Heimsuchungen

Kolonialismus in Kinderzimmern
Foto: privat

In dem Film The Fog erscheinen in einer Küstenstadt Geister aus dem Nebel und töten einen Dorfbewohner nach dem anderen. Niemand weiß, warum dies geschieht, erst nach und nach kommt eine vergessene Geschichte ans Licht: Einst hatten die Vorfahren an den Klippen falsche Feuersignale gesetzt, um Handelsschiffe vor der Küste auf Grund laufen zu lassen und zu plündern; zahllose Besatzungsmitglieder verloren dabei ihr Leben. Nun kommen sie als Geister zurück und suchen die Nachfahren heim.

Ein anderer, der vergessen wurde und nun zurückkommt, ist Jemmy Button. Eigentlich hieß er o'run-del'lico und war ein Ureinwohner Feuerlands. 1829 wurde er im Alter von 14 Jahren zusammen mit drei weiteren jungen Menschen von Briten entführt und auf ein Forschungsschiff verschleppt. Der Kapitän Robert FitzRoy brachte Jemmy Button und die anderen nach England, um sie zu „zivilisieren“, danach sollten sie nach Feuerland zurückkehren und das Christentum „am Ende der Welt“ verbreiten. FitzRoy wurde eine Art väterlicher Freund für Jemmy Button: Er zeigte ihm die technischen Errungenschaften Englands, und Jemmy war besonders begeistert von mit Dampf betriebenen Maschinen. Auch die Pfeife, die FitzRoy stets im Mundwinkel hat, hatte es Jemmy angetan.

Gescheiterte Mission

Nach zwei Jahren Aufenthalt in London bestieg Jemmy Button ein Schiff namens HMS Beagle, um zusammen mit einem Missionar und anderen Gefolgsleuten nach Feuerland zurückzukehren. Missionsgesellschaften hatten allerlei Gegenstände gesammelt für die neu zu errichtende Missionsstation, unter anderem ein Harmonium, Weinkaraffen und Suppenterrinen. „Jemmy Button war der Liebling aller, aber ebenfalls leidenschaftlich; sein Gesichtsausdruck zeigte sogleich sein freundliches Gemüt. Er war fröhlich, lachte oft und war bemerkenswert mitfühlend mit allen, die Schmerzen litten.“ Der Mitreisende, der dies schrieb, war Charles Darwin. Das Missionsvorhaben jedoch scheiterte. Jemmy Button kehrte zu seinen Leuten und seiner vertrauten Lebensweise zurück.

Wahrscheinlich wäre seine Geschichte vergessen worden, hätte nicht der chilenische Schriftsteller Benjamin Subercaseaux über ihn recherchiert und im Jahr 1950 einen Roman mit dem Titel „Jemmy Button“ publiziert. 1957 kam er auf Deutsch unter dem Titel „Fahrt ohne Kompass“ heraus und inspirierte eines der berühmtesten Kinderbücher Deutschlands: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer. Michael Ende machte aus Jemmy Button Jim Knopf, einen schwarzen Jungen mit Wulstlippen und ohne Nase. Julia Voss (2009) hat die Parallelen herausgearbeitet: Jim Knopf wurde wie der Feuerländer verschleppt und landet auf einer Weißen Insel (Lummerland als Klein-England). Er ist von der Dampfmaschine Emma begeistert und auch von seinem väterlichen Freund Lukas, der wie Kapitän FitzRoy Pfeifenraucher ist. Feuerland nennt Michael Ende die Heimat der geraubten Kinder, und die Wüste, die der Scheinriese Tur Tur bewohnt, heißt ebenfalls Feuerland.

Michael Ende hat Jim Knopf ein spezielles Happy End beschert: Als Nachfahre eines der heiligen drei Könige, die einst dem Stern nach Betlehem gefolgt waren, erbt Jim ein riesiges Reich namens Jamballa und lässt sich dort mit einer Prinzessin of Color nieder. Von Jemmy Button hingegen berichten die Quellen nur, dass am 6. November 1859 acht anglikanische Missionare auf Feuerland erschlagen wurden. Ein Zeuge sagte später aus, Jemmy Button sei der Anstifter des Massakers gewesen.

Nach langen Jahren der verwischten Spuren und überschriebenen Geschichten lichtet sich jetzt der Nebel, und Jemmy Button ist zurück in unseren Kinderzimmern, die Suppenterrine unter den Am geklemmt, und fordert Tribut. Das ist die postkoloniale Kondition.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kultur"