Gebrauchsanleitung für das Endspiel?

Sieben Baustellen, anlässlich der „11 Leitsätze“ des Z-Teams der EKD betrachtet
Kirchemamt der EKD
Foto: epd

Das hochkarätig besetzte Z(ukunfts)-Team der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat 11 Leitsätze zur Zukunft der Kirche vorgelegt und zur Diskussion aufgefordert. Günter Thomas, Professor für Systematische Theologie in Bochum, beginnt für zeitzeichen damit. Er hat sieben Baustellen ausgemacht.

In den evangelischen Kirchenleitungen liegen aus guten Gründen die Nerven blank: Die im Mai 2019 vorgestellten Prognosen des Freiburger Forschungszentrums Generationenverträge (FZG), die eine Halbierung der Mitgliederzahl der Evangelischen Kirchen bis 2060 und eine Halbierung der Kaufkraft der Kirchen vorhersagten, scheinen zu optimistisch gewesen zu sein. Im Jahr 2019 stiegen die Austrittszahlen merklich. Die Kirchensteuereinnahmen werden sich im Jahr 2020 alleine in Folge der Corona-Krise in den Landeskirchen absehbar um 15-25 Prozent verringern. Dabei sind die voraussichtlich durch die Wirtschaftskrise bedingten Kirchenaustritte noch nicht mitberücksichtigt. Diese Einbrüche können nicht mehr weggelächelt werden. Jetzt beginnen die Verteilungskämpfe. Gleich mehrere ökonomische Triage-Situationen sind zu meistern.

In diese schwierige Zeit stößt ein neues Zukunftspapier der EKD, das von einem 2017 gebildeten Zukunftsteam verantwortet wurde. Der Selbstanspruch ist kein geringer: Die nun veröffentlichten 11 Leitsätze sollen „die Basis der Diskussion und Entscheidungsfindung für die Weiterentwicklung der evangelischen Kirche sein“. Die Besetzung ist hochkarätig und repräsentativ: Sechs Bischöfe beziehungsweise Präsides sind Mitglieder, acht Landeskirchen direkt vertreten, der Ratsvorsitzende der EKD, die Präses der Synode der EKD und ein Vizepräsident des Kirchenamtes der EKD sind mit dabei. Ich vermag mich nicht an eine kirchenleitend hoch so besetzte Kommission zu erinnern.

In meiner Antwort auf dieses Papier möchte ich mich auf sieben Problemfelder konzentrieren. Alle sieben stellen für Kirche und Theologie offene Baustellen dar. Diese offenen Baustellen werden in den 11 Leitsätzen nur indirekt thematisiert, zum Teil nur touchiert, zum Teil aber auch laut beschwiegen. Sie springen einem nachdenklichen Leser regelrecht aus dem Text entgegen. Werden die Baustellen nicht offen angegangen, dann sind die 11 Leitsätze nicht weniger als eine Gebrauchsanleitung zum Endspiel. Aber es gilt auch ehrlich einzugestehen, dass in diesen Fragen niemand einen goldenen Schlüssel in der Hand hält. Darum sind die folgenden Überlegungen zu den sieben Baustellen Einladungen zu einer Debatte.

1. Welche Kirche? NGO-Bewegungskirche oder Gemeindekirche?

In drei Gestalten existiert die Kirche in der Gegenwart: 1. In Gestalt der staatlich weitgehend ausfinanzierten Unternehmensdiakonie, 2. In Gestalt der zumeist parochialen Gemeinde und 3. in Gestalt der vielfältigen kirchlichen Werke, Dienste und Initiativen, die nicht staatlich gegenfinanziert sind.

Die erste Gestalt, die Unternehmensdiakonie, kann an dieser Stelle außen vorgelassen werden. Sie blüht trotz Unterfinanzierung und wird in Krisenzeiten von der öffentlichen Hand über Kredite oder „die Notenpresse“ finanziert. Kunden hat sie genug, an Mitarbeitern mangelt es zuweilen. Zwischen den letzten beiden Gestalten werden allerdings die mit Macht aufziehenden Kämpfe um Prioritäten und Ressourcen ausgefochten.

Es ist diese dritte Gestalt der kirchlichen Werke, Dienste und Initiativen, die in den letzten fünf Jahrzehnten enorm gewachsen ist – finanziell wie personell. In manchen Landeskirchen arbeiten dort fast ein Drittel der Pfarrer. Und, was ganz wesentlich ist: Diese dritte Gestalt der Werke, Dienste und Initiativen, ist der Raum, in dem sich die kirchlichen NGOs entfaltet haben. Es der Raum der NGO-Bewegungskirche.

Die Kirche als Gemeinde existiert vielfach noch als Parochialkirche, wobei es zwischenzeitlich eine Fülle von ergänzenden regionalen Formen gibt. Diese reichen von Citykirchen über Richtungsgemeinden hin zu innovativen FreshX-Gemeinden jenseits des parochialen Organisationsprinzips. Es ist diese Kirche als Gemeinde, die von einem hohen Engagement im Kern gekennzeichnet ist. Zugleich kennt sie abgestufte Gestalten der Zugehörigkeit. Und es ist diese Kirche als Gemeinde, die eine starke dauerhafte symbolische Präsenz durch Gebäude (Kirchen inklusive Glocken) und Personen (Pfarrerinnen und Pfarrer) lebt und sehr weite Kreise der vielfach nur imaginierten Zugehörigkeit eröffnet.

Die Frage, die auf dem Tisch liegt und in den anstehenden Verteilungskämpfen bearbeitet werden muss, lautet: Welche Gestalt der Kirche ist zukunftsfähig? Die Gemeindekirche oder die NGO-Bewegungskirche?

Es ist ganz deutlich: Die 11 Leitsätze erwarten von der Kirche als Gemeinde keine Impulse für die Zukunft. Weder von ihrem Pfarrpersonal, noch von ihrer Sozialform. Die Leitsätze der EKD setzen auf eine irgendwie dynamisch gedachte NGO-Bewegungskirche, die irgendwie spontan an vielen neuen Orten präsent ist.

