Ambivalent

Neue Biografie über Gerstenmaier

Eugen Gerstenmaier (1906 – 1986) ist den meisten als CDU-Politiker und langjähriger Bundestagspräsident in Bonn in Erinnerung. Das Anliegen der Dissertation Karl Brauers, die Gerstenmaiers Biografie bis zum Ende des „Dritten Reichs“ untersucht, ist es, den habilitierten Theologen, kirchlichen Mitarbeiter und schließlich christlichen Widerständler im Kontext des Kreisauer Kreises in Erinnerung zu rufen.

Herkunft aus dem schwäbischen Pietismus, Theologiestudium mit entscheidender Prägung durch Friedrich Brunstäd in Rostock, theologische Dissertation (1935) und Habilitation (1937), Mitarbeiter bei Theodor Heckel, Ludwig Müllers „Auslandsbischof“ im Kirchlichen Außenamt der DEK, 1939 kriegsdienstverpflichtet im Auswärtigen Amt (AA), seit Sommer 1942 subversive Verbindungen zum Kreisauer Kreis, Gestapo-Haft nach dem 20. Juli 1944 und durch Freislers Volksgerichtshof im Januar 1945 zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Das sind die wesentlichen Stationen dieser biografischen Rekonstruktion bis Kriegsende, und sie liest sich auf den ersten Blick recht schlüssig und folgerichtig: christlich motivierter Widerstand gegen Hitler aus dem Geist des schwäbischen Pietismus.

Aber diese faktisch doch sehr ambivalente Biografie eines bekennenden Lutheraners im „Dritten Reich“ erscheint am Ende allzu glatt gebürstet und zu zielstrebig ausgerichtet auf die tatsächlich erst spät einsetzende Teilnahme des Protagonisten am Widerstand. Kurz: Sie ist über Gebühr einseitig, eine veritable Wohlfühlbiografie, die der dargestellte Protagonist kaum besser über sich selbst hätte schreiben können. Da fehlt es an Distanz, an Multiperspektivität, auch an Quellenkritik; hingegen findet sich überreichlich Verständnis für angebliche „Zwänge“ und für Anpassungen an das NS-Regime. Das wirkt häufig exkulpatorisch.

Alles, was aus der postnationalsozialistischen Zeit als biografisch günstig erscheinen mag, wird stets sehr breit ausgeführt, Widersprüchliches und Problematisches wird indessen abgekürzt oder fällt völlig unter den Tisch. Man fragt sich schließlich auch, inwieweit ein Theologe wie Gerstenmaier, der 1936 in einem Brief von „barthianischer Verseuchung“ in der Bekennenden Kirche spricht, überhaupt zur Kirchenopposition zu zählen ist. Ein zweiter, bisher verkannter schwäbischer Bonhoeffer ist hier nicht zu entdecken. Da war doch sehr viel mehr Ambivalenz, Lavieren und Kollaboration im Spiel bei diesem jungen Theologen, der im Kirchlichen Außenamt der offiziösen, regimenahen DEK mitwirkte und später im Dienst des Auswärtigen Amtes manch fragwürdige politische „Mission“ im Ausland ausführte.

Die Einseitigkeit der Darstellung spiegelt sich in einer entsprechenden Auswahl von „Dokumenten“ im Dokumentenanhang. Die unverkennbar hohe Sympathie und über weite Strecken völlige Identifikation des Biografen mit seinem Protagonisten hat offenbar dazu beigetragen, dass er – ungeachtet seiner beachtlichen Forschungsleistung – in die hagiografische Falle getappt ist.

Überdies stellt sich die Frage, inwieweit nach der 500-Seiten-Biografie über Gerstenmaier von Daniela Gniss aus dem Jahr 2005 nach relativ kurzer Zeit eine weitere umfangreiche Biografie überhaupt notwendig war.

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