Querschnittsaufgabe

Über sorgende Gemeinschaften

Durch die Corona-Krise tritt das Thema Gemeinschaft neu in den gesellschaftlichen Fokus, lautet die Gesellschaftsdiagnose von Cornelia Coenen-Marx. Auf 180 Seiten beschreibt sie die soziale Relevanz der Gemeinschaftsthematik und illustriert mit zahlreichen Good-Practice-Beispielen die Chancen, die sich dadurch für die Kirchen ergeben. Sie wirbt für eine Öffnung von Kirchengemeinden und diakonischen Einrichtungen in den Sozialraum. Eine Zentrierung der Arbeit auf Kirchenmitglieder habe keine Zukunft mehr.

Drei Faktoren seien es, die gegenwärtige soziale Transformationsprozesse kennzeichnen: gesellschaftliche Brüche, wachsende Einsamkeit und eine starke Sehnsucht nach Gemeinschaft. Die Corona-Krise habe die Auswirkungen der Transformationsprozesse verstärkt. Coenen-Marx sieht eine Parallele zu den gesellschaftlichen Umbrüchen, die durch die Industrialisierung vor zweihundert Jahren ausgelöst wurden. Der Kerngedanke von Coenen-Marx’ Entwurf sind die Caring-Communitys, die sorgenden Gemeinschaften, die Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Coenen-Marx findet deren Prinzip in den von Wichern, Löhe und Fliedner im 19. Jahrhundert gegründeten Anstalten grundgelegt. Die christliche Urgemeinde in Jerusalem (Apostelgeschichte 2) interpretiert sie ebenfalls als Caring-Community. Beide, diakonische Aufbrüche des 19. Jahrhunderts und die Jerusalemer Urgemeinde, sind die theologischen Anker des Entwurfs.

Vertrauen in die Nachbarschaft kennzeichnet sorgende Gemeinschaften. Es entsteht durch gegenseitiges Unterstützen. Als Akteursgruppe einer lebendigen Nachbarschaft sieht Coenen-Marx die „jungen Alten“, denn Berufseinstieg, Karriere und Familiengründung laste auf den Jüngeren. Die Motivation der jungen Alten, sich zu engagieren, solle kein Altruismus sein, sondern der Nutzen, den die sozialen Kontakte und das Engagement bringen. Kirchengemeinden bekommen den Charakter von Strukturen, die zur Ermöglichung von sorgenden Gemeinschaften beitragen. Sie haben oft freie Räumlichkeiten, liegen relativ zentral im Quartier oder Dorf und haben spirituelle Ressourcen. Allerdings müsse die „Für-Kultur“ in Diakonie und Kirche durch eine „Mit-Kultur“ abgelöst werden. So könne ein „Wir der Freiheit“ entstehen. Dazu gehöre die interkulturelle Öffnung der Gemeinden und Einrichtungen. In Anlehnung an die paulinische Nivellierung sozialer Unterschiede in der christlichen Gemeinde sollen Herkunft, Geschlecht und andere soziale Kriterien keine Rolle für die gelebte Gemeinschaft spielen. Die Gemeinschaft solle in einem weiten Sinn inklusiv sein.

Der Aufbau von Gemeinschaft wird im Muster der Netzwerklogik gedacht. Gemeindehäuser werden dann zu „dritten Orten“, an denen sich die Netzwerke der sorgenden Gemeinschaften lokalisieren. Zu den spirituellen Ressourcen von Kirchengemeinden zählt Coenen-Marx die Fähigkeit, Rituale für Lebensübergänge zu gestalten und dem Erzählen individueller Lebens- und Erfahrungsgeschichten Raum zu geben.

Coenen-Marx hat ein anregendes Buch über Sozialraumorientierung für die Praxis von Kirchengemeinden und diakonischen Einrichtungen vorgelegt. Die zahlreichen Interviews mit Praktikerinnen und Praktikern veranschaulichen die Relevanz des Ansatzes. Doch angesichts der These, dass die Orientierung an der Kirchenmitgliedschaft aufzugeben sei, weil die Zukunft von Kirche und Diakonie in der Öffnung zum Dorf und zum Quartier liege, drängen sich eine grundsätzliche und eine pragmatische Frage auf: Wie lässt sich diese Neuausrichtung stringent aus dem Evangelium und den biblischen Texten begründen, der Kirche und Diakonie verpflichtet sind? Die bloße Interpretation der Jerusalemer Urgemeinde als Caring-Community ist zu dürftig. Dass Coenen-Marx hier mehr zu sagen wüsste, deutet sie mit dem Hinweis auf den Johannesprolog – „das Wort ward Fleisch“ – an. Und: Wie lässt sich die Sozialraumorientierung mit den klassischen Tätigkeitsfeldern kirchengemeindlicher Praxis verbinden? Zu viele Pastorinnen und Pastoren fürchten, dass ihnen bei zurückgehenden Ressourcen nur weitere Aufgaben gestellt werden. Eine Neuausrichtung kirchlicher und diakonischer Arbeit auf den Sozialraum gelingt nur, wenn diese als Querschnittsaufgabe innerhalb der bestehenden Tätigkeitsfelder begreifbar wird.

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Foto: privat

Frank Martin Brunn

Frank Martin Brunn ist Wissenschaftlicher Geschäftsführer der Arbeitsstelle Kirche und Gemeinwesen an der Universität Hamburg.


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