Ein grundlegender Paradigmenwechsel steht an in der Kirche: Schluss mit dem verzagten Bemühen um Mitgliederbindung, mit der Rechtfertigung überkommener Formate, mit der Angst, sich selbst zu verlieren und der Sorge um das eigene Profil – Schluss mit dem Leistungsmodus und hin zum Teilhabemodus, zu einem offenen und komplementären Dialog mit anderen Personen, Initiativen, Organisationen im Sozialraum. Eine Kirche, die von sich selbst absieht und andere in den Blick nimmt, anderen zuhört, mit ihnen ins Gespräch kommt, lässt Resonanzräume entstehen, in denen Menschen ein neues Wir entdecken. „Es geht nicht mehr darum, andere zu belehren oder gar zu bekehren, es geht nicht mehr darum, andere zu über-wältigen, nein, es geht darum, gemeinsam mit anderen etwas Drittes zu bewältigen: nämlich die aktuellen Herausforderungen des Raumes. Statt um Konversion der anderen geht es um die eigene Extraversion“, schreibt Ralf Kötter, Dozent für theologische Grundfragen am Pastoralkolleg in Schwerte-Villigst. Es geht um eine „Haltung, in der unsere Narrative nicht überflüssig, aber doch flüssig werden.“
Kötters Buch ist ein kundiges und leidenschaftliches Plädoyer für die neue Bewegung der Gemeinwesendiakonie, der Kirche im Quartier, die sich durch eine bunte, von den jeweiligen Kontexten geprägte Vielfalt auszeichnet und dabei einen scharfen Blick für die jeweiligen Herausforderungen und Potenziale hat. Dass es dabei weder um Anbiederung an den Zeitgeist noch um ein effektives Management der knapper werdenden Ressourcen, sondern um den Gottesglauben selbst geht, erläutert der Autor theologisch, sowohl biblisch-theologisch als auch in einem kurzen reflexiven Rückblick auf das Selbstverständnis der Kirche in Antike, Reformation und Moderne.
Dabei stehen die biblischen Narrative im Zentrum seiner theologischen Überlegungen. Mit der Schöpfungserzählung geht es um die Sozialität des Menschseins, die sich immer neuen Formationen zum Leben mit anderen öffnet; die „Krankheit zum Tode“, von der Kierkegaard spricht, ist letztlich De-Sozialisation. Hier ist grundgelegt, was wir als Gemeinde im Sozialraum erleben können: Menschwerdung ereignet sich in Teilhabe und Inklusion. Wie Egozentrik ins Nichts führt und Gemeinschaft Leben schafft, macht Kötter an den Exodus- und Landnahmegeschichten deutlich, um schließlich von den Kundschaftern zu erzählen, die das neue Land vierzig Tage lang erkunden und als Verheißung nach vierzig Jahren Wüste eine überdimensionale Weinrebe mitbringen. Ein doppelt fruchtbares Bild: Gemeinden werden Kundschafter im Sozialraum und kommen mit anderen in der Vielfalt und Komplementarität neuer Cluster zu gemeinsamen Herausforderungen und Projekten zusammen.
Um die Vielfalt der ersten christlichen Gemeinden, Gottes Menschwerdung im Alltag und die Komplementarität der Anhängerschaft Jesu geht es dann im neutestamentlichen Kapitel, wo der Autor auch vom Neuen Jerusalem erzählt, dessen Edelsteine in allen Farben des Regenbogens leuchten. Die offenen Tore der Stadt und die ursprünglich bedingungslose Aufnahme des Eunuchen und Kämmerers aus Äthiopien machen klar: Kirche muss sich „von der Unterscheidung von drinnen und draußen verabschieden“.
Die einladende Sprache und die inspirierenden Bilder des Buches sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Autor die Vorbehalte, mit denen Gemeinden sich heute abschließen, sehr wohl kennt. Sie werden in aller Offenheit benannt und stehen gelassen, ohne dass die Ermutigungen deshalb an Überzeugungskraft verlören. Es geht vielmehr darum, vertrauensvoll zu erproben, wozu gerade die biblischen und altkirchlichen Narrative ermutigen: Als Schatzsucherin, Türöffnerin, gute Nachbarin kann Kirche sich erneuern.
Cornelia Coenen-Marx
Cornelia Coenen-Marx ist Oberkirchenrätin a. D. Nach Eintritt in den Ruhestand machte sich Coenen-Marx 2015 mit dem Unternehmen „Seele und Sorge“ selbständig, um soziale und diakonische Organisationen sowie Gemeinden bei der Verwirklichung einer neuen Sorgeethik zu unterstützen.