Pneuma oder Rheuma?

Erwägungen zwischen Heiligem Geist und Zeitgeist
Johann Michael Voltz (1784–1858): „Der Anti-Zeitgeist“, 1819.
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Johann Michael Voltz (1784–1858): „Der Anti-Zeitgeist“, 1819.

Eigentlich könne er als Soziologe nichts über den Heiligen Geist sagen, meint Bestsellerautor Armin Nassehi, der Allgemeine Soziologie und Gesellschaftstheorie in München lehrt. Aber dann ergeben sich doch erstaunliche Parallelen zu einem anderen Phänomen – dem Zeitgeist. Denn der sei, so Nassehi, spiratio (Hauchung) unserer Zeit.

Es liegt nahe, an Pfingsten über den Geist nachzudenken. Dazu gehört nicht viel Fantasie. Aber ist es nicht Ausdruck des Zeitgeistes, Pfingsten eher als Ferienanlass zu nehmen denn als Feier des Kommens des Heiligen Geistes?

Nein, ich will diese Frage nicht beantworten, und zwar schon deshalb nicht, weil ihre Beantwortung entweder sehr einfach oder aber sehr schwierig wäre. Nicht dass ich vor einfachen oder schwierigen Antworten zurückschrecken würde – viel interessanter ist die Frage, was denn da für eine Frage gestellt wird. Der Heilige Geist lebe in den Christen, heißt es im ersten Korintherbrief. Er ist gewissermaßen das, was die Christen als das zusammenhält, was sie gemeinsam haben, nämlich Christen zu sein.

Ich bin kein Theologe und will nicht theologisch dilettieren, aber der argumentative Sinn des Geistbegriffs ist es ganz offensichtlich, das, was das Gemeinsame zum Gemeinsamen macht, auf den Begriff zu bringen. Dass hier von einer „Hauchung“ die Rede ist, von einer spiratio der Welt, verweist darauf, dass der Geist gewissermaßen der unspezifischere Aspekt der Trinität ist – Gott als die Quelle, der Sohn als datierbare Person und der Geist als die spiratio von allem. Die Taube als Geistsymbol verweist auf diesen eher flüchtigen, nicht als empirische Person darstellbaren Geist. Der Geist ist eben das, was offensichtlich das Unterschiedliche zusammenhält – denn wenn er in allen Christen ist, dann ist er offensichtlich eine Kraft, die das Unterschiedliche zu einer Einheit formt, ohne dass die Unterschiede verlorengehen müssen. Sie bringen sogar die unterschiedlichen Sprachen zusammen, ohne dass die Sprachen verschwinden. Das kann nur der Geist.

Schluss damit – ich sollte über den Zeitgeist sprechen, also mit dem Geist, der sich historisch entfaltet. Ist es mehr als eine Äquivokation, auf den Heiligen Geist zu verweisen? Dazu sollte man jenen Philosophen konsultieren, der die zuvor religiöse Heilsgeschichte säkularisiert hat, nämlich Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Der Geist, das ist für Hegel jenes Band, das das Besondere und das Allgemeine miteinander verbindet, auch wenn Besonderes und Allgemeines in Konflikt miteinander stehen können. „Der Geist aber ist die sittliche Wirklichkeit“, heißt es in der „Phänomenologie des Geistes“ von 1807 – und unter Sittlichkeit ist nichts anderes zu verstehen als die Regelungen, die Praktiken und die Möglichkeiten, zwischen der Gesellschaft und dem Individuum, dem objektiven und dem subjektiven Geist, zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen zu vermitteln. Es ist dieses Verhältnis, das beschreibt, wie aus den vereinzelten Einzelnen, den atomisierten Einzelnen, ein Einheitliches wird.

