Selbstbestimmt mit der Gabe des Lebens umgehen
Evangelische Theologen plädieren für einen professionell assistierten Suizid in kirchlichen Einrichtungen. Das darf niemandem gleichgültig sein, dem an der öffentlichen Präsenz des Christentums gelegen ist. Was ist zu tun – und was zu lassen?
„Elisabeth fehlt mir. Sie fehlt mir, wenn ich aufwache, und sie fehlt mir, wenn ich einschlafe, Sie fehlt bei allem, was ich tue, und bei allem, was ich sehe. Sie ist weg und ich bin noch da. Das ist nicht richtig.“ Mit diesen Worten beschreibt Richard Gärtner, 78 Jahre alt, in Ferdinand von Schirachs Theaterstück „Gott“ den Grund für seine Entscheidung, seinem Leben ein Ende zu machen.
Sein Fall ist alles andere als charakteristisch für Situationen, in denen Menschen sich zum Suizid durchringen oder Suizidassistenz suchen. Ihn quält Einsamkeit. Meist prägen körperliche Gebrechen, psychisches Leid und Ausweglosigkeit solche Situationen. Aber dieses Beispiel zeigt anschaulich, dass Selbstbestimmung in einer solchen Lage aufs Engste mit Sozialität verbunden ist.
Ein Gericht mag von diesem Zusammenhang absehen und allein die Selbstbestimmung zum Maßstab seines Urteils machen. Die Politik kann davon nicht absehen. Sie hat es mit dem Zusammenleben in einem Gemeinwesen zu tun. Sie muss sich mit der Frage beschäftigen, wie Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen als Personen gleicher Würde miteinander leben können. Sie muss Selbstbestimmung und Sozialität zueinander ins Verhältnis setzen. Diese Aufgabe ist durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020 nicht leichter geworden; aber sie ist nicht außer Kraft gesetzt.
Es geht darum, dass der Suizid nicht eine Normalform des Sterbens wird. Die Kirchen sollten den Zusammenhang von Selbstbestimmung und sozialer Lage erst recht im Blick haben. Das Gebot „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ weist die Richtung. Es ist als Antwort auf den Wunsch nach assistiertem Suizid genauso wichtig wie als Orientierung in der gegenwärtigen Pandemie. In beiden Fällen gilt der Vorrang des Lebens vor dem Tod. In dem einen Fall geht es darum, dass die Selbstbestimmung des Einzelnen nicht nur an der Verantwortung für das eigene Leben, sondern auch in der Fürsorge für das Leben anderer ihre Grenze hat. Im andern Fall geht es darum, Menschen, die ihr eigenes Leben nicht mehr ertragen können, dabei zu helfen, dass ihr Leben wieder erträglich wird.
In einer Debatte über das Recht jedes Menschen, aus Selbstbestimmung dem eigenen Leben ein Ende zu machen, ist daran zu erinnern, dass kein Mensch sich selbst das Leben gibt. Jeder Mensch findet sich schon im Leben vor, bevor er beginnen kann, über dieses Leben nachzudenken. Auch die Freiheit erfährt er, bevor er sie als Autonomie verantworten kann. Die Erfahrung, dass Leben wie Freiheit verdankt sind, verbindet sich für viele Menschen mit dem Glauben an Gott. In der klassischen Formulierung Martin Luthers: „Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält.“
Dass Menschen ihr Leben empfangen und dafür danken können, ist ebenso bedeutungsvoll wie die Erfahrung, dass sie dieses Leben mit anderen Menschen teilen und so weitergeben, was ihnen anvertraut ist. Beides schränkt die Bedeutung von Selbstbestimmung nicht ein, bildet aber ihren unhintergehbaren Horizont. Der Theologe Trutz Rendtorff hat diesen Zusammenhang knapp und pointiert so zusammengefasst, dass er zwischen dem Gegebensein des Lebens, dem Geben des Lebens und der Reflexivität des Lebens unterschieden hat.