Die parochiale oder regionale Gemeinde ist abgeschrieben. Auf irritierende Weise distanzieren sich die bischöflichen Vereinsvorsitzenden von der Vereinskirche und die bischöflichen Amtsträger von der Amtskirche. Die theologischen Gründe dieser Option liegen auf der Hand. Nur in der NGO-Bewegungskirche lässt sich die moralische Eindeutigkeit in der Option für die Armen, für die Suche nach Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung und nicht zuletzt für die „klare Kante“ gewinnen. Nur mit der NGO-Bewegungskirche lässt sich das bisherige Programm der Öffentlichen Theologie fahren. Nur hier finden sich in der Zivilgesellschaft progressive Partner der Kirchen. Nicht zuletzt meinen die Autoren, die Jugend am ehesten für die Gestalten der NGO-Bewegungskirche faszinieren zu können. Das Leitmodell ist Greenpeace: Eine flache, aber rigide Hierarchie, Aktionsexperten, spektakuläre Aktionen mit politischer Signalwirkung, mediale Resonanz, ein paar zahlende Spender und ein großes staunendes Publikum. Eben starke Resonanz.

Das Problem dieser Option ist, dass die NGO-Bewegungskirche nicht nachhaltig ist, weder finanziell noch personell. Die NGO-Bewegungskirche lebt in Wahrheit von den vielen Stillen im Lande, denen die Gemeinde, auch aus der Distanz betrachtet, sehr wichtig ist. Die dynamischen Kämpfer der NGO-Bewegungskirche, die alle nahe am Puls der gesellschaftlichen Gerechtigkeitsempfindungen leben, leben ökonomisch von denen, die sie im Grunde genommen verachten. Der Vortrupp der neuen Gesellschaft lebt vom Geld der Zurückgebliebenen. Und: Die führenden Aktivisten leben von den Gehaltszahlungen und den Rentenkassen der Anstaltskirche.

Die klare Option für die NGO-Bewegungskirche ist aber auch deshalb selbstzerstörerisch, weil sie personell nicht nachhaltig ist. Religion als ethisches Bekenntnis lebt weitestgehend von jenen, die irgendwann engeren, frömmeren und spirituelleren Milieus entflohen sind. Unübersehbar ist, dass die meisten Kinder der Aktivisten gleich die Parteimitgliedschaft der Kirchenmitgliedschaft vorziehen. Kurz: Die in den strukturellen Passagen der 11 Leitsätze überall durchscheinende Option für die vermeintlich am Puls der Zeit agierende NGO-Bewegungskirche ist schlicht selbstzerstörerisch für die Kirche – und zwar langfristig auch für die NGO-Bewegungskirche.

Natürlich muss sich die Ortsgemeinde ohne falsche Romantik weiterentwickeln in Richtung regionaler Vernetzung. Es muss umsichtig geprüft werden, was sich bewährt und was im Blick auf den Auftrag der Kirche unverzichtbar ist. Aber es dürften die Resonanzfelder der Gemeinde sein, in denen sich bei zurückgehendem Kirchensteueraufkommen zusätzliche Ressourcen nachhaltig mobilisieren lassen. Dies lehren nicht zuletzt die ökumenischen Erfahrungen. Es ist zweifellos so: Ohne lebendige Ortsgemeinden wird die Kirche schlicht untergehen.  

Das Verhältnis zwischen Gemeindekirche und NGO-Bewegungskirche ist bleibend asymmetrisch. Die letztere ist von ersterer vielfältig abhängig. Dies schließt auch aus, Ortsgemeinden in lokale oder religionale Agenturen der NGO-Bewegungskirchen zu machen. Was dies in Zeiten dramatischer Verteilungsprobleme bedeutet, ist ebenso zu diskutieren wie die Frage, in welchem Verhältnis der wechselseitigen Forderung und Förderung beide Gestalten der Kirchen in der Zukunft stehen können.

2. Warum in der Kirche sein?

Was ist der theologische Kern und die soziologische Pointe von Kirchenmitgliedschaft? Diese Frage bedarf einer Klärung. Warum?

In dem letzten Jahrhundert hat der liberale Protestantismus der westlichen Gesellschaften ein einzigartiges theologisches Experiment durchgeführt: Wie lebt es sich als Kirche, wenn die organisatorische Grenze der Kirche nicht mehr die Grenze des Heils ist? Heil und Unheil trennt nicht mehr die Kirche von der Welt. Schließlich geht der Himmel über allen auf. Schließlich wird die faktische Versöhnung der Welt nicht durch den Akt des Glaubens in der Kirche ins Werk gesetzt, sondern gilt vorgängig der ganzen Welt.

Soziologisch betrachtet, kann die Kirche nicht mehr mit den eigenen theologischen Begriffen die Grenze der Organisation deuten. Ganz entsprechend ist theologisch weithin unklar, was jemand gewinnt, wenn er getauft wird, und was er verliert, wenn er aus der Kirche austritt und die Mitgliedschaft ablegt. Dies ist im Kern das theologische Problem der schon lange schwelenden Mitgliedschaftskrise. Und dies ist die Ausgangslage, die dringend als Problem anerkannt und theologisch bearbeitet werden muss.

