Ferdinand von Schirachs neues Theaterstück zum assistierten Suizid wurde bereits auf vielen Bühnen gezeigt und ist am kommenden Montag auch im ARD-Fernsehen zu sehen. Doch um welchen Gott geht es hier? Martin Heimbucher, Kirchenpräsident der Evangelisch-reformierten Kirche, betrachtet das Stück kritisch und bietet theologische Differenzierungen an.
Das Buch liegt in jeder Buchhandlung. Und demnächst wird das Stück im Fernsehen gezeigt. Eindrucksvoll und schauspielerisch glänzend besetzt. Sein Titel: GOTT. In Großbuchstaben. Ich staune. Das Stück handelt vom Streit um die „Sterbehilfe“, um die Legalisierung der ärztlichen Hilfe zum Suizid. Warum aber dieser Titel? Handelt es auch von Gott?
In Ferdinand von Schirachs Theaterstück verhandeln Juristen, Mediziner und auch ein Theologe in einem fiktiven „Ethikrat“ den Wunsch des 78jährigen Richard Gärtner. Der möchte seinem Leben mithilfe eines tödlichen Medikaments ein Ende setzen. Er ist nicht krank. Aber nach dem qualvollen Sterben seiner Frau will er einfach nicht mehr leben. Seine Kinder haben das nach langer Diskussion akzeptiert. Hat er Anspruch auf ärztliche Hilfe zum Sterben? Das wird verhandelt.
Die rote Banderole um das weiße Buch stellt elementare Fragen: „Wem gehört unser Leben? Wer entscheidet über unseren Tod?“ Und, auf der Rückseite: „Sind wir das Maß aller Dinge?“ Verblüffend: Die Fragen klingen wie aus einem christlichen Lehrbuch. Und noch überraschender: Die berühmte Frage 1 des reformierten Heidelberger Katechismus von 1563 gibt bereits eine theologische Antwort auf die Ausgangsfrage des Buchs: „Ich gehöre mit Leib und Seele, im Leben und im Sterben, nicht mir (!), sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus.“
Berechtigte Herausforderung
Natürlich sind mit diesem in unserer Kirche geltenden Bekenntnis noch nicht die bedrängenden Fragen beantwortet, die sich in der Diskussion um den assistierten Suizid stellen. Aber mit dieser Antwort ist ein Ausgangspunkt benannt, von dem jede theologische Stellungnahme zu dieser Frage herkommt. Wenn sie denn im biblischen Sinn vom Menschen reden möchte. Und damit auch von Gott. Von Schirachs Buchtitel ist eine berechtigte Herausforderung. Ich will sie annehmen.
„Mein Leben gehört nicht mir, sondern Gott.“ Dieses Bekenntnis dürfte die meisten Zeitgenossen doppelt irritieren. Wir haben uns an die Vorstellung unserer „Autonomie“ gewöhnt. „Ich gehöre niemandem. Höchstens mir selber.“ So reagierten die hellsten meiner Konfirmanden bei der ersten Begegnung mit dem „Heidelberger“. Dass ihr Leben Gott gehören solle oder gar Jesus Christus, schien zunächst kaum vermittelbar. Inwiefern sollte ihnen das nützen?
Mir ist der Hinweis auf Jesus Christus schlagartig erhellend. Wenn Fragen um Leben und Tod im Raum stehen, bedeutet der Hinweis auf Christus zunächst zweierlei: Selbst im äußersten Leiden, selbst im sinnlosen Tod am Kreuz lässt Gott den Menschen nicht los. Das ist am Karfreitag noch verborgen. Erst am Ostermorgen, erst in der Begegnung mit dem Auferstandenen wird dieser letzte Trost offenbar. Wenn ich diesem vom Tod ins Leben gerissenen Gottessohn „gehöre“, bin ich schon in meinem irdischen Leben untrennbar verbunden mit dem Ewigen. Jetzt in der Hoffnung des Glaubens. Dann aber, in und nach meinem Tod, in Gottes Liebe, die alles umgreift.
