erlebnisräume in die Liturgie hineintragen – oder wird sie reglementiert, gekürzt und verkümmert durch zu viele Worte und zu viel Zerstreuung in der Ignoranz gegenüber ihrem Potenzial?

Dieses Potenzial der Musik wurde schon durch den Kirchenvater Augustinus benannt, wenn er über seine tiefe Ergriffenheit durch liturgische Gesänge reflektiert. Ergriffenheit, das Eins-Werden mit dem erlebten und gestalteten Ausdruck – bei den Ausführenden wie bei den Hörenden – überschreitet musikalische Stilepochen, ist gegenwärtig als auch geschichtlich. Martin Luther deutete unablässig auf diese immanente Kraft der Musik, die er in der Vokalpolyphonie seines Zeitgenossen Josquin des Préz erlebte. Luther insistierte, dass die neuen Lieder der Gesangbücher, deren Melodien sich an berühmten Volksliedern (der populären Musik seiner Zeit) oder Neufassungen Gregorianischer Hymnen orientierten, kunstvoll gebraucht werden sollten, polyphon und über ihren Text hinausweisend, als Mittel zur christlichen Menschwerdung. Hiervon geben Bachs Choralkantaten ein klangvolles Zeugnis, und ebenso in unserer Gegenwart, wenn der Pianist Tord Gustavsen als Lutherischer Christ über Bachs Choral O Traurigkeit, o Herzeleid in der Philharmonie improvisiert.

Heute sind Kirchen nicht mehr primär die Orte der musikreligiösen Erfahrung, wenn sie der Musik nicht genügend Raum zu ihrer spirituellen Entfaltung einräumen und deren Klangrede von Gott ignorieren. Oftmals sind es die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Popmusikstile mit weit zurückreichenden Wurzeln in afrikanischer und europäischer Volks- und ritueller Musik, die heute jenseits von Kirchenmauern als global präsente Genres wie Gospel, Spirituals, Spiritual Jazz, religiös inspirierter Hip-Hop und Singer/Songwriter von einem individuellen Glauben der Künstler:innen erzählen, poetisch, manchmal kritisch, auch gerne mystisch, immer aber persönlich. „When I get up on stage, well, that’s my whole life, that’s my religion. My music is electric church music (...).”Dieses berühmte Zitat von Jimi Hendrix relativiert Kirche als Institution und subjektiviert Religion als individuelle Expressivität. Warum brauchen wir denn so etwas im Gottesdienst?

Während die Neue Musik nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland nur zögerlich zu einer neuen Sakraltradition aufbrach und sich konzeptionell von der Liturgie entmutigt abwandte – Dieter Schnebels Lebenswerk sei hier herausragend als große inspirierende Ausnahme genannt –, hielten stattdessen Jazz, Blues, Spirituals, Gospel und Beatmessen in protestantischen Kirchen Einzug. Nur spärlich wurden sie allerdings gottesdienstlich integriert etwa als Liturgical Jazz, Neues Geistliches Lied oder als Worship. Die kritischen Stimmen, die kulturellen Werteverfall in Gottesdiensten seit Jahrzehnten wittern, übertönen leider wirksam die vielen Hinweise über den Wert von Popmusik als Rede von Gott und spirituellem Erfahrungsraum als Herausforderung für die Kirche und ihre Kirchenmusik.

Einfach einbinden

Dabei geht es darum, die Tradition der protestantischen Kirche als Ort religiöser Inspiration durch die Integration von Elementen der populären Gegenwartsmusik zu stärken. Dies kann schlichter erfolgen als gedacht, nämlich durch die einfache Einbindung von religiös inspirierter Popmusik von Künstler:innen die jenseits der Kirchen über ihre Spiritualität musikalisch erzählen. Notwendig ist eine achtsame Einbindung in die Liturgie, das Abstimmen der gelesenen und gebeteten Worte und die Findung einer ästhetisch stimmigen Klangsprache für alle Choräle und Lieder eines Gottesdienstes. Das Handwerk erfolgt in Abstimmung mit einem oder mehreren professionellen Popmusiker:innen. Diese Integrationsarbeit zahlt sich aus: Gottesdienste mit einem Lied von Sting, Herbert Grönemeyer oder Janne Mark kommen dabei ohne christliche Stilkopien von Popmusik aus, sie benötigen keine neuen geistlichen Lieder als Gegenüber, sondern ein starkes Lied von Paul Gerhardt. Die Verbindung von Tradition und Innovation in der protestantischen Kirchenmusik ist ein verpflichtendes und befreiendes Erbe Luthers, protestantische Kirchen brauchen dazu mehr als eine eigene kirchliche Popmusik: vor allem offene Ohren und weite Herzen für die Qualitäten und religiöser Anliegen gegenwärtiger populärer Musik. Eine wesentliche Qualität in der religiösen Sprachfähigkeit von Popmusik liegt in ihrer Entstehung. Popmusik erneuert sich nicht am Schreibtisch, sondern innerhalb einer Subkultur, deren Früchte erst später in voller Blüte und Fülle wahrnehmbar werden. Popmusik kommt nicht ohne innerlich und äußerlich bewegenden Groove aus, sie will erzählen und ergreifen. Popmusik ist verwurzelt in horizontalen Gemeinschaften, nicht diktiert von Solist:innen und dirigiertem Taktschlag.

