Sommer der Debatte

Die EKD grübelt in 11 Leitsätzen über ihre Zukunft
EKD Kirchenamt, Hannover, Niedersachsen
Foto: epd
Kirchenamt der EKD in Hannover-Herrenhausen.

Die Meldung der höchsten Kirchenaustrittszahlen überhaupt und die Veröffentlichung von „11 Leitsätzen“ der EKD zwecks Diskussion über die künftige Strategie fallen zusammen, und „dank“ Corona ist auch klar: Die Kirchenfinanzen rutschen in den Keller. Eine Momentaufnahme von zeitzeichen-Chefredakteur Reinhard Mawick.

Kein Aktivismus. Nirgends. Zumindest das ist eine wohltuende Bilanz, die man aus den ersten Reaktionen auf die jüngst veröffentlichten hohen Austrittszahlen der beiden großen Kirchen ziehen kann. Das Flügelschlagen früherer Jahre („Kirche muss … – Kirche soll … – Kirche wird …“) ist diesmal kaum zu beobachten. Selbst unverbesserlichen Institutions-Enthusiasten scheint klar geworden zu sein, dass die Probleme tiefer liegen.

Eigentlich ist ja auch längst bekannt, dass in unseren mitteleuropäischen Breiten die spezifische Kombination aus Demografie, Säkularisierung und allgemeiner Unlust an fester Mitgliedschaft ein toxisches Dreigestirn gegen hohe, gar steigende Mitgliedschaftszahlen ist. „Wachsen gegen den Trend“, die Parole des EKD-Impulspapiers „Kirche der Freiheit“ von 2006, wurde auch nur im Rausch des ersten Aufbruchs als quantitative Größe verstanden. Die EKD hat sie längst wieder kassiert.

Trotzdem ist es natürlich betrüblich, dass 2019 50 000 Menschen mehr die evangelische Kirche verlassen haben als im Jahr zuvor. Treten vielleicht doch „Konservative“ wieder verstärkt aus? Auf die geplante Untersuchung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD darf man gespannt sein, aber so viel ist schon jetzt klar: Ein Feld, auf dem es sich lohnt, den Tun-Ergehen-Zusammenhang der Zahlen zu betrachten, ist die kirchliche Arbeit mit Kindern und Eltern. Merke: Wer die Kirche früh als positive Größe erfährt, tritt selbst bei zunehmender Entfremdung mit der Institution im Laufe des Lebens weniger aus.

Plötzlich ein Finanzloch

Nun kommt durch die Corona-Krise sehr plötzlich ein Finanzloch auf die evangelische Kirche zu: Bis zu 25 Prozent, fürchten die Finanzexperten, wird die Kirchensteuer in diesem Jahr geringer ausfallen als 2019, wo es noch  – seltsame Parallelität zu den Rekordaustritten! – Rekordeinnahmen an Kirchensteuer gab. Wie es dann ab 2021 aussieht, ist genauso unsicher, wie die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung. Dass in diesem Jahr der Tiefpunkt erreicht ist und es 2021 nicht noch schlimmer wird, kann zurzeit nur gehofft werden …Wie also mit der Situation umgehen, praktisch und emotional? Einer Situation, die schon durch die Freiburger Studie zur Entwicklung der Kirchenmitgliedschaft im Blick auf 2040 im vergangenen Jahr in der öffentlichen Wahrnehmung nochmal an Brisanz gewonnen hat.

Der rheinische Pfarrer Holger Pyka hat in seinem Blog in diesen Tagen den Begriff „palliative Ekklesiologie“ geprägt. Damit meint er „eine Lehre von der Kirche, die nicht nur mit dem Abbau einzelner Gemeinden, sondern auch mit dem Ende der Kirche in der uns bekannten Form rechnet“. Das ist einprägsam, wenn auch nur bedingt originell, denn schon der Apostel Paulus wusste, dass „das Wesen dieser Welt vergeht“ (1. Korinther 7, 31).