Ferdinand von Schirach, im ersten Beruf Strafrechtsverteidiger, hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegen das Verbot der gewerblichen Sterbehilfe als „Jahrhunderturteil“ begrüßt, als „Urteil für die Freiheit“. In seinem Stück nimmt Rechtsanwalt Biegler, Beistand des sterbewilligen Herrn Gärtner, zunächst die anwesenden Mediziner und dann auch den Theologen ins Kreuzverhör. In der Rolle dieses Rechtsanwalts agiert kaum verborgen der Autor selber.
"Gott" als Chiffre
Die Mediziner in dem Stück dürfen ihre Ablehnung der Sterbehilfe glaubwürdig begründen. Frau Dr. Brandt, die Hausärztin Gärtners, erklärt: „Ich möchte keine Beihilfe zum Suizid leisten. Aber davon ganz unabhängig, zweifle ich auch, ob es für andere Ärzte ethisch richtig wäre, ihren Patienten dabei zu helfen.“ Und Herr Sperling von der Bundesärztekammer beharrt auf der kategorialen Unterscheidung zwischen dem Unterlassen lebenserhaltender Maßnahmen und einem aktiven Herbeiführen des Todes: „Ein Arzt, der hilft, zu töten, zerstört das Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Arzt.“ Rechtsanwalt Biegler wird dem entgegenhalten: „Ich würde einem Arzt vertrauen, der mir hilft, wenn’s darauf ankommt.“
Während dieser Befragung hält es den sterbewilligen Richard Gärtner nicht auf seinem Platz. Ferdinand von Schirach lässt ihn leidenschaftlich gegen die Haltung der Bundesärztekammer aufbegehren: „Ihr verdammtes Ethos steht nicht über dem Ethos der Gesellschaft. In diesem Land leben freie Menschen, sie können und dürfen über ihr Leben und ihr Sterben selbst entscheiden.“ Und am Ende dieses Ausbruchs schleudert er dem Vertreter der Ärzteschaft entgegen: „Warum glauben Sie, Sie dürften sich für Gott halten?“
Diese Intervention lässt aufhorchen. Wenn hier nicht bloß die Uralt-Polemik gegen den „Halbgott in Weiß“ aufgewärmt werden soll, dann greift von Schirach hier ein theologisches Motiv auf. Und wendet es in die Gegenrichtung: Nicht derjenige spielt Gott, der einem Lebensmüden beim Sterben hilft. Sondern umgekehrt. Wer sich der medizinischen Hilfe zum Suizid verweigert, wird angeklagt, sich als „Gott“ aufzuspielen. „Gott“ ist hier eine Chiffre für moralische Bevormundung. Für Unerbittlichkeit statt Mitgefühl. Einen solchen Gott kann man wirklich nur loswerden wollen.
Karikatur der Kirche
Aber ist das der Gott, den die Christenheit bekennt? Ist das der „Gott, der mich geschaffen hat, samt aller Kreatur“, der mir Leib und Seele, Augen, Ohren, alle Glieder gab, Vernunft und alle Sinne, wie Luther im Kleinen Katechismus aufzählt. Der Gott, der mich mit jedem Atemzug am Leben hält, vom ersten Schrei bis zum letzten Aushauchen? Ist das der Gott, dessen Sohn sich schützend dazwischenwirft, wo über einen Menschen gerichtet wird: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“? Ist das der Gott, der uns – mit Bonhoeffers Mutwort für die Freunde im Widerstand – „in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen“?
In „GOTT“ wird schließlich auch ein Theologe aufgerufen: Bischof Helmuth Thiel. Von Schirach vermerkt lakonisch: „Alle Rollen, bis auf Bischof Thiel, können von Frauen oder Männern gespielt wer-den.“ Kirche scheint für den Autor nur in der römischen Spielart griffig darstellbar. Noch dazu in einer tiefschwarzen Version. Schade eigentlich. Gibt’s denn nicht auch Bischöfinnen? Und würden die etwa so reden?
Man sollte meinen, der Bischof dürfe nun das Bekenntnis stark machen, das ihn dazu führt, eine aktive Sterbehilfe abzulehnen. Diese Erwartung wird enttäuscht. Ich weiß nicht, wie es Juristen geht, die dieses Stück sehen. Und ich bezweifele, dass sich viele Mediziner von jenem fiktiven Mitglied der Bundesärztekammer gut vertreten sehen. Der Bischof Thiel aber – so überzeugend er gespielt werden mag – spricht wie die Karikatur eines kirchlichen Repräsentanten.
