Verbunden durch Traditionalismus

Die Ukraine-Politik Wladimir Putins hat die Harmonie von Staat und Kirche in Russland belastet
Patriarch Kirill und Präsident Wladimir Putin
Foto: dpa/ Sergei Chirikov
Vereint im Machtdenken: Patriarch Kirill und Präsident Wladimir Putin.

Während der Sowjetzeit litt die orthodoxe Kirche in Russland unter staatlichen Repressionen. Nun ist die alte Nähe von Kirche und Macht wieder da. Wer nach den Gründen dafür sucht, muss auf die Verunsicherungen der 1990er-Jahre schauen. Eine Analyse von Regina Elsner, Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien in Berlin.

Der 20. November 2019 war ein großer Tag für Kirill I. Der Patriarch der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) feierte seine 50-jährige Priesterweihe und dankte dem Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin, für dessen Gratulation. Zugleich fühlte sich der Patriarch zu grundsätzlichen Aussagen über das Verhältnis von Staat und Kirche im Reiche Putins berufen. Wenn man das Niveau der derzeitigen Beziehungen zwischen Kirche und Staat vergleiche mit den vorherigen fünfzig Jahren, so Kirill, „dann halten alle anderen Zeiten natürlich keiner normalen objektiven Kritik stand“. Das Niveau der Beziehungen zwischen Staat und Kirche habe vielmehr heutzutage einen Zustand erreicht, „in dem wir eine große Menge an Fragen besprechen, tatsächlich auf verschiedenen Ebenen zusammenarbeiten können, mit nur einem Ziel vor Augen: das Wohl unseres Volkes“.

Patriarch Kirill hat die wechselhafte Geschichte der Russischen Kirche in den vergangenen Jahrzehnten aktiv miterlebt und zu einem wesentlichen Teil auch geprägt. Seit zehn Jahren ist er Patriarch, zuvor war er seit 1989 Vorsitzender der wichtigen Abteilung für externe kirchliche Angelegenheiten. Entsprechend seiner Schlüsselstellung wird die aktuelle Lage der Russischen Orthodoxen Kirche häufig an seiner Person, seinen Äußerungen und seinen öffentlichen Auftritten beurteilt. Eine große Nähe zu Politik, Macht und Geld, die Entwicklung und Festigung der Machtvertikale innerhalb der Kirche, ein moral-konservativer Traditionalismus sowie der innerorthodoxe Führungsanspruch stehen dabei im Mittelpunkt vieler Analysen. Ist jedoch mit diesen Themen die Russische Orthodoxie dreißig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion umfassend beschrieben?

Absoluter Neubeginn

Daran sind Zweifel erlaubt. Zunächst zur Theologie: Über siebzig Jahre hatte die ROK keine Möglichkeit zu theologischer Bildung und Forschung. Auch wenn die vom Staat kontrollierten internationalen Kontakte der Kirche während der Sowjetunion einen gewissen Austausch ermöglichten, stand die theologische Forschung in den 1990er-Jahren vor einem absoluten Neubeginn. In den vergangenen dreißig Jahren entwickelten sich darum interessante Neuansätze. Neben den geistlichen Akademien und Priesterseminaren entstanden eine Graduiertenschule (die sogenannte Aspirantur), Forschungseinrichtungen wie die „Orthodoxe Enzyklopädie“ und die Orthodoxe Geisteswissenschaftliche Universität. Seit 2012 gibt es auch Lehrstühle für Theologie an staatlichen Universitäten. Seit 2017 wird Theologie als staatlicher Abschluss anerkannt, es wurden bereits die ersten Dissertationsverfahren abgeschlossen. Auch der internationale Austausch wurde gefördert und Kooperationen zwischen verschiedenen Universitäten entwickelt.

Gleichzeitig aber bleibt eine sichtbare Beteiligung russischer orthodoxer Theologinnen und Theologen im internationalen theologischen Diskurs aus. Von den offiziellen theologischen Dialogen abgesehen, in denen oft ein entsprechendes Amt über die Teilnahme entscheidet, sind in den akademischen theologischen Foren, Konferenzen und Publikationen kaum russische Vertreterinnen und Vertreter zu finden. Die Zahl der Studierenden nimmt ebenfalls ab.

Von einem tatsächlichen Aufleben der russischen orthodoxen Theologie kann also keine Rede sein. Eine mögliche Erklärung lässt sich in den Zielen finden, die theologische Ausbildungseinrichtungen für sich formuliert haben. Demnach ist es Ziel der Theologie, die Bedeutung der orthodoxen Tradition für Gesellschaft und Staat zu erklären, zu verbreiten und zu festigen. Einer Einbahnstraße ähnlich, ist eine selbstkritische Auseinandersetzung mit den Entwicklungen dieser Gesellschaft in diesem Konzept nicht vorgesehen. Dadurch bleibt die Theologie und mit ihr das Selbstbild der Kirche der Lebenswelt der Menschen fern.