Wie ist nun vor diesem Hintergrund mit den angestiegenen Austrittszahlen umzugehen? Zwei Strategien werden von der Zukunftskommission vorgeschlagen. Beide verschärfen jedoch das Problem, indem sie Mitgliedschaft aktiv relativieren beziehungsweise uminterpretieren. Indem die leitenden Geistlichen explizit das Interesse an Menschen verstärken wollen, die sich auch ohne Mitgliedschaft der Kirche verbunden fühlen, problematisieren sie direkt die Kirchenmitgliedschaft: Auf die kommt es offensichtlich gar nicht an. Warum sollte man noch ‚Vollmitglied‘ sein? Wird man erst durch die ‚richtige‘ Mitarbeit zum anerkannten Vollmitglied? Warum sollten engagierte Mitarbeiter nicht austreten, dennoch „dabeisein“ und für die Dinge spenden, die ihnen am Herzen liegen? Letztlich drückt sich in diesem Interesse an den Engagierten ohne Mitgliedschaft eine verzweifelte Hoffnung aus: Es werden ja nicht weniger Mitarbeiter, nur weniger Kirchenmitglieder!

Hinzu kommt aber noch ein zweites: Die Überlegungen zu Mission legen offen, dass es den Verfassern im Kern um eine Ethik geht, wenn es ihnen um Glauben geht – eben um den Einsatz „für die Schwachen, Ausgegrenzten, Verletzten und Bedrohten“. Genau diese ethische Ausrichtung ist zweifellos die Schubkraft hinter der Suche nach zivilgesellschaftlichen Partnern (unter dem Titel Mission!). Diese Ausrichtung ist aber zugleich auch die Offenlegung einer simplen Tatsache: Die Kirche hat nichts zu bieten, das nicht auch irgendwelche anderen sozialmoralischen und politischen Akteure zu bieten haben. Dies reicht aber, so meine These, am Markt der Aufmerksamkeit nicht aus. Auf diesem Markt könnte es für eine selbstkritische Kirche gerade umgekehrt produktiv sein, zu fragen, wofür sie keine Partner findet.

Wenn ein sozial-politisches Programm vertreten wird, das sich weitgehend mit dem Programm möglicher Bündnispartner deckt, dann entfällt jeder Grund, wirklich in der Kirche zu sein. Es gibt keinen Unique Selling Point mehr – außer vielleicht einen spezifisch spirituellen Motivationsbooster kombiniert mit etwas religiöser Symbolfolklore. Natürlich werden noch gewissermaßen im Sinne eines dekorativen Zuckergusses semantische Reste gepflegt, aber deren operative Bedeutung wird in den 11 Leitsätzen der bischöflichen Kommission nicht deutlich. Mitglied sein, heißt irgendwie Protestantismus gut finden. Reicht dies? Im Ernst?

Der EKD-Ratsvorsitzende, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, bietet noch eine dritte Strategie. Er interpretiert in seinem Facebook-Kommentar zu den 11 Leitsätzen (und an anderen Orten) die gestiegenen Kirchenaustritte mit dem, was ich die Bodenbildungstheorie nennen möchte: Es gehen eben nur die, die aus Zwang und Konvention in der Kirche waren. „Es gilt, ehrliche Mitgliedszahlen zu bejahen“.

Die schönfärbende Annahme ist, es bilde sich allmählich ein essentieller Bodensatz in der als Läuterung begriffenen Abwärtsbewegung, da am Ende die wirklich Überzeugten, die kleine und reine Schar, die Elite, übrigbleibt. Eben die bewussten, aktiven und moralisch richtig agierenden und für das moralisch-politische identische optierenden Freiwilligen. Obwohl sicherlich die Beobachtung richtig ist, dass es immer weniger selbstverständlich ist, Kirchenmitglied zu sein, verblüfft diese Deutung angesichts realer Enttäuschungserfahrungen von Menschen doch.

Problematischer aber ist, dass diese Bodenbildungstheorie illusionäre Züge tragen dürfte. Der Boden ist wie jeder Boden schlicht ganz unten, bei 0 Prozent. Die von einst 64 Prozent bis aktuell etwa 9 Prozent Bevölkerungsanteil Protestanten reichende Abwärtsbewegung in den Niederlanden spricht eine deutliche Sprache. Die Vorstellung, die Kirche könne sich sozusagen entspannt gesundschrumpfen, entbehrt jeder Evidenz. Es wird keinen moralisch heiligen Rest geben! Solches Denken führt zu Managementfehlern. Der Schrumpfungsprozess findet auf allen Ebenen statt.

Die Entscheidung, dass die Grenze der Organisation Kirche nicht die Grenze des Heils ist, ist theologisch vollständig zu bejahen. Auch dann, wenn sich die Kirchen nicht an die Zahlen verlieren dürfen, beginnt und endet damit nicht die theologische, die organisationssoziologische und die psychologische Arbeit. Wenn es in der Tat nicht mehr selbstverständlich ist, in der Kirche zu sein, dann gilt es die still Beteiligten nicht zu denunzieren, sondern zu würdigen.

Dann gilt es eine Theologie der Berufung zu entfalten, die sowohl eine Vielfalt der Glaubensgestalten anerkennt wie auch von Gottes Wünschen einer Partnerschaft mit den Menschen spricht. Die still Beitragenden sind anzuerkennen als solche, die wichtige und sinnvolle Arbeit ermöglichen. Sie geben eine Gabe, die fehlt, wenn sie austreten. Es gilt eine offensive Kultur des Dankes und der Wertschätzung gegenüber allen Mitgliedern – etwas was an vielen Orten schon geschieht – zu etablieren. Jeder still bezahlte Cent an sogenannter Kirchensteuer durch getaufte Christen ist bis zum Beweis des Gegenteils ein Akt der theologisch und organisatorisch zu würdigenden Mitarbeit an der Kirche Jesu Christi. Wer hier auch nur mit dem Gedanken spielt, dies zu bezweifeln, taugt weder zur geistlichen noch zur organisatorischen Leitung der Kirche.