Diskussion sehr erwünscht

Fast zeitgleich mit den Austrittszahlen erschien – zunächst nur digital – ein 15-seitiges Papier der EKD mit dem Titel „Kirche auf gutem Grund – Elf Leitsätze für eine aufgeschlossene Kirche“. Im Vorwort ist die grundsätzlich dialektische Lage der Kirche trefflich benannt: „So wenig Kirche in der Gesellschaft aufgeht, so wenig kann sie sich von ihr abschotten. Deswegen scheidet ein Kirchenverständnis aus, das Kirche lediglich als (weiteres) Angebot neben vielen in einer pluralistischen Gesellschaft beschreibt und alle konstitutiven Differenzen zur Gesellschaft einebnet. Ebenso wenig kann nach evangelischer Auffassung ein Kirchenverständnis maßgeblich sein, dass Kirche als einen Sonderraum des Heiligen definiert und die Gesellschaft sich selbst überlässt.“ Die EKD hat jetzt dazu aufgerufen, über diese Schrift in der Kirche zu diskutieren – wie 2006 bei „Kirche der Freiheit“. Damals war ein Ad-hoc-Kreis auf Wunsch des damaligen Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber losgeprescht und das erregte im Sommer 2006 viel Widerspruch im Raum der evangelischen Kirche und sorgte gleich dafür, dass Feuer in den Diskussionen loderte. Der Prozess wurde mühsam durch das Wittenberger Zukunftsforum im Januar 2007 und die Dresdner Synode im November 2007 „gremial“ wieder eingefangen. Die elf Leitsätze von 2020 hingegen wurden gleich von den Gremienspitzen mit erarbeitet: Sowohl der Ratsvorsitzende, Heinrich Bedford-Strohm, als auch die stellvertretende Ratsvorsitzende, Annette Kurschus, sowie die Präses der Synode der EKD, Irmgard Schwaetzer, sind im Kreis der Autorinnen und Autoren vertreten, und als eine Art lebendiger Link zu „Kirche der Freiheit“ 2006 natürlich auch EKD-Vizepräsident und „Cheftheologe“ Thies Gundlach.  

Gundlach: “sehr liberal“

Gundlach überraschte jetzt im Idea-Interview mit der Auffassung, dass Kirchenmitgliedschaft in Bezug auf den Vollzug von Amtshandlungen anscheinend nicht mehr so wichtig ist. Die Frage: „Was habe ich davon, Mitglied der evangelischen Kirche zu sein?“ beantwortete er so:

„Vor allem die Vergewisserung, dass Gott mich hält, tröstet und stärkt. Diese Glaubensdimension ist das Fundament. Sie erkennt in christlichen Traditionen eine Lebenstiefe, die frei machen kann von Äußerlichkeiten und Vordergründigem. Dazu kommt die Möglichkeit, an Kirchenwahlen teilzunehmen oder sich wählen zu lassen. Amtshandlungen stehen dagegen in der Regel allen offen, wenn sie erwünscht werden – da sind wir sehr liberal geworden, was ich auch richtig finde. Früher galt: Nur wer Kirchenmitglied ist, kann auch kirchlich beerdigt werden. Das ist heute nicht mehr so. Wir wollen den Menschen mit unseren Angeboten stärker entgegenkommen, weil diese Arbeit immer auch eine missionarische Dimension hat."

Allein an dieser Antwort könnten sich wohl doch einige Diskussionen entzünden, denn ob alle Landeskirchen und Pfarrerinnen und Pfarrer so „sehr liberal“ geworden sind, wäre eine neue Entwicklung …

Über das neue EKD-Papier wird schon rege im Social-Media-Raum diskutiert, und natürlich auch schon ganz bald hier auf www.zeitzeichen.net. So schließt sich der Kreis zum Impulspapier 2006. In „Kirche der Freiheit“ wurde damals das Bild einer kraftvollen, expandierenden evangelischen Kirche gezeichnet. Jetzt klingt alles viel defensiver. Vielleicht ist das angemessen. Dennoch gilt auch heute: Angst ist eine schlechte Ratgeberin.

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