War Rosa Luxemburg religiös? Sicher nicht im üblichen Sinn, schon gar nicht im kirchlichen. Aber sie hatte eine religiöse Ader. Eberhard Pausch, Pfarrer und Studienleiter an der Evangelischen Akademie Frankfurt/Main, beschreibt diese eher unbekannte Seite der Sozialistin, die vor 150 Jahren geboren wurde.
Ihre Lebensdaten umfassen fast exakt die Zeit von der Gründung des Deutschen Kaiserreichs bis zur Entstehung der Weimarer Republik. Geboren wurde Rosa Luxemburg am 5. März 1871, und sie starb am 15. Januar 1919 – nur wenige Tage vor den Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung (19.01.1919). Zusammen mit Karl Liebknecht (1871 – 1919) wurde sie bestialisch ermordet von einem Freikorps-Trupp unter der Leitung eines rechtsradikalen Hauptmanns, der sich viele Jahre später darauf berief, die damalige SPD-Regierung habe ihn dazu ermuntert. Daran darf man mit gutem Grund zweifeln. Nicht bezweifeln aber kann man, dass sie bis heute unvergessen ist, nicht nur in der SPD, sondern auch weit über deren Ränder und Flügel hinaus.
Die in Zamost (Polen) geborene und im Alter von zwei Jahren nach Warschau übergesiedelte Rosa Luxemburg war schon in der Schule brillant. Fast immer war sie die Kleinste, Jüngste und Beste. Als sie 1887 ihr Abschlusszeugnis erhielt, fanden sich darin nur „ausgezeichnete“ und „sehr gute“ Zensuren. Sie sprach später fließend Deutsch, Englisch, Französisch, Polnisch und Russisch und konnte sowohl anspruchsvolle Literatur als auch komplizierte politische Reden jederzeit von einer Sprache in die andere übersetzen. Sie studierte und promovierte in den 1890er-Jahren in Zürich. Auch hier zeigte sie ihr außerordentliches Talent, indem sie ihre Promotion mit „magna cum laude“ (sehr gut) abschloss. Ihr Doktorvater, der ihr damals schon entwickeltes marxistisches Denken ablehnte, bezeichnete sie gleichwohl als den „… begabtesten Schüler (!) meiner Züricher Jahre“.
Rosa Luxemburg war früh begeistert vom Ethos und Elan der deutschen Sozialdemokratie und wollte deshalb die deutsche Staatsbürgerschaft erlangen. Daher führte sie kurze Zeit (1898 – 1903) eine Scheinehe mit Gustav Lübeck (1873 – 1945). Später sollte sie nicht mehr heiraten, hatte aber (nicht ausschließlich seriell monogame) Beziehungen mit mehreren Männern, die alle aus dem gleichen sozialistischen Gesinnungsmilieu stammten.
Rosa Luxemburg war eine scharfe Denkerin, vor allem in politischen Themen. Kritisch war sie dabei immer, eine Protagonistin der linken Aufklärung. Sie kannte keinen Respekt vor Karl Marx (1818 – 1883), hinterfragte sein Werk und entwarf eine alternative ökonomische Theorie, die zugleich auch eine eigenständige – und von Lenin abweichende – Theorie des Imperialismus enthielt. Innerhalb der SPD stritt sie sich auf exzellentem Niveau mit den Star-Theoretikern Eduard Bernstein und Karl Kautsky. Auf internationaler Bühne duellierte sie sich lange vor 1914 mit Lenin und Trotzki (und in ihren Schriften auch später noch). Wichtig war ihr der Grundsatz, dass kritisch-marxistisches Denken immer im Fluss bleiben und sich im Streit bewähren müsse: „Marxismus ist eine revolutionäre Weltanschauung, die stets nach neuen Erkenntnissen ringen muss, die nichts so verabscheut wie das Erstarren in einmal gültigen Formen, die am besten im geistigen Waffengeklirr der Selbstkritik und im geschichtlichen Blitz und Donner ihre lebendige Kraft bewährt.“
Schwerpunkt Frieden
Ein Schwerpunkt ihres politischen Denkens galt dem Friedensthema: Rosa Luxemburg trat stets konsequent für Abrüstung und Völkerverständigung und gegen den Militarismus des wilhelminischen Zeitalters ein. Zwar war sie keine radikale Pazifistin, weil sie sich die Möglichkeit einer „Volksmiliz“ vorstellen konnte. Aber ihr Ziel war der Weltfriede. Und sie meinte, diesen erreichen zu können, wenn die Arbeiter aller Länder – im Anschluss an Marx – ihre internationale Verbundenheit höherstellen würden als ihre nationale Herkunft. Mit der ihr eigenen kämpferischen Rhetorik wetterte sie dabei gegen den vom Kaiser erklärten „Burgfrieden“ der Parteien und den „Kadavergehorsam“ der Soldaten auf allen Seiten. Dafür musste sie die Zeit nach Kriegsbeginn fast ununterbrochen in Gefängnissen verbringen. Als sie am 9. November 1918 freikam, hatte sie nur noch rund zwei Monate zu leben.