Der Zeitgeist, der Geist der Zeit, wäre dann also das geschichtliche Stadium des Geistes, also die Frage, wie sich das Ganze in Auseinandersetzung mit dem Besonderen in einer bestimmten historischen Situation zeigt. Es wäre gewissermaßen die spiratio unserer Zeit, das, was die Zeitläufte ausmacht, wenn man so will, das, was die Welt im Innersten zusammenhält. Solches Denken ist verführerisch, weil es von einer Voraussetzung ausgeht, die womöglich einer genaueren empirischen Prüfung nicht standhält. Es macht nämlich einen Unterschied, ob von der empirischen Ausprägung einer gesellschaftlichen Situation mit ihrer Vermittlung von Besonderem und Allgemeinem die Rede ist oder von der religiösen Idee der spiratio, die offensichtlich weniger festlegt als die Vermittlung von subjektivem und objektivem Geist bei Hegel. Der Heilige Geist wohnt in den Christen, heißt es im ersten Korintherbrief, bei Hegel dagegen wohnt der subjektive Geist im objektiven und arbeitet sich an ihm ab.

Dieses totalisierende Denken ist es, das in der Rede vom Zeitgeist stets mitschwingt, der Versuch, oder besser: der Anspruch, das komplexe Ganze in einem Satz, in einem Prinzip, in einer Allgemeinheit aufheben zu wollen. Bei Hegel ist es die allgemeinste Sphäre der Welt, in der sich dies materialisiert, nämlich im Staat, der allgemeiner sei als die Familie oder die bürgerliche Gesellschaft. Er nennt den Staat die „Wirklichkeit der sittlichen Idee“, gar eine „substantielle Einheit“, sogar einen „wirklichen Gott“.

Autoritative Rede

Wer so über den Geist und den Zeitgeist redet, unterliegt womöglich der Versuchung, es sich zu einfach zu machen, denn die Rede vom Zeitgeist ist vor allem eines: Rede, sogar hegemoniale Rede. Goethe lässt den Protagonisten in „Faust I“ genau ein Jahr nach dem Erscheinen von Hegels „Phänomenologie des Geistes“ sagen:

Was ihr den Geist der Zeiten heißt, / Das ist im Grund der Herren eigner Geist, In dem die Zeiten sich bespiegeln.

Den Zeitgeist gibt es nur als eine Art autoritativer Rede – vielleicht kann man sagen: Souverän ist, wer über den Zeitgeist bestimmt. Und jetzt sind wir endlich im Zentrum der Fragestellung: Wer vom Zeitgeist redet, muss versuchen, die Komplexität der Welt, auch ihre Widersprüche, auch ihre Disparatheiten in einem Begriff oder wenigstens in einer Erzählung ausdrücken zu können. Solche Erzählungen neigen oft dazu, eher geistlos zu sein, weil sie das Ganze in nur einem Aspekt ausdrücken müssen. Gerade die moderne Gesellschaft ist davon geprägt, dass sie sich einer einheitlichen Beschreibung geradezu radikal entzieht. Denn was immer man als den Zeitgeist beschreiben wollte, es wird sich fast immer auch das Gegenteil behaupten lassen, und wenn es nicht das Gegenteil ist, dann wird man zumindest feststellen müssen, dass jegliche Beschreibung des Ganzen eine selektive Selbstbeschreibung ist – denn Selbstbeschreibungen sind es allemal, weil auch die Beschreibung des Zeitgeistes innerhalb dieses Allgemeinen stattfindet.

Aus dem Geist, wenn er denn das Allgemeine sein soll, gibt es kein Entrinnen. Nur so konnte es übrigens passieren, dass Hegel die Philosophie so charakterisierte, die Zeit auf den Begriff zu bringen. Er musste im Sinne des Selbsteinschlusses sein eigenes Denken als höchsten Ausdruck jener Zeit und ihres Geistes behaupten, der eben von der Idee des Allgemeinen als eines Denkens der Einheit aller Differenzen geprägt war.