Vielmehr muss eine Theologie der dankbaren Gabe und des Opfers (ja!), eine Theologie der Ermöglichung stellvertretenden Handelns (ja!) entfaltet werden. Wenn die 11 Leitsätze die „Steuer“ als Vereinsbeitrag zur Förderung des Protestantismus deuten, sozusagen Mitgliedschaft als eine Frage des sozialmoralischen Lifestyles behandeln, so offenbart dies ein tiefes Missverständnis von Kirche und von den Bedürfnissen der Menschen. Ohne eine spirituell-theologische Deutung der Mitgliedschaft wird sich der Exodus nicht aufhalten lassen, ja wahrscheinlich beschleunigen. Was Kirchenmitgliedschaft theologisch, religionspsychologisch und organisationssoziologisch bedeutet, gilt es offen zu erforschen und zu diskutieren. Nicht zuletzt gilt es, vorhandenes Wissen umzusetzen.

3. Woher kommen eigentlich die Christenmenschen?

Eine Frage, die in den 11 Leitsätzen äußerst präzise vermieden wird, ist so banal wie zentral, so einfach wie kompliziert, so peinlich wie befreiend. Und sie steht für alle sichtbar im Raum: Woher kommen sie eigentlich, die Christenmenschen? Wie werden die das?

Es war ja schon die Einsicht, die Nikodemus im Johannesevangelium aus dem Nachtgespräch mit Jesus mitnimmt: Menschen werden nicht als Christen geboren. Sie werden Christen. Aber wie? Wachsen sie wie Pflaumen auf den Bäumen, die man nur schütteln muss? Wachsen sie wie Moos im Wald? Vertritt man nicht die abseitige Auffassung „Schrumpfen ist gut“, dann stehen diese Fragen unausweichlich im Raum.

Vier mögliche Antworten laufen offensichtlich auf das Riff der Realität. Ihr Scheitern sollte Anlass sein, eine Gemeinschaft ehrlicher und doch zugleich lösungssuchender Ratlosigkeit zu bilden. „Religiös sind eh alle und etwas Wasser aus dem religiösen Strom fließt auch auf unsere Mühlen“ (die liberale Antwort), „Das ist ausschließlich der Unverfügbarkeit des Wortes Gottes und des Geistes geschuldet und hat nichts mit uns zu tun“ (die radikal-kerygmatische Antwort), „Wir müssen effektiver, innovativer und vor allem offensiver missionieren“ (die evangelikale und charismatische Antwort) und „Irgendwie klappt es schon mit der Sozialisation bei all den vielen Sozialisationsorganisationen, die wir haben“ (die volkskirchliche Antwort) – all diese Antworten greifen gegenwärtig nicht mehr. Aber, wie gesagt, hier hält niemand den goldenen Schlüssel in der Hand.

Doch die Ratlosigkeit darf nicht zu Faulheit verführen. Sie muss eine Suchbewegung, ein so sensibles wie selbstkritisches Wahrnehmen der empirischen Realitäten und theologischen Zumutungen befördern. Es scheint schlicht so zu sein: Wenn immer weniger Menschen Christen werden, gibt es immer weniger Christen. Das kann nicht ernsthaft das Interesse von evangelischen Christen und deren Bischöfinnen und Bischöfen sein. Wenn die 11 Leitsätze bei diesem heiklen Partykillerthema Mission gleich auf die Teilhabe an der göttlichen Mission zugunsten von Gerechtigkeit abstellen und die Suche nach politischen Bündnispartnern empfehlen, dann ist dies einerseits richtig, aber andererseits auch richtig falsch.

Gerade wenn man die schwindende Milieuselbstverständlichkeit „als Bürger ist man auch Christ“ diagnostiziert, dann muss die Frage „Woher kommen eigentlich die Christenmenschen?“ zur Leitfrage werden. Sie wie die 11 Leitsätze beiseite zu schieben, dokumentiert heute nicht mehr eine mutig-aufrechte anti-evangelikale und befreiungstheologische Haltung, sondern ist ein lautes Zeichen einer Verweigerung und Verdrängung.

Wie wächst Vertrauen in einen Gott, der in Christus Mensch wurde und sich im Geist wirksam vergegenwärtigt? In welchen sozialen Kontexten geschieht dies indirekt und latent, in welchen kontinuierlich, in welchen disruptiv und in Kehren? Warum führt die gegenwärtige Arbeit in kirchlichen Kindergärten und im Religionsunterricht zu so wenig Resilienz gegenüber Bindungslosigkeit und Traditionsabbruch? Wie können diese Kontexte geschaffen, gepflegt und gefördert werden? Welche Räume und Orte der fraglosen und selbstverständlichen Praxis des Christseins sind zu kultivieren? Wie sehen die ganz menschlich gemachten förderlichen Umgebungen aus, in denen das Wunder des Glaubens sich ereignen kann, so dass jemand derart staunend seinen Zweifel verliert, dass er „Abba“ betet?

Welche expliziten und scharfen intellektuellen Auseinandersetzungen sind anzunehmen, zu suchen und auszufechten? Zu sagen, das ganze Leben der Christen sei eben Mission, ist nicht hinreichend. In der gegenwärtigen Lage wirkt es sich als hinderlich aus, dass diese Fragen in den vergangenen Jahrzehnten nicht zureichend bearbeitet wurden und auch nicht offen und breit genug diskutiert wurden. Es waren die Fragen von Außenseitern, von Verrückten und von Spezialisten. Jetzt müssen es Fragen der breiten Kirchengestaltung werden.
 

4. Hat das alles etwas mit Gott zu tun?

Die 11 Leitsätze werfen die Frage „Hat das alles etwas mit Gott zu tun?“ nicht auf. Dennoch steht sie als theologische und zugleich als religionspsychologische im Raum. Sie verschwindet nicht, wenn sie gar nicht gestellt, sondern einfach beschwiegen wird. Sie macht sich um so lauter bemerkbar. Und sie wird in den 11 Leitsätzen faktisch beantwortet: Nichts. Daher atmen die 11 Leitsätze nicht überall, aber über weite Strecken einen Geist der Verzweiflung, der sich in Zweckoptimismus und Planungskompetenz zu tarnen sucht.