Für die Debatte über den Suizid als solchen und die neuerdings geforderte ethische wie rechtliche Anerkennung der ärztlichen wie anderer Formen professioneller Suizidassistenz ist die Zusammengehörigkeit von Individualität und Sozialität von großem Gewicht. Sie zu berücksichtigen, ist insbesondere für das seelsorgliche und diakonische Handeln der Kirchen unerlässlich. Gewiss haben Repräsentanten der christlichen Glaubensgemeinschaften es lange versäumt, ihr Urteil über den Suizid zu revidieren. Die versuchte Selbsttötung mit dem Ausschluss von den Sakramenten zu bestrafen und Menschen, die sich selbst ums Leben gebracht hatten, außerhalb der Friedhöfe zu verscharren, blieb allzu lange unbestritten und unkorrigiert.
Parallel dazu war auch im staatlichen Recht die Selbsttötung kriminalisiert. Doch diese Zeiten kirchlicher Exkommunikation und staatlicher Kriminalisierung gehören der Vergangenheit an. Niemand sollte daher falsche Fronten eröffnen: Die Entscheidung zum Suizid ist zu respektieren. Das sagen nahezu alle in der christlichen Ethik. Der Respekt vor der Würde jedes Menschen und der Achtung seines Lebens schließt zugleich die Aufgabe ein, Menschen, so weit das in der gegebenen Situation möglich und angemessen ist, vor dem Schritt in die Selbsttötung zu bewahren – mitmenschlich, durch gute Pflege, seelsorglich und medizinisch.
Vor allem die herausgehobenen Vertrauensberufe in Seelsorge und Medizin sind durch diese Anwaltschaft für das Leben geprägt. Zu ihr gehört in diesen Berufen ebenso wie in der Pflege die Begleitung im Sterben, aber nicht die Herbeiführung des Todes. Reiner Anselm, Isolde Karle und Ulrich Lilie dagegen legen in dieser Zeitung (F.A.Z. vom 11. Januar 2021) die Zuständigkeit dafür, dass Suizid „auf sichere und nicht qualvolle Weise vollzogen“ werden kann, in die Hände der seelsorglichen, ärztlichen und pflegenden Professionen. Im Blick auf die Seelsorge verstehen sie die Begleitung der Suizidassistenz als eine „erweiterte Kasualpraxis“, also als eine Art kirchlicher Amtshandlung aus Anlass eines lebensgeschichtlich bedeutsamen Ereignisses. Mit dem bisherigen Selbstverständnis dieser Berufe ist das nicht vereinbar. Mit der in ökumenischer Gemeinsamkeit von den Kirchen in Deutschland vertretenen Auffassung auch nicht.
Die Forderung der drei Theologen kann niemandem gleichgültig sein, dem an der öffentlichen Präsenz des Christentums gelegen ist. Der hannoversche Landesbischof Ralf Meister hat Anfang des Jahres festgestellt, ohne starke Ökumene werde die Stimme des Christentums in gesellschaftlichen Fragen signifikant schwächer werden. Nun hat er mit der Beteiligung an einem in ökumenischer Hinsicht bemerkenswert unsensiblen Vorstoß zur Suizidassistenz seinem eigenen Ratschlag den Rücken gekehrt.
Vor dreißig Jahren veröffentlichten die evangelischen Kirchen in Deutschland gemeinsam mit der katholischen Kirche und allen anderen Mitglieds- und Gastkirchen der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen (ACK) ein Grundsatzdokument zu Herausforderungen und Aufgaben beim Schutz des Lebens. Es stand unter dem Titel: „Gott ist ein Freund des Lebens“. Aus der Unverfügbarkeit jedes Menschen und einer Unantastbarkeit als Person leiteten die Kirchen sowohl den Respekt vor dem „unbedingten Lebensrecht des anderen“ wie „die prinzipielle Respektierung seines Eigenrechts, seines Selbstbestimmungsrechts“ her. Es ist, mit Jürgen Habermas gesprochen, der auch für „religiös Unmusikalische“ nachvollziehbare Gedanke der vom Schöpfer gewährten Ebenbildlichkeit, der dem Menschen sowohl Unantastbarkeit als auch Selbstbestimmung zuerkennt. In beidem drückt sich sein Würde-Anspruch aus; beides miteinander zu verbinden, ist die Aufgabe menschlicher Lebensführung. Die Unantastbarkeit um der Selbstbestimmung willen aufzugeben, ist eine Handlungsmöglichkeit des einzelnen gegenüber sich selbst. Im Verhältnis zu anderen Menschen ist dagegen sowohl deren Selbstbestimmung als auch deren Unantastbarkeit zu achten.