Vielleicht hilft es weiter, wenn man sich auf die empirische Struktur von Selbstbeschreibungen bezieht. An Biografien kann man schön sehen, wie selektiv Selbstbeschreibungen sind. Biografische Selbstbeschreibungen geben nicht die Wirklichkeit, die Substanz, die Wahrheit des gelebten Lebens wieder, nicht einmal eine Auswahl. Ihre Selektivität besteht vielmehr darin, dass sie je nach Anlass unterschiedliche Geschichten erzählen, die, selbst wenn sie sich teilweise widersprechen, alle stimmen können. Denn darum geht es: dass sie stimmig sind, und zwar im Hinblick auf die Geschichte selbst, aber auch im Hinblick auf Anlass und Adressat. Ich erzähle meine Geschichte vor dem Personalchef eines Unternehmens, bei dem ich mich beworben habe, anders, als wenn ich mich gerade verliebt habe. Und wenn es mir schlecht geht, wird meine biografische Beschreibung anders ausfallen, als wenn es mir gut geht. Das Leben ist nicht ohne geschriebene Geschichte zu bekommen. Erinnerung ist eine je gegenwärtige Operation, die bisweilen mehr von der Gegenwart abhängt als von dem vergangenen „Material“.

Man könnte sagen: Die unterschiedlichen Geschichten sind von je unterschiedlichem Geist, wenn man darunter den Grundtenor der Rede verstehen will. Wer sich selbst beschreibt, kann das in ganz unterschiedlichem Geist tun, insofern ist der Geist von etwas nicht unabhängig von der Beschreibung zu haben. Vielleicht ist sogar eine allzu konsistente, eine allzu widerspruchslose, eine sich kaum verändernde Selbstbeschreibung eher Ausdruck einer Gewöhnung an die eigenen Sätze als Ausdruck eines besonders guten Abbilds der Wirklichkeit.

Mir wurde das zum ersten Mal in der Forschungsarbeit als junger Wissenschaftler gewahr. Ich arbeitete in den 1990er-Jahren an einem Forschungsprojekt, das sich mit Siebenbürger Sachsen in Siebenbürgen/Rumänien beschäftigte, die wir nach dem Ende der kommunistischen Diktatur vor ihrer Ausreise nach Deutschland in Rumänien befragten. Ich werde nie vergessen, wie bei einem Interview mit einem alten Mann nach etwa zwei Stunden auffiel, dass das Bandgerät nicht funktionierte. Wir mussten also das Gespräch erneut beginnen, was für den Interviewpartner überhaupt kein Problem darstellte.

Er setzte erneut an, und tatsächlich erzählte er genauso wieder, lachte und weinte an denselben Stellen, die Pointen waren identisch, sogar die Widersprüche in der Erzählung unterschieden sich nicht. Im ersten Moment könnte man denken, dass das selbstverständlich sein müsse, weil er ja dieselben Ereignisse noch einmal wiedererzählt hatte. Aber ein zweiter Blick zeigte: Es war eher die Konstanz der Erzählung, die den erzählten Ereignissen einen bestimmten Sinn verlieh, sein Verständnis leitete und die Dinge interpretierte. Es gibt keine Ereignisse ohne ihre Beschreibung, ohne ihre Repräsentation – und ohne ein Gegenüber, das diese Repräsentation hören will. Der Geist liegt in der Beschreibung – wenn wir unter dem Geist tatsächlich die Vermittlung von Besonderem und Allgemeinem verstehen. Die entscheidende empirische Frage ist also, welche Form von Beschreibung sich durchsetzt.

