Das alte Bild trägt nicht mehr
Er gilt als herausragende Persönlichkeit der evangelischen Kirche des 20. Jahrhunderts: Otto Dibelius (1880 – 1967). Doch es fehlt ein Gesamtbild des führenden Theologen und „virtuosen Machtpolitikers“ sowie seines Wirkens, gerade auch in der Zeit des Nationalsozialismus, moniert der Berliner Geschichtsprofessor Manfred Gailus. Eine internationale Dibelius-Tagung vom 5. bis 7. Oktober in Marburg soll diese Lücke schließen.
Es ist stiller geworden um Otto Dibelius. Als sich im Januar 2017 sein Todestag zum fünfzigsten Mal jährte, erinnerten wenige an ihn. Keine prominent besetzte Gedenkveranstaltung, keine wissenschaftliche Tagung, kaum Artikel namhafter Theologen oder Historiker in Zeitungen oder Zeitschriften. In Berlin erinnerte man in Gottesdiensten an ihn, aber das war doch eher die kleine Form – Würdigung auf Sparflamme. Womöglich spielte auch das überbordende Reformationsgedenken 2017 eine Rolle: „Luther“ war in aller Munde und übertönte die protestantische Jahrhundertfigur Dibelius. Doch schon längst lag zu diesem Zeitpunkt ein gedenkpolitisches Kleinschreiben des einst hoch verehrten Bischofs von Berlin im Trend. 1980 sah das noch anders aus. Damals sprach der renommierte Tübinger Kirchenhistoriker Klaus Scholder in einem viel beachteten Vortrag in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zum 100. Geburtstag von Dibelius. Zum 40. Todestag im Jahr 2007 hielt der Münsteraner Theologe Albrecht Beutel im Berliner Dom einen Vortrag über den mächtigen Kirchenführer und charakterisierte ihn, unter Anknüpfung an Scholder, als singulären „preußischen Kirchenfürsten“.
Solche Superlative hört man inzwischen kaum. Das alte und bisweilen kräftig heroisierende Dibelius-Bild verblasst. Es trägt heute offensichtlich nicht mehr. Es ist an der Zeit, ein neues, heutigen wissenschaftlichen Maßstäben gerecht werdendes Dibelius-Bild zu zeichnen, das neben seinen unbestreitbaren Fähigkeiten, Leistungen und Verdiensten auch seine Schattenseiten integriert. Gewiss, er bleibt auch dann ein Großer, aber er wird an Glanz verlieren. Über seine aggressiven Kriegspredigten 1914 – 18 war in der einschlägigen Dibelius-Literatur bislang wenig zu lesen. Seine Führungsrolle im Landesverband Groß-Berlin der kriegstreiberischen „Deutschen Vaterlandspartei“ von 1917 – 18 darf nicht ausgeblendet werden. Seine permanente Agitation gegen die Weimarer Republik als „Gottlosenrepublik“ ist, ungeachtet der wichtigen Studie von Hartmut Fritz (1998), unzureichend untersucht. Seine Performance im „Dritten Reich“ bedarf erheblicher Korrekturen. Seine Haltungen zum Judentum einschließlich eines wiederholt hervortretenden veritablen Antisemitismus sind niemals in ein Gesamtbild dieser im Ganzen schillernden protestantischen Persönlichkeit integriert worden. Kurz: Nach der bislang einzigen, hochgradig apologetischen Biografie von Robert Stupperich (1989) ist die Zeit reif für eine neue biografische Studie, die Leben und Werk dieses streitbaren Kirchenführers in die Politik- und Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts einbettet und dessen Wirkungsweisen aus dieser Perspektive neu bewertet. Im Folgenden wird Dibelius’ Rolle in der Spätphase von Weimar und während des „Dritten Reiches“ thematisiert.
