Lob der Nüchternheit

Die Epidemie zeigt wieder: Gott erweckt die Toten, auch wenn der Sieg über das Böse noch aussteht
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Die Bibel verbindet Hoffnung mit Nüchternheit. Hieß es zunächst von der Schöpfung „Und Gott sah, dass es gut war“ (1. Mose 1, 24), heißt es nach dem Einbruch des Bösen und dem Fall des Menschen: „Verflucht sei der Acker um deinetwillen“ (1. Mose 3,17). Bei der anschließenden „Reinigung“ der Schöpfung durch die Sintflut wird das Friedenszeichen des Regenbogens eine Geschichte überspannen, von der sich sagen lässt: „Das Dichten und Trachten des Menschen ist böse von Jugend auf.“ (1. Mose 8,21)

In gleichem Sinn hat sich Jeremia an der verheißenen Erwählung Israels wund gerieben, als er schrieb: „Propheten und Priester gehen alle mit Lüge um, indem sie sagen: „‚Friede, Friede‘! und ist doch nicht Friede“ (Jeremia 6,14).

Wenn in der Apostelgeschichte Paulus und Barnabas die „Seelen der Jünger stärken“, fügen sie hinzu: „Wir müssen durch viel Bedrängnisse in das Reich Gottes eingehen.“ (Apg 14, 22) Diese Nüchternheit ist wohltuend, weil sie ein Wunschdenken hinterfragt, das mit Ideen und Bildern die bestehende Wirklichkeit übermalt.

Besonders Paulus empfiehlt nüchterne Wachsamkeit als Gegenmittel zu den Illusionen von Scheinfrieden und falscher Sicherheit „Wir wollen nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe mit dem Helm der Hoffnung auf das Heil“ (1. Thessalonicher 5,6).

Nüchterner Glauben schützt sich mit einem Panzer. Er besteht aus Glauben, Hoffnung und Liebe im Geist Jesu Christi. Seine Rüstung dient dem Gemeindeaufbau, ohne sich von Schuld und Schwäche enttäuschen zu lassen. In seinem 1. Brief an die Korinther reagiert der Apostel allerdings aggressiv: „Werdet doch einmal recht nüchtern und sündigt nicht! Denn einige wissen nichts von Gott“ (1. Korinther 15,34). Für ihn zählt zu den „elendesten“ der Menschen (15,19), wer nicht darüber erschrickt, dass Geschichte und Natur bei ihrem „Fort-Schritt“ Berge von geopfertem und verlorenem Leben aufhäufen. Wer den Glauben an das Evangelium durch Vergessen und Wegsehen verkürzt, banalisiert das Heil. Sein Osterjubel ist unsolidarisch. Gott ist jedoch ein Gott, der die Toten erweckt, auch wenn dieser Sieg über das Böse noch aussteht. Wie jetzt die Epidemie von Covid-19 wieder weltweit zeigt. Umso wichtiger ist es, mit Hoffnung an der Seite derer zu bleiben, die in der Gegenwart Niederlagen ausgeliefert sind. In gleichem Sinn tröstet der 1. Petrusbrief Gemeinden, die als Minderheit unter Verfolgung leiden: „Darum umgürtet eure Lenden und stärkt euren Verstand, seid nüchtern und setzt eure Hoffnung ganz auf die Gnade.“ Nüchtern glauben erhebt die Anstößigkeit des christlichen Lebens zu einem besonderen „Moment christlicher Identität“, wie es der Neutestamentler Reinhard Feldmeier genannt hat. Ihr Kennzeichen ist eine apokalyptische Grundstimmung: „Es ist aber nahe gekommen das Ende aller Dinge“ (4,7). Daraus ergibt sich als erster Rat: „Seid nun besonnen und nüchtern zum Gebet.“ (v8) Scheitern und Schuld sind nicht „das Letzte“. Nüchterner Glaube kann trotz der Übermacht des Bösen in der Gegenwart mit Zuversicht handeln. Er wählt die Fürbitte und nicht die Entrüs-tung. Dies gilt besonders in den akuten Verfolgungssituationen, denen sich das Memorandum des 1. Petrusbriefes widmet: „Seid nüchtern und wacht; denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge“ (5,8). Die Verfolger des Glaubens rasen wie der Teufel, weil ihre selbstgerechte Kultur sich von der nüchternen Sicht des Lebens einer christlichen Gemeinde provoziert fühlt. Sie reagieren im doppelten Sinn „aufgebracht“, so der katholische Theologe Heinrich Schlier (1900 – 1978). Was dann die Gemeinde besonders auszeichnet, ist „das helle Bewusstsein“ (Heinrich Schlier), mit dem sie falschen Göttern entgegentritt, ohne darüber zu erschrecken, dass ihnen (noch) gehuldigt wird. Ja, sie wird mit Feindesliebe reagieren und beharrlich einladen, an der Menschenwürde aller fest zu halten („Ehrt jedermann“4,17). Zeugenschaft für das Evangelium, sieht sich in einer fremd gewordenen Umgebung trotzdem (oder deswegen!) Misserfolgen und Anfeindungen ausgesetzt. Es ist realistisch, damit zu rechnen. Darum mahnt 2. Timotheus 4,5: „Du aber sei nüchtern in allen Dingen, leide willig, tu das Werk eines Predigers des Evangeliums, erfülle redlich deinen Dienst.“ Oder mit den Worten Dietrich Bonhoeffers (in einer Bibelarbeit zur Stelle) an die „illegalen“ Kandidaten von Finkenwalde im Jahr 1936: Wenn Timotheus seinen Dienst ausrichtet, wird es sein, dass einige Menschen seine Lehre „nicht ertragen“. Timotheus soll sich hierdurch nicht beirren lassen. Er möge „nüchtern“ bleiben, „wenn er sein Vertrauen allein auf seinen Auftrag und Sein Wort setzt.“

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Heiner Süselbeck

Heiner Süselbeck ist Pfarrer i. R. und  lebt auf Mallorca. Er hat zuletzt von 2002 bis 2010 als Rektor des Pastoralkollegs der Evangelischen Kirche im Rheinland gearbeitet.


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