Für die Frage des Zeitgeistes heißt das, welche Beschreibungskonjunkturen sich durchsetzen und welche nicht. Es ist kein Zufall, dass die meisten Theorien der Moderne sich auf Kommunikation oder Repräsentation kaprizieren. Kommunikation ist der Grundbegriff – und unter Kommunikation ist weniger die Übertragung der Information von A nach B zu verstehen, sondern die Frage, wie auf Kommunikationsofferten reagiert wird und welche Kommunikationsversuche von wem wie verstanden werden. Kommunikation ist etwas nur, wenn auch etwas anderes gesagt werden könnte. Wenn ich diagnostiziere, etwas sei gut, dann ist das nur möglich, wenn ich es auch schlecht nennen könnte. Kommunikation ist das Medium, das einerseits Beliebiges ausdrücken kann, in dem aber nicht beliebig ist, was und wie kommuniziert wird. Man kann das an eigenen Kommunikationsversuchen testen: Wie gelingt es mir, bei meinem Gegenüber Ja-Stellungnahmen, Zustimmung, Anschlussfähigkeit zu erlangen? Wie werde ich verstanden? Inwiefern ist das, was ich sage, mit den Erwartungen des anderen kompatibel? Welcher Inhalt, welche Form, welche Idee wird sich durchsetzen?

All das sind empirische Fragen – und das gilt auch für den Zeitgeist. Welche Beschreibung der Gesellschaft setzt sich durch? Wie bringen wir unsere Zeit oder auch nur ein Ereignis oder das Proprium einer bestimmten Gruppe auf den Begriff? In welchem Geist beschreiben wir sie? Positiv, negativ, zustimmend, ablehnend, ängstlich, kritisch, affirmativ? Ist nicht das Reden über den Zeitgeist genau die spiratio, die die Gesellschaft erst mit den Chiffren versieht, die wir ihr selbst zuschreiben, obwohl wir sie selbst hergeschrieben haben?

Vielleicht liegt der Geist im Beobachter, nicht in der Welt. Vielleicht ist der Beobachter der Geist. Vielleicht wird der Geist erst durch geistvolle Beschreibungen jener Welt, die uns ja ohne ihre Beschreibung gar nicht zugänglich ist, eingehaucht. Wir können das dort erleben, wo ungewohnte Beschreibungen der Welt, kleine Abweichungen vom Gewohnten, kleine Enttäuschungen von Erwartungen, kleine Verschiebungen von Kategorien ganz neue Horizonte eröffnen.

Schöpferischer Akt

Sicher wäre es dramaturgisch gut, jetzt mit konkreten Beispielen zu kommen – aber das will ich nicht tun, denn Beispiele liegen auf der Hand. Wir haben es in dieser volatilen, schnellen, auch unübersichtlichen Welt permanent mit der Frage unterschiedlicher Beschreibungen des Gleichen zu tun – und es ist eine Frage der Macht, der Plausibilität und manchmal des Zufalls, welche Beschreibung, welcher Geist sich durchsetzt. Der Zeitgeist ist der, der sich durchsetzt – aber auch der, der um Durchsetzung ringt und sich nicht geschlagen gibt. Der Geist ist der Reim, den wir uns auf die Dinge machen. Die Dinge selbst haben womöglich weniger Geist, als es den Anschein hat. Und damit sind wir näher am Heiligen Geist und an Pfingsten, als es anfangs den Anschein hatte. Dass der Geist eingehaucht werden muss, dass sein Kommen gefeiert wird, dass es die unterschiedlichen Sprachen sind, über die er sich ergießt – all das verweist darauf, dass diese Tradition bereits den Geist viel weniger in der Schöpfung als im Schöpfer vermutete. Vielleicht klingt es blasphemisch, aber der Geist wird der Zeit als schöpferischer Akt eingehaucht, damit die Dinge einen Sinn haben.

Der Zeitgeist ist der Geist, in dem und mit dem wir die Welt sehen. Das, das sei am Ende betont, ist eine soziologische, keine theologische oder religiöse Diagnose. Und nur deshalb erlaube ich mir den Kalauer im Titel. Pneuma, also Geist, ist geprägt von Rheuma, was wörtlich Fluss heißt. Der Geist ist im Fluss, und manchmal tut er weh.

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