Dibelius mochte die Weimarer Republik nicht und neigte dazu, sie aus stolzer kirchlicher Haltung heraus als entseelte „Gottlosenrepublik“ zu schmähen. Wenige Wochen vor Hitlers Machtantritt beklagte er in einem Vortrag über das „Wiedererwachen des Glaubens in der Gegenwart“ die verheerenden Auswirkungen von Säkularisierung, Materialismus, Individualismus und allgemeinem Werteverfall. Aber er sah auch Licht am Ende des Tunnels. Seine Hoffnungen setzte er auf die „nationale Bewegung“ der Gegenwart, einschließlich der Nationalsozialisten. Mit ihrem Appell an „Blutsgemeinschaft“ und „Volksgemeinschaft“ lehne sie sich gegen den Internationalismus der Klassenkampfideen auf. Ihr Ziel, ein neues starkes Volkstum, sei nicht von dem „scharf berechnenden Verstand eines Juden erdacht“. Es entstamme vielmehr dem „Gefühl“, dem „Instinkt“, es komme „aus Regungen des Blutes“. Die nationale Bewegung kämpfe für Ideale, die nicht vom Menschen erdacht seien, sondern die er „in seinem Blute“ fühle, eben darin, was ihm „schöpfungsmäßig bestimmt“ sei. Zwar ließe sich noch nicht sagen, wie das Ringen innerhalb des Nationalsozialismus um die religiösen Grundlagen enden werde, so viel sei jedoch schon gewiss: Auch innerhalb der NS-Bewegung werde sich „bewusstes evangelisches Glaubensleben“ entfalten können.
Ende der „Gottlosenrepublik“
Dibelius versprach sich viel vom Geist der antirepublikanischen Opposition gegen Weimar, insbesondere einen starken Aufschwung des Glaubens, die Liquidierung einer Epoche des Unglaubens. Das war seine Erwartung. Der 30. Januar 1933 erscheint in dieser Perspektive als Erfüllung. Freude und tiefe Genugtuung über das Ende der „Gottlosenrepublik“ bestimmten die Gedanken des amtierenden Generalsuperintendenten der Kurmark während der ersten Monate des „Kabinetts der nationalen Konzentration“. Jetzt regieren wir auch mit – etwa so ließe sich sein aktuelles Zeitempfinden überschreiben. Die Zerschlagung der „Gottlosenbewegung“ erfolgte unter dem Beifall evangelischer Kirchenführer. Die rapide anwachsenden Kirchenaustritte hörten plötzlich auf. In den modernen, weltlichen Reformschulen wurde der Religionsunterricht wieder eingeführt. „Nichtarische“ Juristen an Gerichten wurden durch SA-Trupps mit Gewalt vertrieben. Die Osterbotschaft der preußischen Kirchenleitung sprach von „Freude über den Aufbruch der tiefsten Kräfte unserer Nation“. Dibelius predigte als politischer Theologe am „Tag von Potsdam“ in euphorischer Aufbruchstimmung auf großer Bühne. Den Staatsakt in der Garnisonkirche erlebte er aus der Nähe mit und zeigte sich vom feierlichen Handschlag zwischen Hindenburg und Hitler tief ergriffen.
Auch den Judenboykott vom 1. April 1933 rechtfertigte Dibelius gegenüber dem Ausland. In seiner „Wochenschau“ im Evangelischen Sonntagsblatt vom 9. April bekräftigte er seine positive Haltung zur NS-Judenpolitik: Bei allen dunklen Vorkommnissen der letzten 15 Jahre habe das „jüdische Element“ eine führende Rolle gespielt. Durch den jüdischen Zuzug aus dem Osten sei das „deutsche Volksleben“ gefährdet. Gegen die Zurückdrängung des jüdischen Einflusses könne niemand im Ernst etwas einwenden. Zweierlei müsse zur Lösung der „Judenfrage“ geschehen: Absperrung gegen jüdische Einwanderung vom Osten und Festigung der eigenen deutschen Art, damit sie nicht einer „fremden Rasse“ erliegt. Große Freude äußerte Dibelius im Mai über die nationalsozialistische Umprägung des 1. Mai zum „Tag der nationalen Arbeit“ und lobte dabei „Volkskanzler Hitler“ und das „geniale Organisationstalent“ von Goebbels.
Zum kurmärkischen Kirchentag Ende Mai pries Dibelius in der Potsdamer Garnisonkirche die Wandlungen seit dem 30. Januar: Der Schmutz von den Straßen sei verschwunden, der vergiftende Klassenhass von der Seele entfernt; Kinder erhielten wieder Religionsunterricht und Erwachsene besuchten erstmals wieder die Kirche. Auf der anschließenden Kundgebung vor dem Potsdamer Stadtschloss ließ Dibelius mit Pfarrer Friedrich Peter ein prominentes Mitglied der Reichsleitung der Deutschen Christen (DC) mit politischen Appellen an die evangelische Jugend zu Wort kommen.