Das gilt auch im Fall eines Suizidwunschs. Bei der Beschäftigung mit ihm kann man sich den Einsichten der Suizidforschung nicht entziehen. Auch der Suizidwunsch, der als freiverantwortlich bezeichnet und geachtet wird, ist oft aus der Verzweiflung geboren. Er traut der Zukunft nichts mehr zu. Das Gefühl von Vereinsamung und Ausweglosigkeit verlangt nach vertrauensvoller Kommunikation und gemeinsamer Suche nach möglichen Wegen in die Zukunft. In einer solchen Lebenssituation besteht die vorrangige mitmenschliche Aufgabe in der Fürsorge für einen Menschen in einer Grenzsituation. Wenn sich dabei der Wunsch nach selbstbestimmtem Sterben durchsetzt, ist das zu respektieren. Es ist jedoch eine unangemessene Verkürzung des Handlungsspektrums, selbstbestimmtes Sterben mit Suizidassistenz oder gar der Tötung auf Verlangen gleichzusetzen.
Heute wird ständig über Suizidassistenz gesprochen, ohne dass der klare Vorrang der Prävention in den Blick tritt; für diejenigen, die sich in diesem Bereich einsetzen und abmühen, ist das eine schmerzliche Erfahrung. Darüber hinaus verzichtet man häufig darauf, die Wechselwirkung zwischen medizinischem Fortschritt und neuartigen Fragen am Lebensende in den Blick zu nehmen. Der Ruf nach Sterbehilfe ist die Kehrseite der medizinisch möglichen Lebensverlängerung. Die Debatte über den ärztlich assistierten Suizid verbindet sich deshalb mit einem weitreichenden medizinethischen Problem. Die gegenwärtige Hochleistungsmedizin bringt vielfältigen Segen mit sich; zugleich ängstigen sich viele Menschen davor, unnötig lange an Apparate angeschlossen zu sein.
Deshalb sollte ärztliches Handeln dort zur Selbstbeschränkung bereit sein, wo weitere kurative Maßnahmen keine neue Lebensperspektive eröffnen. In solchen Fällen ist rechtzeitig auf medizinisch nichtmehr indizierte Maßnahmen zu verzichten und von kurativem auf palliatives Handeln überzugehen. Dafür sind eine weitere Verbesserung und leichtere Zugänglichkeit der palliativen Versorgung notwendig. Zu bedenken ist, dass wirtschaftliche Erwägungen sich oft in einer bedrückenden Zeitnot auswirken, die ärztliche und pflegerische Zuwendung zu den Leidenden zu einem knappen Gut macht; auch in dieser Hinsicht tut Änderung not. Bedauerlicherweise finden solche medizinethischen und gesundheitspolitischen Herausforderungen weniger öffentliche Aufmerksamkeit als die Debatte über Suizidassistenz.
Zu dieser Verzerrung der Perspektiven entscheidend beigetragen hat das geschäftsmäßige Angebot von Suizidassistenz, wie es vor allem von Sterbehilfevereinigungen propagiert wurde. Nach langen Debatten und manchem Zögern hat der Deutsche Bundestag mit breiter Mehrheit im Jahr 2015 mit dem neuen Paragraphen 217 des Strafgesetzbuchs dieses geschäftsmäßige Angebot verboten und mit Strafe belegt; das Bundesverfassungsgericht hat diesen Paragraphen mit seinem Urteil vom Februar 2020 für nichtig erklärt. Aber auch nach diesem Urteil kann die Beihilfe zur Selbsttötung nicht als eine ärztlich indizierte Handlung angesehen werden.