Die Kirche zu leiten – und dies betrifft in abgestufter Weise jeden Christen – heißt aber, die Last zu akzeptieren, zum Vertrauen auf den lebendigen Gott herausgefordert zu sein. Schon das Neue Testament bietet eine Verflechtung zweier Erfahrungen: Die Würdigung durch den großen Auftrag der Sendung in die Welt und die lapidare Bilanz „sie konnten’s nicht“ (Markus 9,18).

Hat es Sinn, als Zukunftskommission nach Gott zu fragen? Hat es Sinn, in der gegenwärtigen Mischung aus gutem, richtigem und wichtigem Handeln der Kirche und Krisenphänomenen wie auch einem Krisenbewusstsein Erwartungen an Gott zu richten? Ist Gott eine theologisch vernünftige Adresse von Erwartungen? Oder ist schon die Frage nach Gott theologisch zu vormodern, töricht, peinlich, pietistisch oder einfach deplatziert? Offenbart sie einen naiven Theismus in einer Kirche, die gelernt hat, „atheistisch an Gott zu glauben“ (Dorothee Sölle)?

Nein! Die Frage zu stellen, heißt vielmehr, gutes Religionsmanagement zu betreiben. Sie mit ja zu beantworten heißt, Kirche zu leben. Auf die Hoffnung auf Gott aus Gründen der vorauseilenden Enttäuschungsvermeidung zu verzichten, bedeutet, Trostlosigkeit zu verbreiten. Das Problem ist ja: Selbst wohlwollende Beobachter der Kirche sind irritiert, wenn die Kirchenleitung das eigene „Produkt“ nicht verwendet. Mit Gott zu ringen, würde aber Räume produktiver Selbstkritik eröffnen und einen dankbaren Blick auf Gelingendes in der Gegenwart und auf Gottes Gegenwart als Geist des Trostes ermöglichen.

In der aktuellen Situation gilt es, das Leben der Kirche mit einem vierfach differenzierten Blick zu betrachten: Was gibt Anlass zu Dank gegenüber Gott und den Menschen? Was gibt Anlass zu Klage gegenüber Gott und den Menschen? Was gibt Anlass zur Bitte gegenüber Gott und den Menschen? Und – ja – was gibt Anlass zum Lob Gottes und zum Lob von Menschen? Die Zukunft so zur Sache Gottes zu machen, wirkt antidepressiv und aggressionsmindernd – ohne dass es dazu verführt, unbeteiligter Flaneur zu werden. Es befreit von Denkzwängen, wirkt gegen Verbitterung und sprengt Tunnelblicke. In der Sprache der Beraterzunft formuliert: Es schafft ein Kreativität freisetzendes Reframing.

Nun scheint es nicht wenige Christen zu geben, die auch in kirchenleitender Position glauben, so ehrlich sein zu müssen, auf Gottvertrauen verzichten zu können, ja zu müssen. Das gilt es ohne Vorbehalt zu akzeptieren. Aber in kirchenleitender Position sollten diese post- bzw. atheistischen Führungspersönlichkeiten dann aber zumindest religionspsychologisch kompetent sein. Sie müssen dann klar erkennen, welche elementare Funktion diese Gottesillusion für praktische und vitale Frömmigkeit, aber auch für ein öffentliches Selbstbild der Kirche hat. Sie müssen dann ehrlich, offen und  und mit Chuzpe Illusionsmanager sein. „Atheistisch“ glauben funktioniert nämlich nicht, nie und nirgends auf dieser Erde. Entweder leben die atheistisch frommen Menschen aus noch nicht versiegten biographischen spirituellen Quellen (die sie nicht zu regenerieren bereit sind), oder es gedeihen neue Götter unter neuem Namen, die dann um so ergebener geheiligt werden, oder aber der Glaube stirbt – religionspsychologisch betrachtet.

Vor diesem Hintergrund erscheint es mir dringend angeraten, dass das Krisenmanagementteam der Kirche wenigstens so tut, als ob es etwas mit Gott zu tun habe. Die Aufrechterhaltung dieser wirksamen Illusion bzw. operativen Fiktion ist sein Job. Wenn schon kein Gottvertrauen, dann bitte diese professionelle Coolness. Aber wenn schon die Kirchenleitungen diese Illusion nicht mehr aufrechterhalten, wie sollen dann all die Mitarbeiter und Laien darauf hoffen, befreiend vom Zweifel an ihrem Zweifel überwältigt zu werden?

In Abwandlung einer auf Hugo Grotius zurückgehenden und von Dietrich Bonhoeffer eindrücklich rezipierten Formel könnte man formulieren: Für die Welt mag gelten, zu leben „etsi Deus non daretur“, so, als gäbe es keinen Gott. Für die Kirche gilt jedoch zu leben, „etsi Deus non daretur“, so, als gäbe es Gott doch. Auch dies ist eine Formel von Dietrich Bonhoeffer: Inmitten des Tuns des Gerechten und des Gebets, wartet die Kirche so auf Gott. Sie wartet wirklich hoffend oder die Fiktion aufrechterhaltend. Von Gottes Geist überrascht werden können beide Gruppen von Christen, die vermeintlich Naiven und die notwendig Coolen.

Kurz: Die evangelischen Kirchen brauchen eine offene Debatte a) über Gottes Lebendigkeit in der Krise, b) die differenzierte Wahrnehmung der Gegenwart durch die Optiken der Klage, der Bitte, des Dankes und des Lobes gegenüber Gott und den Menschen und c) die Pflicht des Leitungspersonals zur Aufrechterhaltung der Illusion eines für die Kirche sorgenden Gottes. Ich bin sicher, die Debatte wird spannend!