Rosa Luxemburg schätzte die Freiheit des Denkens als eines der höchsten Güter ein. Als Mitglied der SPD unterrichtete sie erfolgreich in der 1907 gegründeten „Partei-schule“. Im Ersten Weltkrieg entfernte sie sich von der Partei, die 1914 den Kriegskrediten zugestimmt hatte. Mit Liebknecht und anderen Linken gründete sie den „Spartakusbund“ als Keimzelle der späteren KPD. Der Kommunismus, der 1917/18 aus der Russischen Revolution resultierte, widersprach aber in jeder Hinsicht ihrem Freiheitsstreben. Im Herbst 1918 kritisierte sie deshalb (noch vom Gefängnis aus) die von Lenin und Trotzki ins Werk gesetzte Revolution. Terror – auch Staatsterror – kam für sie nicht in Frage: „Die proletarische Revolution bedarf für ihre Ziele keines Terrors, sie hasst und verabscheut den Menschenmord.“ Und sie konnte sich – übrigens im Einklang mit Marx – einen Sozialismus ohne freie Presse, ohne Vereins- und Versammlungsfreiheit nicht vorstellen: „Hingegen ist eine offenkundig unbestreitbare Tatsache, dass ohne freie ungehemmte Presse, ohne ungehindertes Vereins- und Versammlungsleben gerade die Herrschaft breiter Volksmassen völlig undenkbar ist. […] Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur die Freiheit des anders Denkenden.“
Die Liebe zur Freiheit hat oft nicht nur politische, sondern auch religiöse Wurzeln und Facetten. Rosa Luxemburg wusste darum. In ihrem Leben gab es religiöse Aspekte, die auch brillante Biografen (wie zuletzt 2018 Ernst Piper) mitunter übersehen. Sie war zwar jüdischer Herkunft, praktizierte aber ihr Judentum nicht. Dafür kannte sie sich im Christentum recht gut aus. Sie bewunderte etwa Martin Luther (1483 – 1546), sah in ihm wohl auch einen Rebellen und Freiheitskämpfer. Vor allem nahm sie seine Geradlinigkeit und seinen Mut wahr, mit dem er im April 1521 auf dem Wormser Reichstag vor Kaiser und Kardinälen seinen Glauben bekannte. Rosa Luxemburg sprach vom „einfachen Wort des ehrlichen und geraden Menschen: ‚Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helf mir‘“. Damit kolportierte sie zwar eine Legende, denn Luthers Schlusswort lautete bekanntlich schlicht: „Gott helfe mir! Amen.“ Aber sie erfasste die epochale Wirkung dieser Worte: ohne Luther keine Reformation und kein gesellschaftlicher Wandel. Dass Luther jedoch nur für die eigene Glaubensfreiheit kämpfte, nicht für die der anderen (etwa der Täufer), das blieb ihr verborgen. Luther und Luxemburg, das bleibt deshalb eine eher vage Alliteration.
Bedeutsamer war da schon ihre Wertschätzung Jesu. Einmal nannte sie ihn sogar den „Gott aus Nazareth“. Sicher meinte sie das nicht im kirchlich-dogmatischen Sinn, aber aus ihren Worten spricht doch eine gewisse Verehrung. In der Bibel, die sie recht gut kannte, beeindruckte sie der sogenannte „urchristliche Kommunismus“, von dem die Apostelgeschichte erzählt (Apg 2, 44f; 4, 32+35f). Es gilt heute als „common sense“, dass es sich bei den entsprechenden Darstellungen des Autors der Apostelgeschichte um „Idealisierungen“ handelt, sozusagen um frühchristliche Sozialromantik. Auf Rosa Luxemburg aber wirkten diese Schilderungen inspirierend, und sie kontrastierte die spätere Wirklichkeit der christlichen Kirchen und der von ihnen geprägten kapitalistischen Gesellschaften mit den Idealen aus der Frühzeit des Christentums. Sie pflegte auch christliche Bräuche: Während ihrer Zeit im Gefängnis, so ist es bezeugt, war es ihr stets wichtig, an Weihnachten ein Bäumchen zu haben und es mit Lichtern zu schmücken. Geschenke, die sie zur Weihnachtszeit machte oder bekam, nannte sie „Christkindle“ oder „Christkindlein“. Dass sie die faktischen Kirchen, Priester und Pfarrer ihrer Zeit heftig kritisierte, muss jedoch nicht verwundern, da deren große Mehrheit dem Sozialismus feindselig gegenüberstand.
War Rosa Luxemburg religiös? Sicher nicht im üblichen Sinn, schon gar nicht im kirchlichen. Aber sie hatte eine religiöse Ader. Und ein Charisma, das religiös, ja, christlich inspiriert sein mochte. Vielleicht ist ja jede echte Sozialistin vom Befreiungskampf des Moses, vom Gerechtigkeitsstreben der Propheten und der Ethik der Bergpredigt Jesu inspiriert. Dass sie mit Jesus auch dessen Weg nach Golgatha vor Augen hatte, beweist eine ihrer letzten Äußerungen: „Die proletarische Revolution kann sich nur stufenweise, Schritt für Schritt, auf dem Golgathaweg eigener bitterer Erfahrungen durch Niederlagen und Siege, zur vollen Klarheit und Reife durchringen“ (1918). Als Rosa Luxemburg dies schrieb, ahnte sie da bereits, dass auch ihr ein „Golgatha“-Schicksal bevorstehen würde? Mit der Möglichkeit eines Attentats musste sie jedenfalls rechnen, denn sie war ohne Zweifel eine der meistgehassten Personen jener Zeit. Mit ihrer Ermordung starb ein herausragend begabter, faszinierender und unbeugsamer Mensch. Sie lebte und starb für die Freiheit – auch und gerade für die Freiheit der anders Denkenden.
Eberhard Pausch
Eberhard Pausch ist Pastor und Referatsleiter im hessischen
Sozialministerium in Wiesbaden.