Vollmundig beginnt er: „Ich glaube an das Leben.“ Und lässt sich am Ende in die Position eines „absoluten Lebensschutzes“ drängen. Die kann Biegler/von Schirach mit leichter Hand als widersprüchlich entlarven. Dafür müsste er dem Bischof die Liste kirchlicher Verfehlungen gar nicht unter die Nase reiben, von den Kreuzzügen bis zum sexuellen Missbrauch. „Kann Ihre Kirche angesichts solcher Vorfälle noch glaubwürdig in moralischen Fragen sein?“
Dieser Frage muss sich allerdings jede kirchliche Stellungnahme aussetzen. Und wird sie nur dann bejahen, wenn sie auf den peinlichen Abwehrversuch verzichtet, den Bischof Thiel unternimmt: „Nicht die Kirche hat gesündigt. Es waren Einzelne, die diese schrecklichen Taten begangen haben.“ Diesen Satz – er geht auf den einstigen Kurienkardinal Ratzinger zurück - haben freilich katholische Bischöfe längst zurückgewiesen.
Ferdinand von Schirach zeichnet seinen Bischof Thiel als einfältigen Hardliner. Er lässt ihn „Selbstmord“ als „reinen Egoismus“ verurteilen und konstatieren: „Der Selbstmörder ist auf ewig verloren. Diese Auffassung teile ich als Christ.“ Eine solche Auffassung teilen die wenigsten Christinnen und Christen. Es ist in unseren Breiten schon länger her, dass Suizide von kirchlicher Seite generell verurteilt wurden. Oder Hinterbliebenen eine kirchliche Bestattung verweigert wurde. Schade, dass von Schirach die Haltung der Kirche zum assistierten Suizid auf diesem toten Gaul angreift. Der Verweis dient seinem Rechtsanwalt Biegler als Steilvorlage, um dem Bischof theatralisch eine Bibel zu präsentieren. In der Bibel wird „Selbstmord“ nicht verurteilt oder verboten. In der Tat. Aber die Bibel ist kein Strafgesetzbuch. Es wäre leichtfertig, von diesem Befund her ein „Recht auf Selbsttötung“ zu folgern.
Was für eine Freiheit! Was für eine Verantwortung!
Immerhin benennt Bischof Thiel ein weitverbreitetes theologisches Argument gegen die Sterbehilfe: „Das Leben ist ein Geschenk Gottes.“ Um den erwartbaren Einwand zu hören: „Geschenke darf man zurückgeben.“ Beides ist kindisch: die Metapher vom „Geschenk“ des Lebens wie auch die trotzige Entgegnung, mit einem Geschenk könne ich machen, was ich will. Das passt ja schon nicht für „Himmel und Erde“, dem bewohnbaren Raum zum Leben. Auch wenn sich die Menschheit genau so verhält wie ein Trotzkind mit „seinem“ Geschenk. Als Gabe Gottes ist uns das Leben von Gott anvertraut. Nicht nur zur Verfügung. Sondern zur Bewahrung .
Die Verfügungsgewalt haben wir an uns gerissen. Und erschrecken, wenn eine Pandemie oder eine Naturkatastrophe uns an die Grenzen des Verfügbaren erinnern. Und uns mit den Risiken und Nebenwirkungen unserer Art von Herrschaft konfrontieren. Das Bewahren ist gegenüber dem Verfügen die anspruchsvollere Aufgabe. Das Gleiche gilt für mein eigenes Leben. Es ist beides zugleich: Unverdiente Gabe und mir gestellte Aufgabe. Wir können uns zum Gegebenen frei verhalten. Ich kann darüber verfügen. Was für eine Freiheit! Und ich soll es bewahren. Was für eine Verantwortung!