Eine Zäsur markierten die Maßnahmen des NS-Staatskommissars August Jäger Ende Juni 1933: Sämtliche preußischen Generalsuperintendenten wurden vorübergehend suspendiert, darunter auch Dibelius. Nach Beendigung des Jägerschen Staatseingriffs konnte Dibelius zwar noch einmal seine Amtsgeschäfte aufnehmen, aber faktisch besaß er keine administrative Macht mehr. Die kurzfristig von staatlicher Seite angeordneten Kirchenwahlen vom 23. Juli brachten haushohe zwei Drittel- bis drei Viertel-Mehrheiten für die DC. Die preußische Kirchenleitung beherrschten sie inzwischen. In dieser für ihn prekären Situation richtete Dibelius ein umfangreiches, auf Verständigung zielendes Schreiben an die neue, von radikalen Deutschen Christen beherrschte Kirchenleitung. Es sei doch unhaltbar, beklagte er, dass ein Generalsuperintendent in einer Kirche, die ein freudiges Bekenntnis zum neuen Staat abgelegt habe, als politisch unzuverlässig gelte. Er wolle nun seine „tatsächliche Haltung“ klarstellen. Schon zu seiner Studentenzeit um 1900 habe er im Kampf gegen Judentum und Sozialdemokratie gestanden. Dieser Haltung sei er bis auf heute treu geblieben. Er verwies auf seine Predigt am „Tag von Potsdam“. Darin habe er sich zu einem Geist bekannt, der mit Entschlossenheit für die Größe des Vaterlands eintrete. Nach der Predigt habe ihm der preußische Ministerpräsident Göring mit warmen Dankesworten die Hand gereicht. Ebenso habe er auf Bitten von Reichsminister Goebbels über den Rundfunk nach Amerika gesprochen, um den neuen Staat gegen Gräuelpropaganda des Auslands zu verteidigen. Den DC stehe er zwar kritisch gegenüber, habe sich jedoch stets um gute Kontakte zu ihnen bemüht. So habe er Ludwig Müller – dem designierten Reichsbischofskandidaten der DC – das große Referat auf dem kurmärkischen Kirchentag angeboten. Im Rhythmus und in den Zielen ihrer Arbeit, so Dibelius Mitte Juli 1933, sei vieles enthalten, was seiner eigenen Art und seinen eigenen Zielen entspreche. Er habe sich wiederholt gefragt, ob nicht seine Art der Arbeit dem Wollen der DC so sehr verwandt sei, dass ein gegenseitiger Streit kirchlich untragbar sei. Durch das Eingreifen des Staatskommissars habe er schließlich für die Kirche Stellung beziehen müssen. Dibelius wünschte abschließend Verständigung darüber, wie es mit ihm persönlich weitergehen solle. Es dürfe nicht sein, meinte er, dass die Agitation eines kleinen Kreises ohne Weiteres einen Generalsuperintendenten aus dem Amt entfernen könne.
Die DC reagierten auf diese Anfrage nicht mehr. Die mächtige innerprotestantische Welle der DC-Bewegung hatte Dibelius beiseitegeschoben. Im September erhielt er vom künftigen NS-Reichsbischof Müller sein Entlassungsschreiben zur frühzeitigen Pensionierung. Bei den ersten Schritten einer Opposition gegen die kirchliche Vorherrschaft der DC im Jahr 1933 hatte er keine Rolle gespielt. Das gilt für die oppositionelle Wahlliste „Evangelium und Kirche“ vom Juli wie für die Gründungsphase des Pfarrernotbunds im September. Nach Wochen des Abwartens zeichnete sich im Herbst eine Lösung ab. Auf Bitten von Verwandten hatte Hermann Göring seinen Einfluss auf Verwendung des pensionierten Generalsuperintendenten geltend gemacht. Zum 1. Dezember 1933 trat Dibelius das Amt eines Kurpredigers in San Remo an der italienischen Riviera an. Offenbar suchte er diese Gelegenheit zu einer kirchenpolitischen Auszeit und persönlichen Denkpause.