Musikalische Archetypen für diese der Popmusik innewohnende Spiritualität sind die Ring Shouts und Circle Dances aus den afro-amerikanischen Feldkirchen des 17. bis 19. Jahrhunderts in den USA, in denen alle Beteiligten zugleich Hörende wie auch Gestaltende sind. Dabei gibt es keine uniforme Kollektivität, Tanz und die Rhythmen werden je nach Vermögen und Einfall gestaltet und nicht vorbereitet erprobt und choreografiert. Eine weitere wichtige Quelle bilden die Work Songs, Lieder, die durch den Rhythmus der Arbeit bestimmt sind. Diese Musik ist nicht auf die Taktschwerpunkte wie in der westlichen Musiknotation fixiert oder auf ebenmäßig den Takt füllende Viertel verteilt. Stattdessen entstehen zwischen den Schlägen, den Offbeats, die wichtigen melodischen Spannungsbögen. Hier liegt das Prinzip der Hip-Hop Grooves und Beats, des Swing, aber auch das des Samba mit seinen eigenen afrikanischen Wurzeln verborgen.

In der Kollektivität liegt zugleich ein vertrauensstiftendes und gemeinschaftsbildendes Element: Anrufung und Beantwortung schwingen hin und her, die Frage impliziert schon die Antwort und diese wiederum die nächste Frage, die nächste Anrufung – es swingt, Resonanzräume entstehen, zwischen den Musizierenden und Hörenden und intrinsisch in der Musik selbst. Die Performanz bestimmt zugleich die innere Gestalt, ein untrennbar verknüpftes IchWir oder WirIch statt klarer Grenzen des Individuums und der Gemeinschaft. Ebenso ist die große Show auf der Bühne inhaltsleer, wenn die Menschen nicht Tage, Wochen und Jahre davon zehren und erzählen, Musizierende und ihr Publikum zugleich. Die Urheber:innen und Zuhörer:innen sind immer auch unmittelbar ineinander verstrickt, ohne dabei die Partitur genau kennen zu müssen, das Werk oder die Werkkenntnis allein ist nicht genug, es zählt die gemeinsame Erfahrung in der Feier. Erinnert dies vage an das „Priestertum aller Gläubigen“?

Zumindest kann uns dies zeigen, dass Liturgien er-hört und nicht konsumiert werden wollen. In ihrer achtsamen Gestaltung entsteht automatisch Raum für Flexibilität und das Mysterium. Gottesdienste, die Popmusik integrieren, sind nicht der verzweifelte Versuch, Elemente des Zeitgeistes zu kopieren, sondern Dokumente der Zeitzeugenschaft, eines angstfreien kirchlichen Feierns, nicht für die Ewigkeit, sondern für und mit dem Nächsten. Oder musikalisch ausgedrückt, das Partitur-Mitlesen beim Gottesdienst reicht nicht, das Folgen des Taktstocks noch weniger, die reibungsarme und korrekte Wiedergabe von Agenden, Zeitgeist und Tagespolitik zwicken nicht am Ohr und wärmen nicht das Herz, spenden keinen Trost, weder Hoffnung noch gemeinsame Erbauung. Wenn Popmusiker derartig mutlos konzertieren würden, weinte ihnen niemand eine Träne nach.

Kritischer Kompass

Allerdings ist religiös inspirierte Popmusik selten geordneter Ausdruck einer konfessionellen Identität oder einer ausgefeilten musiktheologischen Klangsprache wie bei Olivier Messiaen oder J. S. Bach, sie kann aber durch ihre Integration in Gottesdiensten an Bedeutungsdimensionen gewinnen. Sie ist ein kritischer Kompass für die Fragilität von kirchlich und kulturell geprägten christlichen Identitäten in der Moderne und Abbild sich wandelnder Entwürfe des Menschlichen und Religiösen. Sie steht im direkten gesellschaftlichen Dialog und muss sich in Konzerten jenseits von Kirchenmauern als glaubwürdig beweisen, genauso wie ihre Schöpfer:innen. Eine fragmentarische, fluide Gesellschaft, die durch Migration, Klimawandel und sozialen Wandel geprägt ist und weiter sein wird, erklingt am Besten durch ebenso bewegliche Musik. Die evangelischen Kirchen sollten diese Klänge in reformatorischer Tradition stärker wahrnehmen und beheimaten sowie ihrer kunstvollen, andächtigen Ausgestaltung an festen kirchlichen Standorten für religiös inspirierte populäre Gegenwartsmusik mehr Raum und Zeit bieten. 

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