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Immer gleiche Stereotype

"Aus aktuellem Anlass“, so der Autor, der emeritierte Tübinger Theologie-Professor Karl-Josef Kuschel, erscheine jetzt das 2013 erstmals unter dem Titel „Theodor Heuss. Die Schoah, das Judentum, Israel. Ein Versuch“ veröffentlichte Werk in einer Neuauflage. Der Titel der aktuellen Ausgabe würde „der neuen gesellschaftlichen und politischen Entwicklung in Deutschland und Europa Rechnung“ tragen.

Zu Beginn werden eine Reihe von Ausschnitten aus Reden der Nachfolger von Bundespräsident Theodor Heuss zitiert, die auf Ausländer-/Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus in Deutschland nach 1945 reagierten und deutlich machten, wie solche Wellen, die in der bundesrepublikanischen Geschichte mit dem Anschlag auf die Synagoge in Köln zu Weihnachten 1959 und dessen Folgen einen ersten Höhepunkt erreichten, einen Seismographen für den Zustand der Demokratie in diesem Land darstellen. Anders als Bundeskanzler Konrad Adenauer, der die Anschläge auf die Kölner Synagoge als Flegeleien und deren Täter als „Lümmel“ bezeichnete, die eine Tracht Prügel bräuchten, reiste Heuss – nun nicht mehr Bundespräsident – privat nach Israel und warnte davor, „den Vorgang zu bagatellisieren“.

Kuschel will eine Seite des ersten Bundespräsidenten beleuchten, die bisher kaum zur Sprache kam. Diese „ungeschriebene Geschichte“ dreht sich um das freundschaftliche Verhältnis des liberalen Politikers zu jüdischen Zeitgenossen und Weggefährten, zum Judentum überhaupt, vor allem aber um sein unbeirrtes öffentliches Eintreten für eine selbstkritische Erinnerungskultur, die „Wiedergutmachung“ und die Aussöhnung mit Israel. Dabei geht es auch immer wieder um Antisemitismus.

Der Autor verwendet die Begriffe alter und neuer Antisemitismus und definiert „neuen Antisemitismus“ als eine Form, die keine Hemmungen kenne, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Abgesehen davon, dass es keinen „neuen“ Antisemitismus gibt, weil er sich immer gleicher Stereotypen bedient, die sich den aktuellen Zeitläuften anpassen, ist Kuschels Begründung für die Bezeichnung „neu“ seine ganz eigene, die in der Antisemitismusforschung keinerlei Widerhall findet. Antisemiten haben spätestens seit den 1990er-Jahren die Öffentlichkeit nicht gescheut, Zuschriften an den Zentralrat der Juden in Deutschland oder an die Israelische Botschaft enthielten größtenteils Name und Anschrift des Absenders und wurden nicht mehr anonym verschickt. In den sozialen Medien allerdings führt der Schutz der Anonymität zu einem Anstieg von Gewalt und Hass, der tatsächlich neu ist. Die einen verstehen unter den neuen Formen antijüdischer Stereotypisierung den israelbezogenen Antisemitismus und die anderen neue „Tätergruppen“. Leider haben sich an manchen Stellen der Publikation einige Ungenauigkeiten eingeschlichen: die Reichsvertretung der deutschen Juden trug nicht während der gesamten NS-Zeit diesen Namen, sie musste sich nach Erlass der „Nürnberger Gesetze“ 1935 in Reichsvertretung der Juden in Deutschland umbenennen. Damit war ein deutliches Zeichen der Ausgrenzung gesetzt.

Es folgte 1939 eine erneute Namensänderung in Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, die einher ging mit dem Verlust der Selbständigkeit durch die nun auferlegte staatlich gelenkte Kontrolle. Anhand dieser erzwungenen Namensänderungen lassen sich die Stationen der Entrechtung ablesen, und insofern ist es wichtig, diese auch zu erwähnen.

Die Reduzierung des Nationalsozialismus und der in deutschem Namen begangenen Verbrechen auf Hitler und seine Partei ist in der Wissenschaft längst überwunden und sollte in Publikationen gemieden werden, weil es jenen zupasskommt, die jegliche Verantwortung der deutschen Gesellschaft abweisen und die Verbrechen nur einer kleinen Gruppe unter Hitler zuschreiben. Die Nutzung des Begriffs „Machtergreifung“ fällt in die gleiche Verzerrungsrubrik. Hitler und die NSDAP haben die Macht übernommen, sie wurde ihnen übergeben und sie stand am Ende eines Prozesses, in dem demokratische Strukturen ausgehebelt wurden.

Am Ende bleibt die Frage, ob Kuschels Fokus auf die Verbindungen von Heuss zu jüdischen Weggefährten und Freunden nicht außen vor lässt, dass diese Kontakte mit lange zurückreichenden persönlichen Beziehungen einhergingen und nicht so sehr damit zu tun hatten, dass die Personen jüdischen Glaubens waren. Sicherlich hat Heuss’ Empathie ein Stück weit mit den engen Kontakten zu jüdischen Freunden und Bekannten zu tun, aber war es nicht vielmehr sein Verantwortungsbewusstsein, das dazu führte, dass ihm die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit so am Herzen lag? Manche Kontakte zu jüdischen Zeitgenossen nimmt der Autor nur an, kann sie aber nicht belegen, oder sie waren nur lose, kurze Verbindungen. Es stellt sich hier einmal mehr die Frage, warum es dieses Namedroppings bedarf, um eine Seite von Heuss zu beleuchten, die bisher unbekannt gewesen sei.

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Foto: Boris Bocheinski

Juliane Wetzel

Juliane Wetzel ist Historikerin am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität in Berlin.


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