Im Ganzen hatte sich Dibelius’ Verhalten im Entscheidungsjahr 1933 als zögerlich, schwankend, ambivalent erwiesen. Als er am 3. Juni 1934 nach Berlin zurückkehrte, waren maßgebliche Entscheidungen im Kirchenkampf gefallen – ohne ihn. Bei der Konstituierung freier Bekenntnissynoden seit Jahresbeginn 1934, beim Ulmer Bekenntnistag vom April und auf der 1. Reichsbekenntnissynode Ende Mai 1934 in Barmen war er nicht dabei gewesen. Er war abwesend, als das Haus der Kirche lichterloh brannte, und als er zurückkehrte, hatten sich die Fronten im Kirchenkampf geklärt.
Mann der Mitte
Auf Bitten von Kurt Scharf half Dibelius beim Aufbau einer Bekennenden Kirche (BK) in der Mark Brandenburg mit. Er war und blieb während der Kirchenkampfzeit ein „Mann der Mitte“, der kirchenpolitischen Mäßigung, des Ausgleichs. Dem entschiedenen Flügel der BK um Martin Niemöller, Martin Albertz, Dietrich Bonhoeffer und Karl Barth gehörte er nicht an. Seine kirchenpolitische Haltung entsprach eher dem Anpassungskurs des gemäßigten Flügels um die drei lutherischen Bischöfe von Hannover, Bayern und Württemberg. Er war nicht als Synodaler an den Bekenntnissynoden von Dahlem, Augsburg und Bad Oeynhausen beteiligt. Die vertrauliche Denkschrift der 2. Vorläufigen Kirchenleitung (VKL) an Hitler von Ende Mai 1936 hatte er nicht unterzeichnet. Der Friedensliturgie der 2. VKL gegen drohende Kriegsgefahr von Ende September 1938 stand er eher distanziert gegenüber. Schließlich gehörte er nicht zu den Angeklagten des „Prüfungsprozesses“ (Dezember 1941), durch den die regionale Elite der BK Berlin-Brandenburg wegen unerlaubter Lehr- und Prüfungstätigkeit in der illegalen Kirchlichen Hochschule zu teils erheblichen Freiheitsstrafen verurteilt wurde.
Dibelius’ eigentliches Problem im „Dritten Reich“ waren die Deutschen Christen mit ihrer völkisch-christlichen Theologie und ihrem aggressiven Anspruch auf das Kirchenregiment. Aus diesem Dissens ergaben sich diverse Konflikte und persönliche Zusammenstöße. Aber das war kein genereller Widerstand gegen das NS-Regime, sondern Opposition gegen eine innerprotestantische Parallelbewegung zur Hitlerpartei. Darüber hinaus kritisierte er Aspekte der NS-Weltanschauung und NS-Religionspolitik, wo diese antichristliche Ziele proklamierten. Das brachte ihm 1937 eine gerichtliche Auseinandersetzung mit Reichskirchenminister Hanns Kerrl ein.
Eine gewisse innere Distanzierung vom Regime stellte sich bei Dibelius indessen während der Kriegsjahre ein. Die Augenzeugenberichte von Kurt Gerstein über den Judenmord im Osten (August 1942) dürften dabei eine Rolle gespielt haben. Dibelius unterhielt Kontakte zum Kirchlichen Einigungswerk des württembergischen Bischofs Theophil Wurm und zum konservativen Freiburger Widerstandskreis um Walter Eucken und Gerhard Ritter. Aber Widerstand gegen den Staat war für einen gläubigen Christen und bekennenden Lutheraner gemäß Römer 13 und aufgrund der neulutherischen Zwei-Reiche-Lehre nicht statthaft. So blieb Dibelius auch während des „Dritten Reiches“, was er zuvor schon war: ein christlich-konservativer Kirchenmann, ein preußisch-deutscher Nationalprotestant, dessen religiöse Mentalität großenteils im späten Kaiserreich (Heinrich von Treitschke, Adolf Stoecker, Verband der Vereine deutscher Studenten) geprägt worden war. Völkische Sympathien und notorisch antijüdische, teils auch antisemitische Anwandlungen gehörten dauerhaft dazu.
Eine gründliche, auf der Höhe der Zeit stehende, neue Dibelius-Biografie erscheint heute dringlich. Ebenso ein grundrenoviertes Dibelius-Bild als Bestandteil einer zeitgemäßen kirchlichen Erinnerungskultur.
Manfred Gailus
Manfred Gailus ist außerplanmäßiger Professor für Neuere Geschichte an der Technischen Universität Berlin.