Es kommt deshalb auch im ärztlichen Handeln vorrangig darauf an, alternative Hilfen anzubieten und in Grenzfällen den Behandlungsverzicht oder auch den Verzicht auf Nahrungsaufnahme zu begleiten. Eine solche Begleitung, so berichten erfahrene Ärzte, kann den Suizidwunsch zurücktreten lassen und Suizide verhindern. Eine derartige Bemühung unter Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht des Patienten oder der Patientin zu unterlassen, wäre hochproblematisch. Dass diese Art von ärztlicher, seelsorglicher oder pflegender Begleitung im Einzelfall auch die Assistenz bei einem als alternativlos erscheinenden Suizid einschließen kann, sollte aus ethischer Sicht nicht bestritten werden. Doch kein Gesetzgeber kann professionell beteiligte Personen davon entbinden, dass es sich dabei um eine Gewissensentscheidung im Einzelfall handelt. Daraus einen allgemeinen ärztlichen, pflegerischen oder gar seelsorglichen Auftrag abzuleiten, würde den inneren Zusammenhang von Selbstbestimmung, Fürsorgend Lebensschutzsensibilität auflösen und das Ethos dieser Berufe erschüttern.
Noch einmal anders gewendet: Aus dramatischen Einzelfällen eine Regel ableiten zu wollen, missachtet das für das Zusammenleben zentrale, rechtlich und ethisch etablierte Folgeverhältnis von Regel und Ausnahme. Für die Ausnahme mag es im Einzelfall nachvollziehbare Gründe geben; diese sollten jedoch mit der Regel nicht auf eine Stufe gestellt werden. Das gilt erst recht, wenn mildere Mittel zur Verfügung stehen. Diese Einsichten verlieren durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts – bei allem Respekt vor dessen Rechtskraft – nicht an Bedeutung. Das Urteil verlangt vom staatlichen Gesetzgeber entsprechendes Handeln. Aber kein freier Träger wird dazu genötigt, mit organisierter Regelmäßigkeit im Feld der Suizidassistenz tätig zu werden. Die nach wie vor bestehenden Handlungsspielräume diesseits der Suizidassistenz sollten deshalb gerade von kirchlichen Häusern genutzt werden.
Niemand in diesem Bereich kann im Übrigen dazu verpflichtet werden, sich der eigenwilligen Auffassung des Gerichts von Selbstbestimmung anzuschließen. Das Urteil vom 26. Februar 2020 begründet die Aufhebung des Paragraphen 217mit dem Selbstbestimmungsrecht als allgemeinem Persönlichkeitsrecht, das auch das Recht auf Selbsttötung einschließe. Die Selbstbestimmung findet sich allerdings nicht direkt im Grundgesetz, sondern ist als „Kombinationsgrundrecht“ konstruiert: Es verbindet die freie Entfaltung der Persönlichkeit gemäß Artikel 2des Grundgesetzes mit der Unantastbarkeit der Menschenwürde gemäß dessen Artikel1. Das ist deshalb nicht nur von rechtlicher, sondern auch von ethischer Bedeutung, weil auf diese Weise ein Grundrecht, das Einschränkungen unterworfen werden kann (Artikel 2), mit der Menschenwürdegarantieverbunden wird, die unantastbar und deswegen auch nicht einschränkbar ist. Das so konstruierte Selbstbestimmungsrecht wird damit jeder Einschränkungsmöglichkeit entzogen.