5. Wozu braucht man Laien in der Profi- und Freizeitreligion?

Eine Frage, die in den meisten Reform- und Zukunftspapieren der Kirchen, und so auch in den 11 Leitsätzen schreiend laut beschwiegen wird, lautet: „Wozu braucht man „Laien“ in der Kirche?“

Um die Frage zu beantworten, ist die Unterscheidung von drei Typen von „Laien“ notwendig: Viertel-Laien, Halb-Laien und Voll-Laien. Viertel-Laien sind Menschen, die keine Geistlichen sind und auch keine Theologie studiert haben, aber in der Kirche in Lohn und Brot stehen. Sie sind in der Kirche in den sozialen, pflegerischen, medizinischen und psychologischen Weltenreparaturberufen und in bildungs- und politikorientierten Weltenrettungsberufen tätig. Halb-Laien sind Menschen, die außerhalb der Kirche diesen Tätigkeiten nachgehen. Voll-Laien, sozusagen echte Laien, sind Menschen, die im weitesten Sinne die Welten bauen und irgendwie am Laufen halten: Busfahrer, Mechatroniker, Unternehmer, Verkäufer, Friseure, Bauingenieure, Einzelhandelskaufmenschen, Raumpfleger, Schornsteinfeger, Wirtschaftsjuristen und Baukreditsachbearbeiter, Sportjournalisten und Hausmeister, Flaschner und Lageristen. Diese Liste ist in Wirklichkeit sehr lang. Diese Laien kommen in dem Zukunftspapier nirgends als Lösung, nur als implizites Problem vor: Sie treten aus der Kirche aus. Meine These ist, dass die Krise der Volkskirche in Deutschland in weiten Teilen aus einer theologischen Vernachlässigung, ja vielerorts faktisch gegenwärtigen Verachtung der Voll-Laien resultiert.

Was hat die Kirche, die sich entschlossen die radikale Praxis der Liebe, die Suche nach Gerechtigkeit und Gleichheit an allen Orten und die menschheitsweite Solidarität auf die Fahnen schreibt, all denjenigen zu sagen, deren Leben ein Kampf ist und sich weit weg von der Suche nach Gerechtigkeit, Friede und Bewahrung der Schöpfung ereignet? Was sagt die pathetische Rede von radikaler Liebe, von Weltveränderung und Weltverantwortung denen, die sich im Alltag mit oder ohne Gummistiefel in moralischen Morastlandschaften bewegen? Was sagt sie denen, die ganz unfreiwillig und ohne Entkommen in einer Welt leben, die moralisch nur unendlich viele Grautöne kennt?

Viele der echten Laien haben schlicht zu wenig Zeit, um als „Mitarbeiter“ – so die neue Großkategorie in den 11 Leitsätzen – bei der Kirche weltenrettend dabei zu sein. Die Voll-Laien haben in der NGO-Bewegungskirche keinen theologischen Ort – es sei denn, sie machen Christsein zur Freizeitbeschäftigung. Die NGO-Bewegungskirche ist attraktiv für Jugendliche, für Menschen, die freiwillig oder unfreiwillig außerhalb des Berufslebens stehen, für Rentnerinnen und Rentner und nicht zu vergessen, für die Profis und die Funktionäre. Der Kirchentag ist ein sprechendes Beispiel.

Wenn nun die Menschen, die mitten im Leben stehen müssen, nicht die Zeit, nicht die Kraft und nicht das Geld haben, um weltverantwortliche Revolutionäre zu sein, wenn sie froh sein müssen, in der Kirche nicht spirituell oder politisch beschimpft zu werden, wenn der Preis des Dabeiseins das schlechte Gewissen ist, dann nagt dies an der Kirchenloyalität und zersetzt die Verbindlichkeit. Es zerrüttet die Freude an der Mitgliedschaft noch vor dem Austritt. Kurz: Die Gründe für den Austritt sammeln sich. Das verrückt Ideologische dieser Konstellation ist dann, dass die Anhänger der NGO-Bewegungskirche dies als Beleg ihres Ansatzes lesen: „Ehrliche Mitgliedszahlen freudig bejahen!“

Natürlich bleiben die echten Laien immer noch Kunden hoch subventionierter kirchlicher Freizeitangebote auf den Feldern der Kunst, der Bildung, des Infotainments oder des Reisens. Natürlich bleiben sie erschrocken oder freudig staunendes Publikum der spektakulären Aktionen der NGO-Bewegungskirche. Nur: Warum sollten sie hierfür dauerhaft und ungefragt zahlende Kirchenmitglieder sein?

Dass die Voll-Laien im gegenwärtigen, das öffentliche Selbstbild prägenden Protestantismus keinen echten Ort mehr haben, ist die Folge einer ganzen Reihe von theologischen Entscheidungen. Es ist auch das Resultat der theologischen Preisgabe des zutiefst protestantischen Zusammenhangs von Glaube und Beruf. Es ist Folge der theologischen Illusion, dass mit dem Verabschieden der sogenannten Zwei-Reiche-Lehre auch die zugrundeliegenden Ausgangsprobleme verschwinden würden. Es ist der Preis für eine moralische Reinheit im auf Dauer gestellten Zeugnis der Kirche. Es ist die Folge von Selbststilisierungen der kirchlichen Repräsentanten, von Haltungen und Atmosphären. Es ist Folge einer theologischen Vernachlässigung von Praktiken der Nachfolge im schmutzigen Alltag der wirklichen Welt. Es ist die Folge einer gewaltigen innerkirchlichen Ausdifferenzierung und Professionalisierung der kirchlichen Aufgaben. Und nicht zu vergessen: Es ist auch die Folge der Dominanz von Viertel-Laien in vielen Synoden.