Dies gilt auch für die in der russischen Theologie traditionell starken Disziplinen wie die Kirchengeschichte, Patrologie und Liturgie. Hier findet eine theologische Beschäftigung mit der ambivalenten Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts kaum statt. Ähnlich ist es mit einer möglichen Übersetzung der Liturgie in die Gegenwartssprache.

Die Anfang der 2000er-Jahre veröffentlichten Grundsatzpapiere zu gesellschaftlichen Fragen, genauer: die Sozialkonzeption und ein Dokument zu den Menschenrechten hatten Hoffnungen auf eine fundierte sozialethische Auseinandersetzung geweckt. Die erfolgte jedoch nicht. Angesichts des andauernden theologischen Vakuums ist die Kirche so in ihren Positionierungen auf einzelne Persönlichkeiten an der Kirchenspitze und auf gesellschaftspolitische Trends angewiesen. Was für die Theologie festgestellt werden muss, trifft ähnlich auf das Gemeindeleben und das soziale Engagement der ROK zu. Nach den massiven Verfolgungen während der Sowjetunion erlebte die Kirche seit den 1990er-Jahren eine bemerkenswerte Wiedergeburt. Die Menschen strömten in Massen in die wenigen Kirchen, Priester tauften in Gruppen, um den Ansturm zu bewältigen. Das Gemeindeleben, welches an einigen Orten trotz der Repressionen überdauert hatte, war für viele Menschen auf der Suche nach aufrichtiger Gemeinschaft und einem neuen Sinn nach dem Ende der atheistischen Ideologie sehr einladend. Bis heute ist es so, dass für die aktiven Gläubigen das Gemeindeleben eine größere Identifikationskraft hat als die Stellungnahmen der Kirchenführung.

Hier gibt es Parallelen zum sozialen Engagement der Kirche. Es ist nicht wie in den westlichen Kirchen durch große Organisationen wie Caritas oder Diakonie organisiert, sondern ist als Gemeinde-Wohltätigkeit eher lokal zu finden. In den vergangenen Jahren wurde eine Strukturierung und Professionalisierung der Arbeit durch diözesane und nationale Kommissionen vorangetrieben. Dies verleiht der Arbeit Sichtbarkeit. So wird die Chance erhöht, sich besser mit anderen Initiativen zu vernetzen.

Verarmte Landpriester

Die beiden Sphären Gemeinde und Wohltätigkeit sind in der Wahrnehmung vieler Gläubiger entscheidend für ihr Kirchenbild. Dies macht jedoch die Entfremdung der Kirchenleitung von der Lebenswelt der Gläubigen nur noch greifbarer. Beide Bereiche leiden unter administrativen Eingriffen. Bischöfe und Priester werden häufig versetzt, es gibt hohe Abgaben der Gemeinden an die Bistümer. Die Abhängigkeit vom Bischof ist hoch. Die Gemeinden haben sehr geringe Entscheidungsspielräume.

Einige Diskussionen der vergangenen Jahre zeigen die wachsende Kluft zwischen aktiven Gläubigen und kirchlicher Hierarchie an der Schwelle zwischen Gemeinde und Gesellschaft: Wie kommt es zur Verarmung von oft kinderreichen Landpriestern? Was ist von der staatlichen Entkriminalisierung häuslicher Gewalt zu halten? Wie soll man HIV/AIDS-Patienten helfen? Wie kann man Frauen in Krisenschwangerschaften begleiten? Was ist von der gegenwärtigen Erinnerungskultur und staatlicher Geschichtskonstruktion zu halten? Wie soll man mit den gesellschaftlichen Protesten gegen politische Willkür umgehen? Soll die Kirche etwas tun gegen Umweltzerstörung, Korruption, Wahlmanipulation und so weiter?

Ein Grundproblem dabei ist: Viele Gemeindemitglieder fühlen sich den gesellschaftlichen Anliegen verpflichtet, während sich die Kirchenleitung zumindest öffentlich immer auf die Seite des autoritären Staates stellt. Ein offener Brief von fast zweihundert Priestern aus verschiedenen Regionen der ROK im Sommer 2019, in dem sie faire Gerichtsverfahren und ein Ende der willkürlichen Verhaftung von Demonstranten forderten, stand im krassen Kontrast zum demonstrativen Schweigen der Kirchenführung. Er illustrierte die wachsende Entfremdung zwischen Hierarchie und Kirchenbasis.