Der Heidelberger Katechismus geht noch einen Schritt weiter: „Ich gehöre Christus.“ Damit ist ein Anspruch auf mein Leben verbunden, der unmittelbar einhergeht mit einem Freispruch. Niemals ist mein Leben nur mein Eigentum. Sondern es ist von vornherein Leben in Beziehung. Zunächst mit Gott: „Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitet habe“, so vernimmt der Prophet Jeremia die Stimme Gottes. Seinem Leben wird damit Würde und Auftrag zugleich zugesprochen. Aus dieser Gottesbeziehung erwächst unmittelbar auch Mitmenschlichkeit, tatsächlich: „von Mutterleibe an“. Darum fordert der Glaube das Gebot. Darum geht das Gottesverhältnis einher mit der Befähigung des Menschen zu einer qualifizierten Sozialität. Zur Nächstenliebe. Und zu dem, was das Gebot der Nächstenliebe fordert, persönlich und gesellschaftlich.
Das Leben zeigt: Ich bin nicht allein. Der Glaube lehrt: Ich bin nie allein. Mein Leben ist wertvoll. Für mich und für andere. Das gilt auch in Krankheit und Leid. Darum werde ich immer neu danach fragen, was der Wille Gottes ist. Für mich. Und für die anderen.
Außer-ordentliche Haltung
Ich höre sein Gebot: „Du sollst nicht töten.“ Und erkenne den Schutz, unter den Gott das Leben stellt. Wie auch immer ich mich im Fall des Sterbewunsches eines Menschen entscheide – ich kann schuldig werden und bin auf Vergebung angewiesen. Gott hat mir in Christus solche Vergebung zugesprochen. Ich werde darum bitten. Und darf gewiss sein: Ich werde Vergebung empfangen. Das ist der „Trost“, den wir aus der Zugehörigkeit zu Christus gewinnen. An diese Verheißung klammert sich der Glaube – „im Leben und im Sterben“.
Die Frage, ob ich einem anderen Menschen aktiv dabei helfen soll, sich das Leben zu nehmen, kann zu einer Zerreißprobe werden. Denn wie auch immer ich mich verhalte, kann ich schwere Schuld auf mich laden. Nikolaus Schneider, der frühere Ratsvorsitzende der EKD, hat zusammen mit seiner Frau Anne den leidenschaftlichen Disput öffentlich gemacht, den sie als Eheleute darüber geführt haben. Er würde mit ihr um ihr Leben ringen - um seiner theologischen Überzeugung willen. Um der Liebe willen aber würde er bei ihr bleiben, wenn sie ihrem Leben ein Ende setzt. Wer würde einen Ehepartner, eine Tochter oder einen Sohn dafür verurteilen?
In diesem Ringen wird deutlich: Sterbehilfe ist aus christlicher Sicht – wenn überhaupt – nur als eine außer-ordentliche Handlung denkbar. Damit ist eine generelle Legalisierung des assistierten Suizids kaum zu begründen. Jedenfalls dürfen wir uns nicht daran gewöhnen, den Suizid eines gesunden Menschen als selbstverständliche Alternative zum Weiterleben anzusehen. Denn das ist er nicht. Gewöhnung führt zur schulterzuckenden Hinnahme. Und zum sozialen Druck auf Menschen, die uns „zur Last fallen“. Das darf nicht sein.
„Was ist der Mensch, dass du, Gott, seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“ So beten Juden und Christen mit Psalm 8. Und meditieren weiter: „Du hast ihn, den Menschen, wenig niedriger gemacht als Gott.“ Das ist eine präzise Verhältnisbestimmung in jenem eigenartigen Eigentumsverhältnis: Gott erhebt den Menschen zu seinem Partner. Aber er macht ihn damit nicht zu einem „Gott“. Genau diese Differenz steht beim Streit um den assistierten Suizid auf dem Spiel. Ich glaube, dass wir ärztliche und seelsorgliche Hilfe im und beim Sterben leisten müssen. Aber keine Hilfe zum Sterben. Ich würde Herrn Gärtner das tödliche Medikament nicht geben.
„Sie werden zugeben, Herr Bischof“, gibt Rechtsanwalt Biegler am Ende zu bedenken, „dass Ihr Bekenntnis einen ganz bestimmten Glauben an einen ganz bestimmten Gott voraussetzt.“ Und Bischof Thiel antwortet: „Das tut es.“ Hier hat der Bühnen-Bischof Recht.
Martin Heimbucher
Martin Heimbucher ist Kirchenpräsident der Evangelisch-reformierten Kirche.