Zahlenmäßig sind gegenwärtig noch die meisten Kirchenmitglieder Voll-Laien. Die Beiträge der Voll-Laien bilden immer noch den Finanzsockel der Kirchen. Dies muss in der Zukunft nicht so sein. Da diese Möglichkeit aber als Menetekel an der Wand geschrieben steht, muss offen diskutiert werden, welchen theologischen Ort die Voll-Laien in der Kirche finden können. Ohne einen theologischen Ort und die damit verbundene Würdigung werden sie langfristig auch keinen sozialen Ort in der Kirche haben. Ob dies eine Lösung oder ein Problem ist, dies gilt es intensiv und offen zu diskutieren. In den 11 Leitsätzen wird diese Frage aber nicht gestellt. Es ist eine Sachfrage, die strukturelle Folgen aus sich heraussetzt. Um eines hoffnungsvollen Weges in die Zukunft willen, muss sie aber gestellt werden. Der Protestantismus war und ist weltweit immer dort eine explosive Kraft, wo er sich theologisch und soziologisch als Religion für Voll-Laien formieren konnte und kann.

6. Für was sind Pfarrerinnen und Pfarrer gut?

Die Frage, wozu man denn eigentlich Pfarrerinnen und Pfarrer braucht, begleitet den Protestantismus aus guten Gründen seit seinen Anfängen. Sie ist also nicht neu. Neu und überraschend ist allerdings, dass die Frage in den 11 Leitsätzen gar nicht mit Ernst laut gestellt wird. Sie scheint sich erledigt zu haben. Pfarrerinnen und Pfarrer sind zu teuer, wohl auch zu renitent. Sie stehen dem Traum von schnellen Entscheidungswegen im Weg. Sie nicht als Chance, sondern sie als Problem zu sehen, entspricht auch dem anti-elitären und populistischen Moment von Bewegungen. Pfarrerinnen und Pfarrer passen nicht in das Bild einer so dynamischen wie elastischen, so beweglichen wie spontanen, so vernetzten wie resonanzsensiblen Kirche. Da ist charismatische Führung gefragt, die nicht durch Bildung verbildet ist!

Kurz: Pfarrerinnen und Pfarrer, vor allem Gemeindepfarrer, sind, wie schon in vielen Reformpapieren zuvor, kein Faktor einer positiven und hoffnungsvollen Zukunftsgestaltung. Doch dieses Bild widerspricht deutlich der letzten, von der EKD selbst finanzierten Mitgliederbefragung.

Auch an dieser Stelle zeigt sich wieder der offene Flirt der EKD- Zukunftskommission mit der NGO-Bewegungskirche. Angesichts des Kostenfaktors, den die Pfarrerinnen und Pfarrer (inklusive Pensionslasten!) darstellen, ist die Debatte über deren Bedeutung nicht sinnlos. Aber die Zeichen der Zeit zeigen in eine andere Richtung als in den 11 Leitsätzen, auch dann, wenn über Profil und Kompetenzen des Pfarrberufs diskutiert werden muß. Pfarrer sind Instanzen einer entlastenden Verdichtung. Nicht nur im Blick auf eine Sprach- und Deutungskompetenz, sondern auch im Blick auf die symbolische Sichtbarkeit in einer unübersichtlichen Lebenswelt. In einer Welt der Möglichkeiten repräsentieren sie die reale Möglichkeit der religiösen Interaktion. Sie sind wichtige Adressaten der Erwartungen in einer hoch komplexen und unübersichtlichen Organisation. Sie halten zuverlässig die Erzählung von Gottes Weltabenteuer am Leben. Nicht zu vergessen: Sie sind eine lebendige Klagemauer! Und sie sind in einer Kultur, die Glaube nicht mehr selbstverständlich nimmt, ein wichtiger Intimitätsschutz: Weil es diese öffentlichen Repräsentanten gibt, die die Erzählung erzählen, können die Laien etwas zurückhaltender sein und gewissermaßen Andere dafür eintreten lassen, wonach sie sich sehnen. Pfarrerinnen und Pfarrer halten einen Raum offen, in dem Verbitterte zu Zweifelnden, Zweifelnde zu Klagenden und Klagende wieder zu Hoffenden werden können.

Es steht also auf neue Weise die alte Frage an, was theologisch und religionspsychologisch am ordinierten Amt liegt. Den meisten Laien liegt sehr viel daran. Laien schätzen diese Knoten in sehr fragilen Netzen der religiösen Kommunikation und des fraglichen Glaubens. Pfarrer wirken in Gemeindekontexten, so ist zu hoffen, als Brückenbauer identitären Verhärtungen entgegen. Sie entsprechen dem Wunsch nach einer gewissen Professionalität und Qualität – solange sie nicht der Illusion erliegen, der lokale Profifunktionär der NGO-Bewegungskirche zu sein.

Was sind legitime Erwartungen an Pfarrerinnen und Pfarrer? Wer kann sie unter Bedingungen von Endlichkeit erfüllen? Wo bleiben Menschen in der Kirche, eben weil es Pfarrerinnen und Pfarrer gibt? Ich denke es braucht Men­schen, die sich eine ganz spezielle Last aufbürden lassen: Die Last, stets von Gott mehr sagen zu müssen, als sie persönlich glauben können, also immer wieder Unglaubliches zu sagen. Braucht nicht gerade die spätmoderne Gesell­schaft ganz menschliche Repräsentanten des Christentums, an denen man se­hen kann, dass man auch am Zweifel zweifeln kann? Ist dies nicht das Amt der Pfarrerinnen und Pfarrer heute? All dies gilt es wertschätzend, abwägend und zukunftsorientiert zu debattieren, jenseits von bewegter Amtskirchenpo­lemik, jenseits allzu gemütlicher Vereinsmeierei, aber ganz sicher auch jenseits von hierarchisch geprägter Managementkraftmeierei – und ganz sicher nicht mit einer Organisationsberatungsbullshitbingoplastiksprache!

7. Welche Sache? Welches Produkt?

In einer Presseveröffentlichung zu den Mitgliederzahlen 2019 empfiehlt der Ratsvorsitzende aktuell, „einen selbstkritischen Blick auf gewachsene Formate und Strukturen“ zu werfen. Man reibt sich die Augen. Und die Sache? Haben die evangelischen Kirchen in der Tat nur Struktur- und Formatfindungsprob­leme?