Während also Theologie, Gemeindeleben und soziale Arbeit der Kirche vor großen Herausforderungen stehen, scheint sich das Verhältnis zum Staat und zur politischen Sphäre nach wie vor positiv zu entwickeln. Die Gründe für die große Nähe zwischen russischer Kirche und russischem Staat, die nach den Jahrzehnten der staatlichen Repressionen während der Sowjetzeit zumindest unerwartet war, sind in den Verunsicherungen der 1990er-Jahre zu suchen. Die bemerkenswert liberale Religionsgesetzgebung der frühen 1990er-Jahre hatte die ROK in eine enorme Konkurrenzsituation mit finanziell und pastoral überlegeneren Religionsgemeinschaften versetzt. Der war die ROK ohne Unterstützung durch den Staat nicht gewachsen. In der Folge dieses Kulturschocks entdeckten die politische und die kirchliche Führung eine Reihe an gemeinsamen Interessen im Umgang mit den gesellschaftlichen Herausforderungen. Dazu gehörte die Idee eines gemeinsamen Wertefundaments einer russischen Zivilisation.

Es wurde von einem konstruierten, glorreichen Geschichtsbild hergeleitet. Die Konzepte der „russischen Welt“ und der „traditionellen (sittlichen) Werte“ wurden durch die Kirche und besonders unter der Federführung des heutigen Patriarch Kirill inhaltlich gefüllt. In die Staatsdoktrin implementiert wurden sie durch politische Eliten, etwa als Elemente der nationalen Sicherheitsstrategie, der Familienpolitik und der russischen Außenpolitik.

Bis 2014 war das Zusammenspiel von Staat und Kirche auf einem Höhenflug. Innenpolitisch war das zu beobachten im gemeinsamen Kampf von Staat und Kirche gegen Andersdenkende. Beispielhaft stehen dafür der Fall Pussy Riot 2012, das Verbot der „Propaganda von Homosexualität“ und der Verletzung religiöser Gefühle 2013 sowie die Einschränkungen der Missionstätigkeit nicht-traditioneller Religionsgemeinschaften. Außenpolitisch war es der gemeinsame Kampf für „traditionelle Werte“. So beteiligte sich Russland offiziell am „World Congress of Families“ und unterstützte offen die populistischen Bewegungen in Europa.

In der Sackgasse

Seit diesem Höhepunkt der Einigkeit zwischen Thron und Altar stellten jedoch die pro-europäischen Proteste in der Ukraine das Konzept der russischen Zivilisation in Frage. Sie führten die Harmonie von Staat und Kirche in Russland in eine Krise. Beide waren schließlich immer davon ausgegangen, dass die Ukraine selbstverständlich zur russischen Zivilisation gehöre und quasi kein Recht auf eine eigenständige Orientierung nach Europa habe. Während die Kirche jedoch bei aller transnationalen geistlichen Zusammengehörigkeit den Respekt nationaler Grenzen betonte, brach der Staat diesen Konsens mit der Annexion der Halbinsel Krim und dem hybriden Krieg in der Ostukraine.

Damit geriet die ROK in eine Sackgasse: Die offene Zustimmung zur russischen Politik hätte zum Verlust der eigenen Gläubigen in der Ukraine geführt, die offene Ablehnung zum Konflikt mit dem Staat. In diesem Dilemma entschied sich die ROK für Lavieren und Schweigen. Das aber hatte beides zur Folge: 2019 wurde eine unabhängige Orthodoxe Kirche der Ukraine gegründet und vom Patriarchen von Konstantinopel anerkannt. Sie bietet den Gläubigen in der Ukraine nun eine Alternative zur Kirche des Moskauer Patriarchats und beschränkt dessen Einfluss.

Auch das Zusammenspiel von Staat und Kirche wurde im Zuge dieser Krise zumindest in der Außenpolitik gestört. Die Idee der „russischen Welt“ ist aus den Reden führender ROK-Vertreter verschwunden. Innenpolitisch rückt nun die Geschichte wieder in den Fokus. In diesem Jahr wird der 75. Jahrestag des Sieges über den Faschismus gefeiert, unter anderem mit der Weihe einer überdimensionierten „Kathedrale der Streitkräfte der Russischen Föderation“ und eines umliegenden Geschichtsparks zur Erinnerung an all jene, die Russland im Kampf gegen die Feinde verteidigt haben.

Es ist dieses Paradigma der Angst vor den und des Sieges über die Feinde, welches Kirche (und Staat) aktuell am stärksten prägt. Und es lässt ihr scheinbar nach wie vor keine Wahl, Brüche, Schwächen, Ambivalenzen und die Vielfalt der modernen Welt als Herausforderung zu durchdenken – statt sie mit aller geistlichen und staatlichen Macht zu bekämpfen.

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Foto: Maxim Siderenko

Regina Elsner

Dr. Regina Elsner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien in Berlin.


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