Vor allem der Kölner Staatsrechtler Wolfram Höfling hat auf die rhetorische Aufwertung des Selbstbestimmungsrechts aufmerksam gemacht, die sich mit diesem Vorgehen verbindet. Dafür finden sich in dem Urteil eindrückliche Belege. Die Rede von „persönlicher Autonomie“ oder „individueller Selbstbestimmung“ reicht dem Gericht nicht aus; in eigenwilliger sprachlicher Verdoppelung ist vielmehr von „autonomer Selbstbestimmung“ die Rede. Ob eine solche überschießende Autonomierhetorik verfassungsrechtlich angemessen ist, wird man bezweifeln dürfen. In unserem Zusammenhang muss darüber hinaus gefragt werden, ob es unter theologischer und ethischer Perspektive gute Gründe dafür gibt, sich dieser Absolutsetzung der Selbstbestimmung anzuschließen. In dem Beitrag von Anselm, Karle und Lilie geschieht dies mit den Worten: „In dieser Hochschätzung des Individuums und seiner Selbstbestimmung gibt es keine Differenz zwischen dem Urteilstenor des Verfassungsgerichts und der Position der evangelischen Ethik.“ Das ist eine problematische Identifikation. Wer sich den Begriff der Selbstbestimmung in der Steigerungsform der „autonomen Selbstbestimmung“ zu eigen macht, favorisiert damit eine Auffassung, die zur Verknüpfung von Selbstbestimmung und Fürsorge, von Freiheit und Bindung Abstand hält, selbst wenn die Autoren weniger Sätze später auf solche Zusammenhänge Bezug nehmen.
Denn es bleibt dabei, dass die Autoren die entscheidende Folgerung aus dieser Absolutsetzung der Selbstbestimmung faktisch übernehmen. Das Bundesverfassungsgericht hebt das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidassistenz vor allem deshalb auf, weil nach seiner Auffassung Sterbewillige in Deutschland jenseits dieses Angebots keinen ausreichenden Zugang zu einer professionellen Unterstützung zur Verfügung haben. In der Konsequenz dieses Urteils werden entsprechende Möglichkeiten nicht nur in der schon bisher anerkannten gewissensbestimmten Einzelentscheidung professionell Beteiligter gesehen, sondern viel stärker in organisierten Assistenzangeboten. Genau dies hat der für nichtig erklärte Paragraph 217 als „geschäftsmäßig“ bezeichnet; solche geschäftsmäßigen Angebote schlagen die Autoren in vermeintlicher Best-Practice- Manier für kirchliche Häuser vor.
Sie sollten dabei bedenken, dass mit der Zugänglichkeit von professionellen Angeboten auch die Nachfrage wächst, wie am Beispiel der Beneluxstaaten und der Schweiz abzulesen ist. Beunruhigend ist diese Tendenz deshalb, weil die Forderung nach einer verlässlichen Erreichbarkeit der Suizidassistenz mit hoher Wahrscheinlichkeit die Forderung nach sich ziehen wird, die professionelle Tötung auf Verlangen freizugeben und auch den Zugang zu ihr sicherzustellen. In dieser Richtung wird bereits juristisch argumentiert.
So machen die beiden Strafrechtsprofessorinnen Tanja Hörnle und Frauke Rostalski geltend, wer den assistierten Suizid befürworte, könne die Tötung auf Verlangen kaum noch verbieten. Solche beunruhigenden Perspektiven werden von Anselm, Karle und Lilie nicht thematisiert. Dünn wird davon gesprochen, dass Dilemmata bleiben. Es wird aber nicht erwogen, ob es mildere Mittel gibt, die mit der christlichen Sorgekultur besser vereinbar sind, statt aus der Ausnahme eine Regel zu machen.
Wer die Suizidassistenz professionalisieren will, muss sich fragen, ob damit nicht früher oder später auch der Schutzwall gegen die aktive Sterbehilfe fällt. Wie die Debatten in der Rechtswissenschaft belegen, ist diese Befürchtung kein unstatthaftes Dammbruchargument. Vielmehr ist die kritische Prüfung solcher Konsequenzen unerlässlich. Für den kirchlich-diakonischen Bereich gilt das in besonderem Maß.
Die evangelische Kirche braucht einen Grundsatzdebatte über diese Fragen. Der nach wie vor wichtige Text von 2005 „Sterben hat seine Zeit“ bezieht sich zwar in seinen praktischen Folgerungen ausschließlich auf den Umgang mit Patientenverfügungen. Doch seine Klarstellungen reichen darüber hinaus. Eindeutig betont der Text die grundsätzliche Zusammengehörigkeit von Selbstbestimmung und Fürsorge im Blick auf den Schutz wie auf die Grenzen des Lebens.