Um das sehr begrenzte Modell der Wirtschaft nur für einen Moment zu bemühen: In den Leitsätzen erscheint die Kirche wie eine Firma, die angesichts von Absatzproblemen und Problemen der Kundenbindung Bilanzprobleme hat. Als Antwort darauf reagiert sie mit Optimierungen der Verpackungen, einer Neustrukturierung der Vertriebswege, einer besseren Schulung der Außendienstmitarbeiter und schließlich mit einer Erhöhung des Werbeetats. Wenn – was selten vorkommt – die entscheidende Frage nach dem Produkt aufbricht, dann ist vor aller eigenen Antwort die Frage zu hören: „Wie können wir uns der Konkurrenz anpassen?“ Diese Haltung ruiniert die Firma. Sie dokumentiert ein Managementproblem.

Nun muss auch mit Blick auf die Botschaft der Kirche nicht stets das Rad neu erfunden werden. Weder Innovationswut noch Restaurationshektik sind gefragt. Es muss aber für die Planung und Vision einer Zukunft der Kirche die Frage erlaubt sein: Inwiefern haben die theologischen Umstellungen der vergangenen 70 Jahre die Krise der Kirche befeuert? Was waren Sackgassen, was Illusionen? Eine behutsame und selbstkritische Nachdenklichkeit bezüglich der Botschaft der Kirche ist hilfreich, zumindest wenn sich die Kirche nicht nur als Opfer externer Faktoren sehen will. Zur Eröffnung von Handlungsspielräumen jedenfalls ist sie notwendig. Sie ist auch notwendig innerhalb der Theologie und für eine produktive Weiterentwicklung eines wechselseitigen Verhältnisses zwischen wissenschaftlicher Theologie und Kirche.

Der Soziologe Max Weber hat nicht ohne Grund das Christentum als Erlösungsreligion typisiert und charakterisiert. Wovon erlöst das Christentum? Was erhoffen Christen? Von was sollen sie befreit werden? Von was wurden sie überwältigt? Welche Kräfte und Mächte sollen durch Christen hindurch leben? Welchen einflussreichen Mächten möchten Christen sich in Akten der Heiligung ausliefern? Ist die Geschichte eine Tragödie? Gibt es Hoffnung auf Gerechtigkeit, auch am Ende eines Lebens, wenn die Zeit ausläuft? Was heißt Glauben – vor allem Handeln? Verhält sich Gott nochmals zu einem verworrenen, harten und zu oft zerbrochenem Leben?

All dies sind Fragen, die nicht nur schwer zu beantworten, sondern schon schwierig zu stellen sind in einer Zeit, in der einige wenige dogmatische Häresien durch eine Vielzahl von moralischen Häresien ersetzt werden. Nicht wenige Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche wären aber beeindruckt, wenn sie merkten, dass es der Kirche auch in ihren Zukunftsplanungen um eine ganz eigene Sache geht und das Evangelium mehr als eine Chiffre und eine Variable ist.

In den 11 Leitsätzen erscheint das Evangelium als eine gewisse und darum vermittelbare, aber zugleich hoch unbestimmte Sache, ja als eine klare Leerformel. Aber stellt sich die Sache nicht umgekehrt dar? Ist das Evangelium nicht inhaltlich reich bestimmt, aber eben oft nur in äußerst zerbrechlichen Gestalten der menschlichen Gewißheit und der Gegenwart des Geistes erfassbar? Kann die Kirche ihren Glauben anders leben als in der Polyphonie von Klage und Lob, Bitte und Dank? Ist es nicht dieser auf Christus bezogene, aber doch zerbrechliche Glaube, der einen guten Grund für die Zukunft legen würde?

Eine wahrheitssuchende Ernsthaftigkeit und Ehrlichkeit ist etwas, was Achtung jenseits von Beifall verschafft. Ein solcher Habitus vermag aus Beobachtern des Glaubens tatsächlich Glaubensinteressierte zu machen.

Die sieben Baustellen bedürfen der Weiterarbeit. Nörgeln hilft so wenig wie ein fein-vornehmes akademisches Schweigen. Hier muss Bewährtes markiert werden, hier müssen Zukunftsentwürfe entwickelt, diskutiert und getestet werden. Hier gilt es, den theologischen Lock-up der 11 Leitsätze zu überwinden.

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Das Vorwort der 11 Leitsätze hat den Mut, mit Blick auf die Gegenwart von einer „tieferliegenden Glaubenskrise“ zu sprechen. Es hat auch die Courage, von einem Vertrauen auf Gottes Versprechen zu reden. Es geht, so formuliert der Vorspann, auch darum, unter den gegenwärtigen und kommenden Bedingungen Glauben zu bezeugen.

Mit diesem Deutungsrahmen lassen sich ganz sicher nicht alle Herausforderungen lösen, aber einige mit Elan angehen. Innerhalb dieses Rahmens kann für alle Beteiligten die Debatte über die sieben Baustellen geführt werden. Innerhalb dieses Rahmens lassen sich schmerzhafte Priorisierungsentscheidungen treffen.

Wenn es wirklich um die Kirche Jesu Christi geht, gibt es dann eine Hoffnung auf den Sturmwind des Geistes, der nicht nur den aggressiven Planungshochmut zu Fall bringt, sondern auch wahrhaft belebend über die Felder der Ideenlosigkeit und Depression fegt? Ich hoffe ja. Es gibt viel gemeinsam anzupacken. Zu vielem gibt es schon reiche Vorarbeiten, die es wahrzunehmen, sichtbar zu machen und zu diskutieren gilt. Die offenen Baustellen warten.

Einige der hier vorgestellten Überlegungen werden weiter entfaltet in im Herbst bei der Evangelischen Verlagsanstalt in Leipzig erscheinenden Buch des Autors mit dem Titel „Im Weltabenteuer Gottes leben. Impulse zur Verantwortung für die Kirche“.

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