Ruft! Sie! An!
Es ist fast zu einfach, um es aufzuschreiben. Eine Recherche über Kirche in Corona-Zeiten erinnerte mich an die Stuttgarter Pfarrerin Sabine Löw. Sie gehörte zu denen, die heftigen Schmerz bekundeten angesichts der Schließung von Kirchen. Im Gespräch sagte sie, dass sie hart damit ringt, keinen Gottesdienst halten und zu keinem gehen zu können. Sonst tue sie es immer, das eine oder das andere. Denn Gottesdienst sei ein Herzstück ihres Glaubens. Eigentlich ist ihre Kirche im Stuttgarter Westen so groß, dass man Gottesdienste mit reichlich Sicherheitsabstand hätte anbieten können. Sie hat sich gefügt, weil sie sah, dass Länder und Kommunen stringent handeln müssen. Aber sie fand sich nicht einfach ab, erzählte sie. Damit ihre Gemeindemitglieder nicht allein blieben, hätten die Pfarrpersonen ihrer Gemeinde im Stuttgarter Westen sich verabredet, die Leute anzurufen.
Das leuchtete mir ein. Deshalb regte ich in meiner Gemeinde an, es ebenfalls zu tun. Die Idee fiel auf fruchtbaren Boden. Der Besuchskreis und andere Interessierte suchten Nummern von älteren Mitgliedern zusammen, schrieben Listen auf, und wir riefen an, wen wir anrufen konnten.
Vom Ergebnis war ich angenehm entsetzt, wenn das kein Widerspruch ist. Ohne Ausnahme bedankten sich die Angerufenen – auch dann, wenn sie am Anfang reserviert waren und nicht einmal ihren Namen nannten. Zu viele Telefonbetrüger. Sie entschuldigten sich sofort, wenn das Schlüsselwort fiel. Es hieß: „Pastor“. Ich bin ordiniert. Und stellte mich als Pastor vor. Die Bezeichnung funktionierte als Türöffner zu den Herzen. Selbst, als ich mich verwählte und aus Versehen eine junge katholische Familie anrief.
Die Leute erzählten, was sie bewegt. Vom Schmerz darüber, dass sie ihre Enkel selten sehen. Vom Glück, Nachbarn zu haben, die sie versorgen. Und was ihnen oder uns Gott durch Corona sagen will. Niemand, mit dem ich sprach, kam auf die Idee, dass Gott uns Menschen mit der Pandemie straft. Aber es gab große Zustimmung, als ich ins Spiel brachte, was Jesus in Lukas 13 über ein paar unschuldige Opfer eines möglichen Pfuschs am Bau sagte. Wir waren mitten in Diskussionen über das Zentrum unseres Glaubens und die Fragen, auf die wir Antworten suchen. Die ersten haben Angst davor, dass sie Angehörige verlieren. Und stillschweigend, glaube ich, die Hoffnung, dass die Kirche dann an ihrer Seite steht.
Das alles erlebt nur, wer Hausbesuche macht oder selber anruft. Das erlebt nicht, wer nur Sprechstunden anbietet. Und den Menschen die Initiative zuschiebt. Sie rufen nicht an. Und sie sprechen nicht. Mit Sprechstunden macht die Kirche ihre Mitglieder sprachlos.
Beim weiteren Recherchieren stieß ich auf einen Pfarrer in Sachsen. Der beschrieb seine Bereitschaft zu Besuchen auf der Homepage seiner Gemeinde so: „Die Erwartungen der Gemeinde sind vielfältiger und anspruchsvoller geworden. Noch immer aber sind wir als Ihr Pfarrer und Ihre Pfarrerin trotz eines anstrengenden Dienstes, der von vielen Terminen bestimmt ist, gern bereit, zu seelsorgerlichen Besuchen ins Haus zu kommen.
Ein solcher Besuch muss aber erbeten werden.“
Das heißt im Klartext: Bleibt mir vom Leib, ich habe genug mit euch zu tun. Wer das nicht akzeptiert, soll erst mal einen Antrag stellen. Immer noch schaut der Kirche das Selbstverständnis einer staatsparallelen Behörde aus den amtlichen Knopflöchern. Mitglieder kommen als Besucher vor und als Antragsteller. Geht ein Antrag ein, prüft die Behörde, ob, wann und wo sie tätig wird. Die Kirche hat den Kampf um Hausbesuche schon vor Jahren aufgegeben. Sie hat ihn der wachsenden Belastung der Pfarrer mit Verwaltungsarbeit geopfert.
Mancherorts wird der Kampf wieder aufgenommen. Die Evangelische Kirche im Rheinland hat 2014 ein Programm aufgelegt mit dem Namen „Zeit für das Wesentliche“ – ein Versuch, Pfarrpersonen mehr Freiraum für, ja, das Wesentliche einzuräumen. Aber worin besteht es? Die Synode 2017, die sich mit dem Thema beschäftigte, schlug Dienstvereinbarungen vor. Im Lauf dieses Jahres sollte eigentlich erfragt werden, was daraus geworden ist. Die Pfarrer wünschten sich Arbeitszeitbegrenzungen. Mir ist nicht bekannt, dass ein Pfarrervertreter von sich aus gesagt hätte: Pfarrer wollen Haubesuche machen. Weil sie wesentlich sind. Eine Broschüre erklärt das Projekt. Das Wort „Hausbesuche“ kommt auf den 25 Seiten nicht vor.
Es wäre Zeit, den Kampf neu aufzunehmen. Derzeit mit Anrufen. Auf die Dauer kommt eine Kirche an der Seite der Menschen aber nicht an Besuchen vorbei.
Wolfgang Thielmann
Wolfgang Thielmann ist Pastor und Journalist. Er lebt in Bonn.