Abschied vom Prinzipiellen

Debatte über Suizidbeihilfe könnte Sternstunde werden
Foto: Rolf Zöllner

Seit einem Jahr lebt die Republik im Krisenmodus: Die Empörungsschwelle sinkt. Die Sehnsucht nach klaren, geradlinigen Lösungen wächst. Die Diskurse werden allerorten kurzatmiger, der Ton genervter. Keine gute Zeit für Differenzierung. Gleichwohl bleibt es wichtig, neue Wege zu suchen, Gewagtes zu denken, Kontroverse zuzulassen und um die richtigen Antworten zu ringen. Eigentlich sind wir Protestanten darin geübt. Ohne Streitkultur wäre „versöhnte Verschiedenheit“ in Kirche und Diakonie nicht denkbar. Immer diverser werden derzeit die Modelle, wie wir leben – und auch sterben wollen.

Gerade die Fragen um unser Ende treffen ins Herz unserer ethischen Überzeugungen und unseres ganz persönlichen Glaubens. Sie stören, emotionalisieren, verletzen. Daher möchte der Eine oder Andere dieses sensible Thema am liebsten gar nicht berühren. Tabubruch! Wir müssen uns um die Krise kümmern! Die Debatte kommt zur Unzeit! Doch genau das tut sie nicht.Ein Jahr, nachdem das Bundesver-fassungsgericht die Gesetzgebung zum assistierten Suizid gekippt hat, beginnt die Debatte gerade. Die Bundespolitik nimmt die Herausforderung endlich an. Fraktionsübergreifend formulieren Abgeordnete ihre Anträge. Wie so oft, wenn es um die ersten und letzten Fragen des Lebens geht, sehen wir Fronten aufweichen und erleben – hoffentlich auch dieses Mal – Sternstunden des Parlamentarismus.

Kirche und Diakonie sollten die Politik zivilgesellschaftlich begleiten. Wir sollten unsere Positionen klären,  Argumente schärfen und die Leitplanken formulieren, zwischen denen Handlungsoptionen evangelisch vertretbar sind. Wir wissen dabei um unsere doppelte Schuldgeschichte. Menschen, die keinen anderen Weg mehr sahen, als ihr Leben zu beenden, wurden jahrhundertelang geächtet und fanden keinen Platz auf unseren Gottesäckern. Und auch die furchtbare Beteiligung an der Euthanasie während der NS-Terrorherrschaft belastet uns und bleibt eine Mahnung.

Reflexhafte Reaktionen werden der Herausforderung aber nicht gerecht. Denn es ist schlechterdings unstreitig, dass wir eine Kirche des Lebens sind, die alles daransetzen muss, um Sterbende bis zum Schluss so zu begleiten, dass sie sich in Gottes Hand geborgen fühlen. Wir haben eine starke Tradition der Seelsorge, und auch die Palliativmedizin hat große Fortschritte gemacht. All dies muss gesichert, ausgebaut, gestärkt werden.

Gleichwohl lehrt die Erfahrung der Seelsorge, dass eine kleine Zahl von Fällen bleibt, in denen Menschen trotz allem Beistand ihr Leid nicht mehr ertragen können. Und auch mit diesen Menschen müssen wir sein.

Das ist inzwischen erkannt. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland hat sehr differenziert diskutiert. Und auch dabei ist klargeworden, dass es nicht die eine evangelische Lehrmeinung geben kann. Ich bin froh, dass wir diese Kontroverse jetzt öffentlich führen. Wenn wir bei den Menschen bleiben wollen, müssen wir sagen, wagen, was geht – und was nicht. Darauf warten die Betroffenen, deren Angehörige, unsere Mitarbeitenden und auch die Politik. Eine zivilisierte Debatte wäre eine Sternstunde der Demokratie in aufgeregter Zeit. 

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Foto: Rolf Zöllner

Ulrich Lilie

Ulrich Lilie (geboren 1957) studierte evangelische Theologie in Bonn, Göttingen und Hamburg. Bis 2011 arbeitete er unter anderem als Krankenhausseelsorger mit dem Zusatzauftrag der Leitung und Seelsorge im Hospiz am Evangelischen Krankenhaus Düsseldorf. 2011 übernahm Lilie den Theologischen Vorstand der Graf-Recke-Stiftung in Düsseldorf. Seit 2014 ist er Präsident der Diakonie Deutschland.


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