Mit dieser Grundhaltung ist es nicht vereinbar, den Suizid als eine normale Option des Sterbens und dessen Ermöglichung als Hauptaufgabe multiprofessioneller Teams anzusehen, die durch ihre Tätigkeitunter Wahrung der Neutralität gegenüber dem Suizidwunsch „sichere Orte“ für die Klärung eines solchen Vorhabens und gegebenenfalls für dessen Verwirklichung anbieten. Damit wird der Grenzsituation, um die es sich im Fall jedes Suizids und deshalb auch im Fall seiner Unterstützung durch ärztliches, seelsorgliches und weiteres Personal handelt, zu einem der möglichen Regelfälle von Sterben und Tod gemacht.
Zugleich wird institutionell ignoriert, dass es keine Symmetrie zwischen der Option für die Bewahrung des Lebens und der Option für dessen Beendigung mit den Mitteln des Suizids gibt. Noch einmal sei betont: Das Gesagte schließt die Bereitschaft ein, suizidwillige Menschen intensiv und ohne Bevormundung zu begleiten und sie selbstverständlich moralisch nicht zu verurteilen.
Die Diakonie sollte ihr Profil stattdurch ein geschäftsmäßiges Angebot im Bereich der Suizidassistenz durch Formender Begleitung in der letzten Lebensphase stärken, die ihr Gewicht auf mögliche Alternativen legen. Dazu gehört insbesondere die palliative Versorgung, die nicht nur Mittel der Schmerzlinderung umfasst, sondern körperliche und psychologische, seelsorgliche und spirituelle Sterbebegleitung einschließt. Dazu gehören ferner der freiwillige Behandlungsverzicht, die palliative Sedierung (also die längerfristige Betäubung)und der begleitete freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit. Diese Handlungsformen geben dem Lassen Raum und sind über einen gewissen Zeitraumreversibel. Die beteiligten Helferinnen und Helfer sind eher in der Rolle der Begleitung beteiligt als in derjenigen der Assistenz. Sie müssen nicht mit einem bewährten und wohlerwogenen Berufsethos brechen.
Die Diakonie sollte nicht über Angebote „professionellen Suizids“ sinnieren. Auf diesem Angebotsmarkt müssen sich kirchliche Einrichtungen nicht tummeln, um einen „sicheren Ort“ als Alternative zu bisherigen Anbietern vorzuhalten. Einen „sicheren Ort“ stellt die Diakonie vielmehr dadurch bereit, dass niemand Patientinnen und Patienten mit der Frage konfrontiert, warum sie noch da seien. Außerdem sollte sie sich im Verbund mit der Caritas und den Kirchen dafür einsetzen, dass in einer künftigen Gesetzgebung zu diesem Thema, die durch das Karlsruher Urteil nötig geworden ist, Schutzklauseln gegen eine Pflicht freier Träger zur regelmäßigen Gewährleistung von Suizidassistenzvorgesehen werden.
Für kirchliche Angebote muss gelten: Hier wird eine inklusive und solidarische Handlungsweise in der Sterbebegleitung angeboten, die sich einfügen kann in eine an der Aufgabe des Lebensschutzes orientierte, dem einzelnen Menschen in seiner besonderen, oft verzweifelten Lage zugewandte, seine Selbstbestimmung achtende Praxis aus dem Geist des christlichen Liebesethos und der darin verwurzelten vorrangigen Option für Schwache und Benachteiligte.© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.
Anmerkung: Die zeitzeichen gGmbH hat die Nutzungsrechte von der FAZ erworben
und dankt Peter Dabrock und Wolfgang Huber für die Erlaubnis zur Dokumentation des Textes.
Peter Dabrock
Peter Dabrock ist seit 2010 Professor für Systematische Theologie mit dem Schwerpunkt Ethik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Von 2012 bis 2020 war Dabrock Mitglied des Deutschen Ethikrates und von 2016 bis 2020 dessen Vorsitzender.
Wolfgang Huber
Dr. Dr. Wolfgang Huber ist ehemaliger EKD-Ratsvorsitzender, Bischof i. R. und Herausgeber von "Zeitzeichen." Er lebt in Berlin.